Stationen

Dienstag, 9. Januar 2018

Hic est locus



Man hört so wenig von ihr in den letzten Tagen. Sicher, einige Zeit war nötig, um ihre Neujahresworte zu verarbeiten, aber nun könnte sie mal wieder in Erscheinung treten, die amtierende Kanzlerin. Oder wie ist diese Ruhe zu deuten? Dämmert es? Um sie? Oder gar ihr? Steht das Ende bevor? Immerhin schreiben wir das 13. Jahr ihrer Macht. Die Zahl als böses Omen?
Dann wäre es Zeit für das Porträt. Alle Kanzler werden nach ihrem Ausscheiden aufgehängt. In der „Galerie der bisherigen Bundeskanzler“ im Bundeskanzleramt. Von Konrad Adenauer gibt es da beispielsweise eines von Hans Jürgen Kallmann. Vom ersten Nachkriegsregierungschef existiert sogar ein weiteres, etwas kühneres, sehr farbenfrohes, nahezu freches von Oskar Kokoschka – gemalt für den Bundestag 1966. Dem Vernehmen nach befindet es sich zur Zeit noch im Amtszimmer der Kanzlerin. Von „gigantischem Spaß“ wird berichtet, welchen Kokoschka (zu dieser Zeit 80) und Adenauer (zu dieser Zeit 90) während der Arbeit am Bild hatten. Davon gibt es sogar recht hübsche Fotos, unter anderem hier.

Dass Helmut Schmidt und Bernhard Heisig – der Maler der „Leipziger Schule“ wurde in der Zeit der deutschen Teilung mit dem Porträt auf Schmidts Wunsch hin beauftragt – auch gemeinsam gelacht haben, ist nicht so leicht vorstellbar, aber möglich. Wir hingegen haben schallend gelacht, als Gerhard Schröder sich für den Glitzer-Glitter von Jörg Immendorff entschieden hatte. Jede Neunjährige könnte ihre Freundinnen mit einem derartigen Stammbuchbildmotiv vor Neid erblassen lassen.

Apropos erblassen: Wofür, für wen würde sich Angela Merkel im Falle des Falles (der jedoch in jedem Falle eintritt) entscheiden? Oder besser: Was würde die – dann entscheidende – Öffentlichkeit für angemessen halten? Vielleicht, weil ohnehin so viel anders ist und wird (auch vieles, auf das wir uns so gar nicht freuen), dieses Mal gar eine Skulptur? Oder sollten wir lieber in anderen Ideen-Dimensionen suchen?

Dazu schweifen wir kurz ab. Und zwar ein ganzes Stück, nach Venedig, in den Dogenpalast: Dort findet man reichlich Bilder gewesener Dogen. An der Stelle, an welcher sich das Porträt von Marino Faliero befinden müsste, sieht man allerdings lediglich einen gemalten schwarzen Vorhang. Besagter Doge war 1355 einer Verschwörung beschuldigt und enthauptet worden. Die Zusammenhänge sind wohl nicht mehr zu ermitteln und hier auch nicht weiter von Interesse. Das Bild – darum geht es uns – des Marino Faliero war vollendet, als ein Maler (wikipedia nennt Tintoretto) später den Vorhang darüber setzte, mit einem lateinischen Spruch, welcher die entsprechende Anschuldigung gegen den Verfemten enthält. Seitdem wird an Faliero in dieser besonderen Form erinnert.

Zurück nach Berlin. Glücklicherweise leben wir in Zeiten und Regionen, in welchen Staatschefs im allgemeinen nicht in Gefahr laufen, physisch angegriffen zu werden. Erinnerungen an ausgeschiedene Amtsträger der letzten Jahrzehnte hingegen werden auch hier und heute, wie oben gerade gezeigt, durchaus intensiv gepflegt. Mitunter urteilt die Geschichte beziehungsweise die Nachwelt aufgrund der sicht- und spürbaren Auswirkungen der Amtsführung und nicht aufgrund der zeitbedingten Regierungspressearbeit.
Es wird sich die Frage stellen, in welcher Form und Dosis Merkel-Kunst der seelischen Verdauung der Längerhierlebenden und Alternativlosertragenden überhaupt zugemutet werden kann.

Sollte man sich dann gleich für den schwarzen Vorhang entscheiden? Das wäre zudem kostengünstig. Man muss ja nicht Tintoretto beauftragen.
Erik Lommatzsch ist Historiker und lebt in Leipzig.

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