Wer sich die Bilder vom Präsidium des Bonner
SPD-Parteitages noch einmal anschaut, den Schlussmoment, als Martin
Schulz, Andrea Nahles, Thorsten Schäfer-Gümbel und viele andere
Unbekannte nach der Entscheidung für eine dritte Koalition mit Merkel
„Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“ sangen, der sieht die Gesichter
einer müden Führung, von der nichts mehr ausgeht, noch nicht einmal
etwas Negatives.
Ein paar Tage später erreichte die Partei ihren historischen Umfragetiefststand von 17 Prozent.
Daneben
gibt es eine jüngere SPD-Generation, ihr Gesicht ist Kevin Kühnert, 28,
der neue Juso-Bundesvorsitzende, ein Berliner Kommunalpolitiker aus
Tempelhof-Schöneberg. Er führte die beinahe erfolgreiche Kampagne gegen
die neue große Koalition an.
Irgendwann werden die Männer und Frauen aus seiner Alterskohorte die SPD Stufe für Stufe übernehmen. Das ist sicher.
Die Frage ist nur, warum sich so viele davon eine Rettung der
ältesten Partei Deutschlands erwarten. Weil es nicht mehr schlimmer
geht? Warten wir’s ab. Für die WELT übernahm der Journalist Frédéric
Schwilden eine Tiefenschürfung, indem er fünf Repräsentanten der
Generation Kühnert nach ihren Vorstellungen fragte. Natürlich ist die
Auswahl willkürlich wie jede andere auch. Aber das, was die
Jungfunktionäre erzählen, trägt die Signatur einer inneren Wahrheit.
Beginnen
wir mit Johanna Uekermann, 30, ehemalige Politikstudentin, bis vor
Kurzem noch Juso-Vorsitzende, jetzt Mitglied des SPD-Präsidiums. Zuerst
zur Gesellschaftskritik:
„Ich möchte ein Wirtschaftssystem,
das für die Menschen arbeitet und nicht für Konzerne und Profite und die
Interessen von einigen wenigen. Menschen mit ihren Bedürfnissen und
Wünschen in den Mittelpunkt stellen, das geht im Kapitalismus nicht.
Deswegen kämpfe ich für ein anderes, ein sozialistisches
Gesellschaftsmodell.“
Seit Jahrzehnten gibt es das zähe
Diskussionsversatzstück, der Kapitalismus wecke Bedürfnisse, die die
Menschen ohne Marketing gar nicht hätten. Aber dass Bedürfnisse und
Wünsche im Kapitalismus gar nicht erfüllt würden, ist eine
bemerkenswerte Erkenntnis für eine junge Frau, die im kleinen schwarzen
Teil und mit Smartphone in der Hand aus dem dazugehörigen Zeitungsfoto
lacht.
Was meint Annika Klose, 25, zum gleichen Thema? Annika hat
Politikwissenschaften studiert wie Johanna und auch Victoria, die gleich
drankommt. Annika arbeitet als Gewerkschaftssekretärin, führt außerdem
die Jusos Berlin, und begründet, was für Umverteilung spricht:
„Die
Beschäftigten erarbeiten auch den Mehrwert und den Gewinn des
Unternehmens. Wieso sollen nur die wenigen, die das Unternehmen leiten,
die Gewinne bekommen?“
Nun entstehen Mehrwert und Gewinn
nicht schon im Produktionsprozess, sondern erst auf dem Markt. Und den
Gewinn bekommen Unternehmer beziehungsweise Investoren – oder eben den
Verlust, je nachdem. Für 99,7 Prozent aller Unternehmen in Deutschland,
nämlich die klein-und mittelständischen Betriebe, funktioniert das so.
Neben
ihrer Tätigkeit für die Jusos und die Gewerkschaft, erzählt Annika, sei
sie im vergangenen Jahr auch auf dem Mittelmeer für eine NGO unterwegs
gewesen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Migranten vor der
libyschen Küste aufzunehmen und ins kapitalistische Europa zu schiffen,
dorthin also, wo Bedürfnisse und Wünsche nicht erfüllt werden können.
Die
dritte, Isabella Fiorentino, 35, arbeitet als Kassenprüferin der Jusos
in München. Auch sie weiß, was der Kapitalismus anrichtet. Sollte sie
das nicht am besten den Leuten erzählen, die am libyschen Strand in
Schlauchboote steigen?
„Schauen Sie mal raus. Was der Kapitalismus anrichtet. Kapitalismus funktioniert nur mir Gewinnern und Verlierern.“
Fußball übrigens auch.
Was
der Kapitalismus anrichtet, lässt sich gerade in München gut
beobachten, wo selbst Viertel mit mehrheitlich weniger Begüterten noch
halbwegs ordentlich aussehen.
Blenden wir ganz kurz in die Totale.
Es geht um die SPD, eine Partei, die aus dem 1863 in Leipzig
gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands hervorgegangen war, die
ab 1875 Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands hieß und später dann
Sozialdemokratische Partei. Arbeiter und Angelegenheiten von Arbeitern
spielten also eine gewisse Rolle in ihrer Geschichte. Arbeiter und
überhaupt Lohnabhängige kommen bei Johanna, Annika und Isabella nicht
vor.
Allerdings bei Victoria Hiepe, 21, Jusochefin in Tempelhof-Schöneberg und Industriemechanikerin, quatsch, Politikstudentin.
Sie wird gefragt: „Wie
erklären Sie einem langgedienten Vorarbeiter bei einem deutschen
Automobilkonzern, dass er ab 60 000 Euro Jahresgehalt Spitzensteuersatz
bezahlen soll?“
Victoria: „Es ist seine verdammte Pflicht.“
Der Juso-Vorsitzende von Erlangen, Munib Agha, 28, Doktorand der Mathematik, meint auf die gleiche Frage: „Oh Gott, da müsste ich technisch antworten, das ist doch langweilig.“
Auch er zweifelt also nicht daran, dass es eine gute Idee ist, schon
Vorarbeiter und Handwerksmeister dem Höchststeuersatz zu unterwerfen.
Immerhin will er den Kapitalismus nicht abschaffen.
Hier wird
endlich den Facharbeitern und überhaupt allen, die sich morgens in den
Berufsverkehr quetschen und irgendetwas Nützliches herstellen, ein für
alle mal der Platz von einer künftigen SPD-Führungskraft angewiesen. Sie
sind derjenigen, der pflichtschuldig den Karren zu ziehen haben, auf
dem Johanna, Annika und Victoria sitzen und Visionen entwickeln.
Übrigens wird nicht erst ab 60 000, sondern schon ab einem zu
versteuernden Jahreseinkommen von 54 950 Euro pro Person der
Spitzensteuersatz von 42 Prozent plus Solidarzuschlag von 5,5 Prozent
auf die Steuerschuld fällig. Zum Vergleich: Der Spitzensteuersatz in den
USA bei der Bundessteuer – 35 Prozent – greift ab einem Jahreseinkommen
von 350 000 Dollar.
Es ist deshalb eine verdammte Zahlerpflicht,
weil irgendjemand das Getriebe in Deutschland am Laufen halten, also
dafür sorgen muss, dass in München selbst ärmere Viertel noch ordentlich
aussehen, dass Schulen zumindest in Bayern und Sachsen auch im
internationalen Vergleich gut funktionieren, aber vor allem dafür, dass
genügend Mittel für einen ständig wachsenden Komplex von
steuerfinanzierten Arbeitsplätzen in Parteiapparaten,
Gegen-Rechts-Büros, Buntheitsinitiativen und NGOs zur Verfügung stehen.
Denn irgendwo muss die rasant wachsende Menge von Politikwissenschafts- ,
Gender- und Kulturanthropologieabsolventen ja anheuern, die allesamt
nicht ins sozialistische Venezuela auswandern, und für die es am freien
Markt keinen Bedarf gibt. Irgendjemand hat außerdem für die von NGOs
nach Deutschland geleiteten afrikanischen Armutsmigranten aufzukommen,
das heißt, in erster Linie für die dazugehörige Betreuungsindustrie.
Idealerweise sollte der höchststeuerzahlende Vorarbeiter auch Mitglied
der Gewerkschaft sein, denn dort muss bekanntlich Annika Klose, 25, als
Gewerkschaftssekretärin finanziert und zwischengeparkt werden, bis sich
ein Posten für sie im Politikbetrieb oder im öffentlichen Dienst findet.
Es
war für die Lohnabhängigen ein weiter Weg von der Emanzipation unter
Bebel und Lassalle über das Renommee der Arbeiter in
Wirtschaftswunderzeiten bis zu ihrer finalen Position im
Gesellschaftsgefüge: Tributpflichtige für eine neue, an den
geisteswissenschaftlichen Abteilungen der Universitäten herangezüchteten
herrschenden Kaste.
Die SPD-Generation Kevin-Johanna bilden eine
Untergruppe im Milieu der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die diese
Bundesrepublik demnächst erben, wobei sie mit den neu Hereinmigrierten
teilen müssen. Sie übernehmen ein alles in allem erstaunlich gut
funktionierendes Land, in dem der Anteil der industriellen Wertschöpfung
immer noch über 20 Prozent liegt und nicht unter 15 wie in Frankreich
oder unter 10 wie in Griechenland. Noch gibt es in Deutschland 27
Millionen Nettosteuerzahler, und wenn man die 12 Millionen abzieht, die
direkt oder indirekt vom Staat leben, bleiben 15 Millionen übrig, die so
ungeheuer produktiv sind, dass sie noch auf Jahre hinaus locker 30
Milliarden Euro pro Jahr für die Beherbergung von eingewanderten
Transferleitungsempfängern mitfinanzieren können.
Zur ganz
spezifischen Erbschaft Annikas und Johannas gehört also eine
Ex-Arbeiterpartei, der es zwar schlecht geht, gemessen an der
Vergangenheit, allerdings glänzend, verglichen mit der Zukunft, die sie
mit diesen Nachwuchsfunktionären in den nächsten zehn Jahren erleben
wird. Es ist nämlich noch ungeheuer viel verbrennbare Substanz übrig,
bis die SPD dort steht, wo die französischen Sozialisten jetzt schon
angekommen sind, nämlich irgendwo zwischen sieben und acht Prozent.
Das
Totschrumpfen ist auch deshalb nur halb so schlimm, weil sich mit dem
gegenläufigen Aufstieg der AfD für Politikwissenschafts-Somethings jede
Menge zusätzliche Stellen in staatlich geförderten antirechten und
antirassistischen Initiativen ergeben.
Alle fünf von der WELT
befragten Jungsozialdemokraten reden über Themen, die ihnen wichtig
sind: Fleischkonsum, sexuelle Belästigung, weiße alte Männer („Martin als 62-jähriger weißer Mann repräsentiert leider den Durchschnitt der Partei“).
Eine
bemerkenswerte Stelle gibt es noch bei der Politikstudentin Victoria,
21, nämlich auf die Frage, wem sie im Internet so folgt.
„Ich
folge einer Influencerin, die ich eigentlich nicht superinspirierend
finde. Sie heißt Louisa Dellert, die ist so eine Sport-Instagram-Person,
hat das aber umgeswitcht in Body-Positivity. Die sagt den Leuten: Hey,
ihr seid so, wie ihr seid, auch wenn ihr keinen Sport macht. Hauptsache,
ihr bleibt gesund.“
Ich kenne Louisa Dellert nicht, die
umgeswitchte Bodypositivlerin. Aber mir scheint, es gibt unmöglich eine
bessere Vorsitzende für die Kevin-Johanna-SPD der nächsten Jahre.
Narzissmus, Geschwätzigkeit, Positivity – da ist einfach alles drin. Und vor allem: endlich mal eine Frau an der Spitze. Wendt
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