Gestern waren in vielen Qualitätsmedien servile Geburtstagsartikel
zum 70.Geburtstag des Retters der Mauerschützenpartei SED, Gregor Gysi,
zu lesen. Dem MDR war der Geburtstag sogar eine 90-Minuten-Dokumentation über den Jubilar wert.
Interessant war, was dabei alles unerwähnt blieb. Gysi verhinderte
die Auflösung der SED bei ihrem letzten Parteitag im Dezember 1989 in
Berlin, zu der die Mehrzahl der Delegierten unter dem Schock des
Mauerfalls und des rapiden Autoritätsverlustes der Partei entschlossen
war. Gysi überzeugte vor allem mit dem Argument, dass dann das Vermögen
verloren gehen würde. Um welche gewaltigen Summen es sich handelte, war
damals den Parteimitgliedern gar nicht klar. Gysi wurde zum letzten
Parteivorsitzenden der SED gewählt, verpasste ihr den Zweitnamen PDS –
Partei des demokratischen Sozialismus – und gründete als erste
Amtshandlung eine Arbeitsgruppe zur Sicherung des Parteivermögens.
In der 13. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages recherchierte
ein Untersuchungsausschuss geschätzten 24 Milliarden DM verschwundenem
SED-Vermögen hinterher. Gysi und Genossen, wie Lothar Bisky und der
heutige Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag Dietmar Bartsch,
verweigerten mit gleichlautenden Erklärungen die Aussage. Sie würden
sich der Strafverfolgung aussetzen, wenn sie ihr Wissen preisgäben. Sie
kamen mit einer geringen Geldstrafe davon und wurden nie wieder befragt,
auch nicht, als sie wegen Verjährung keine Strafverfolgung mehr
befürchten mussten.
Ebensowenig wurde Gysi nach seiner Rolle befragt, die er bei der
Abschiebung von Bürgerrechtlern gespielt hatte, die am 17. Januar 1988
verhaftet worden waren. Anlass der Verhaftung war der Versuch, sich mit
eigenen Plakaten in die SED-Demonstration zu Ehren der ermordeten
Anführer des Novemberputsches von 1918, Karl Liebknecht und Rosa
Luxemburg, einzureihen. Das bekannteste Plakat war der zu ihren
Lebzeiten nicht veröffentlichte Satz von Rosa Luxemburg: „Freiheit ist
immer die Freiheit der Andersdenkenden“.
Wie wir inzwischen aus den 1992 geöffneten Stasiakten wissen, plante
die Staatssicherheit an diesem Tag einen „Enthauptungsschlag“ gegen die
DDR-Opposition, die sich in den 80er Jahren nicht nur unter dem Dach der
Evangelischen Kirche entwickelt hatte. Die etwa 3.000 Aktivisten in
etwa 100 Gruppen hielten die Staatsorgane seit Jahren mit immer kühner
werdenden Aktionen in Atem. Wenige Wochen zuvor hatten sie, durch auch
international stark beachtete Mahnwachen an der Berliner Zionskirche,
die Haftentlassung von vier Mitarbeitern der dortigen „Umweltbibliothek“
erzwungen. Jetzt wollte die Stasi durch die gleichzeitige Verhaftung
der führenden Mitglieder der Opposition die Bewegung stoppen.
Der Plan misslang gründlich. Zwar war die Verhaftung von 105 Menschen
innerhalb weniger Stunden – darunter einiger Bürgerrechtler – ein
großer Schock, ebenso, wie die gezielten Verhaftungen von
Oppositionellen eine Woche später. Es gab aber sehr schnell in mehr als
30 Städten und Gemeinden der DDR allabendliche
Solidaritätsveranstaltungen in Kirchen. Die größte fand in Berlin statt.
Zu der kamen nicht nur Berliner, sondern auch die in der DDR
akkreditierten Westjournalisten, die dafür sorgten, dass über die
Proteste in aller Welt berichtet wurde.
Der politische Druck wurde so groß, dass der ursprüngliche Plan, die
verhafteten Bürgerrechtler vor Gericht zu stellen und mit dem absurden
Vorwurf des „Verrats“ hinter Gitter zu bringen, nicht durchführbar war.
Partei und Staatschef Erich Honecker war gezwungen, auf einer
internationalen Pressekonferenz verkünden zu lassen, dass bis zum 5.
Februar 1988 alle Inhaftierten aus der Haft entlassen werden würden.
Warum diese Verzögerung von 10 Tagen? Plan B war die Abschiebung der
Oppositionellen in den Westen.
In diesem Stadium kamen die Anwälte der Bürgerrechtler ins Spiel, zu
denen neben Lothar de Maizière und Wolfgang Schnur auch Gregor Gysi
gehörte. Alle Anwälte handelten im Sinne des Stasi-Abschiebeplans. Die
Verhafteten, die im Stasigefängnis Berlin-Hohenschönhausen in
Isolationshaft gehalten wurden und keinerlei Nachricht erhielten, was in
der Welt draußen vor sich ging, waren auf ihre Anwälte als
Informationsquelle angewiesen. Sie erfuhren nichts von der gewaltigen
nationalen und internationalen Solidaritätsbewegung. Statt dessen
behaupteten die Anwälte die Aussichtslosigkeit der Lage und drängten auf
Ausreise.
Die Rolle von Rechtsanwalt Gregor Gysi ist dabei besonders
dubios. Als ich als letzte der Inhaftierten am von Honecker genannten
Entlassungsdatum immer noch in Haft saß, weil mein Rechtsanwalt Wolfgang
Schnur mit der Aufgabe, mich zur Ausreise zu überreden, gescheitert
war, bekam ich im Gefängnis einen überraschenden Besuch von Gregor Gysi.
Warum es ihm möglich war, ohne Mandat eine Stasigefangene zu besuchen
und in wessen Auftrag er handelte, darüber schweigt sich Gysi bis heute
aus. Auch in seiner jüngst veröffentlichten Biografie wirft er
Nebelkerzen, um von dieser brisanten Frage abzulenken. Meine Schilderung
des Vorfalls ist seit 28 Jahren, vom klagefreudigen Gysi unangefochten,
in der Öffentlichkeit. Sie ist in meinem Buch „Ich wollte frei sein“,
das es inzwischen nur noch antiquarisch gibt, nachzulesen.
Gysi hat durch eine Unmenge von Prozessen erreicht, dass Fragen nach
seiner Stasimitarbeit nicht mehr gestellt werden. Die Feststellung des
Immunitätsausschusses des Deutschen Bundestages von 1998, dass die
Stasimitarbeit des Abgeordneten Gysi erwiesen sei, kann man im Internet
nachlesen. Aber kein Qualitätsjournalist und kein Rechercheverbund
interessiert sich dafür.
So wird Gysi an seinem 70. Geburtstag als Polit-Entertainer gefeiert
und kann es als besonders Geschenk ansehen, dass in unserer bunten
Einheitsrepublik Deutschland Denunzianten nicht mehr als Schufte,
sondern als tapfere Kämpfer für Demokratie angesehen werden.
Um den Bericht nicht so pessimistisch enden zu lassen, muss ich noch
erzählen, warum der „Enthauptungsschlag“ der Stasi zum Schwinger unter
das eigene Kinn wurde.
In Leipzig hatten sich allabendlich die Menschen zum Protest in der
Nikolaikirche versammelt. Als alle Bürgerrechtler aus dem Gefängnis
entlassen waren, beschlossen viele der Teilnehmer, den „Montagskreis“
der Nikolaikirche zu verstärken. Von diesem Montagskreis wurden 1989 die
Montagsgebete initiiert, die bald so viel Zulauf erhielten, dass nicht
mehr alle Leute, die teilnehmen wollten, in die Kirche hineinkamen.
Am 4. September 1989 waren etwa 3.500 Menschen in der Kirche und
ebenso viele standen davor. Da kam der Pastor Wonneberger, der an diesem
Tag den Gottesdienst hielt, auf die Idee, einen Schweigemarsch auf dem
Ring von Leipzig vorzuschlagen. Das war die erste Montagsdemonstration.
Am 9. Oktober 1989 waren schon 100.000 Demonstranten unterwegs. Außerdem
hatten sich die Demonstrationen auf mehr als dreißig Städte und
Gemeinden ausgebreitet. Einen Monat später fiel die Mauer. Vera Lengsfeld
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