Unbestritten
ist auch Verdis persönliche und aktive Teilhabe am Schicksal seines
Vaterlandes. Sie zeigt sich in vielen seiner Briefe, vor allem in jenen
der Revolutionsjahre, in seinem (regional-) politischen Engagement 1859
bis 1861, in seiner auf Anregung des Republikaners Giuseppe Mazzini 1848
geschriebenen patriotischen Hymne «Suona la tromba» und in seiner Reise
von Paris nach Mailand, nachdem er von der Vertreibung der
österreichischen Truppen aus der lombardischen Hauptstadt im März 1848
gehört hatte.
Der
politische «Einfluss» und die patriotische Rezeption von Verdis frühen
Opern, wie sie Folchetto Ende des 19. Jahrhunderts schildert, lassen
sich anhand zeitgenössischer Quellen hingegen nicht belegen. Tatsächlich
sprechen der Misserfolg der «Lombardi» bei der Erstaufführung in
Venedig (Dezember 1843) und die 57 Reprisen von «Nabucco» allein im Jahr
1842 - eine in der Geschichte der Scala bisher unübertroffene
Aufführungszahl einer Oper - eher dafür, dass diese Opern keinen
aussergewöhnlichen patriotischen Enthusiasmus beim Publikum auslösten
(«Lombardi») bzw. von den zuständigen österreichischen Behörden
keineswegs als politisch besonders gefährlich angesehen wurden
(«Nabucco»).
Erst
in der unmittelbaren vorrevolutionären Phase 1846 bis 1848 - in der
Zeit der liberalen Reformen des neuen Papstes Pius IX. (seit Juni 1846)
und der zunehmenden Politisierung der italienischen Öffentlichkeit -
wurde das Theater vermehrt zum Schauplatz politischer Demonstrationen.
Patriotisch im Sinne des Risorgimento wurde unter Verdis Opern in dieser
Zeit einzig der Chor aus «Macbeth» rezipiert (Dezember 1847, Venedig).
Aufführungen seiner Opern «Ernani» (1846/47, Rom und Bologna) und
«Attila» (Januar 1848, Neapel) boten dagegen Anlass zu Huldigungen für
den jeweiligen Herrscher: einerseits für den Papst und seinen liberalen
Reformkurs und andererseits für den neapolitanischen König, der kurz
zuvor für das Königreich beider Sizilien eine Verfassung verkündet
hatte.
Unter
den zahlreichen patriotischen Kundgebungen, die in den
Revolutionsjahren 1848/49 und 1859/60 vielfach spontan und als Reaktion
auf politische Tagesereignisse während Ballettaufführungen, Theater- und
Opernvorstellungen stattfanden, spielten Verdis Opern keine besondere
Rolle. Um einige Beispiele zu nennen: 1848 verliefen Vorstellungen von
«Attila» in Rom sowie von «Macbeth» und «Nabucco» in Neapel ohne
nennenswerte Vorkommnisse. Die «Lombardi» wurden Mitte 1848 in Bologna
und Ende 1859 in Rom durch andere Stücke ersetzt. In Mailand hatten bis
zur Rückeroberung durch die Österreicher (August 1848) weder die
kurzzeitig von österreichischer Zensur befreite Theaterpresse noch die
Öffentlichkeit besonderes Interesse an Verdis Musik. Offensichtlich als
politisch unbedenklich eingestuft, wurden «Ernani, «Attila» und
«Nabucco» (1848/49) von den zurückgekehrten Österreichern für
Aufführungen an der Mailänder Scala freigegeben.
Selbst
in Wien, der Hauptstadt der Habsburger Monarchie, standen 1849
«Ernani», «Nabucco» und erstmals auch «Macbeth» auf dem Spielplan. Die
Monate vor dem Krieg gegen Österreich 1859 ergeben ein ähnliches Bild:
keine Kundgebungen bei Aufführungen von Verdis Opern «Simon Boccanegra»
(Mailand), «Il trovatore» (Florenz) und «La battaglia di Legnano»
(Turin), sehr wohl dagegen bei Bellinis «Norma» (Mailand und Venedig),
Meyerbeers «Il Profeta» (Venedig) und Aubers «La muetta di Portici»
(Florenz). Aus all dem lässt sich folgern, dass die patriotische
Rezeption von Verdis Musik in den Jahren bis 1859 ein Mythos ist, den
Folchetto erstmals in Buchform präsentierte und den nachfolgende
Verdi-Biographen bereitwillig tradierten und weiter ausschmückten.
«VIVA V.E.R.D.I.»
Wie
aber ist Verdi dennoch zu einer zentralen Figur in der Geschichte des
italienischen Nationalstaates geworden? Bei dieser Frage hat man sich
die damalige geschichtliche Situation zu vergegenwärtigen. Das noch
junge Königreich, 1861 offiziell proklamiert und damit erstmals seit
Jahrhunderten frei von spanischer, französischer und österreichischer
Fremdherrschaft, konnte auf keine historischen Vorläufer zurückblicken.
Die nationalstaatliche Identität musste zwangsläufig «konstruiert»
werden, sei es durch nationale Helden, Mythen oder Legenden.
Um
1859/60 erfreute sich in Gelehrtenkreisen besonders Dante grösster
Beliebtheit. In einem Wissenschaftsdiskurs, der weitestgehend unter
nationalen Vorzeichen stand, wurde der Florentiner Dichter kurzerhand
zum «Propheten» und «Künder» der Einheit Italiens erklärt. Die Dante-
Feier 1865 in Florenz im Gedenken an seinen 600. Geburtstag gestaltete
sich so zu einer politischen Veranstaltung ganz im Sinne des
monarchischen Risorgimento.
Verdi
dagegen kam die Rolle des volkstümlichen nationalen Helden zu. Im
Winter 1858/59, in der Zeit der aufgeheizten Stimmung vor dem Waffengang
mit Österreich im Frühjahr 1859, entdeckten findige italienische
Patrioten die politische Deutbarkeit von Verdis Namen: V.E.R.D.I. - das
stand für «Vittorio Emanuele Re D'Italia» und das wiederum für Befreiung
von österreichischer Fremdherrschaft in Norditalien und ein geeintes
Italien unter Führung des piemontesischen Königs.
Laut
Folchetto waren in ganz Italien Mauern und Wände mit der Inschrift
«Viva V.E.R.D.I.» bedeckt. Folchettos recht allgemeine Aussage, wie jene
zur patriotischen Rezeption von Verdis frühen Opern ebenfalls ohne
nähere Quellenangaben, bot bis heute Generationen von Verdi-Forschern
genügend Freiraum für Spekulationen über die Herkunft des Akrostichons
V.E.R.D.I.: Julian Budden zum Beispiel nennt das Jahr 1858 und Neapel,
Charles Osborne Rom und die Uraufführung von «Un ballo in maschera» im
Teatro Apollo am 17. Februar 1859. Birgit Pauls dagegen sieht in dem
Akrostichon einen wesentlichen Aspekt der späteren retrospektiven
Mythenbildung des Königreiches Italien.
Anhand
neuester Quellenforschungen lässt sich nun Näheres über den Ursprung
des Akrostichons und seine Bedeutung für die Herausbildung des
politischen Verdi-Mythos sagen. Mehrere Zeitungen aus dem Königreich
Piemont-Sardinien, dem einzigen Staat Italiens, in dem seinerzeit
Pressefreiheit herrschte, berichten im Dezember 1858 und Januar 1859 von
seinem Gebrauch. In Florenz begrüssten sich italienische Patrioten auf
den Strassen mit «Viva Verdi», in Modena und Mailand schmierten
Jugendliche Graffiti mit Verdis Namen auf Mauern und Wände. Weitere
Artikel in der «Neuen Preussischen Zeitung» (Berlin) und der
«Allgemeinen Zeitung» (Augsburg), dort unter anderem ein Bericht des
preussischen Diplomaten und Historikers Alfred von Reumont aus Rom,
belegen die Bekanntheit des Akrostichons über Norditalien hinaus.
Die
in der Verdi-Literatur häufig anzutreffende Behauptung, bei der
Uraufführung von «Un ballo in maschera» sei es zu patriotischen
Kundgebungen gekommen, widerlegt eine römische Korrespondenz der Turiner
«L'Opinione» vom 24. Februar 1859, die von umfangreichen
Sicherheitsvorkehrungen der römischen Polizei vor der Aufführung
berichtet: «Aus Furcht vor Demonstrationen für Verdi, wie sie in Mailand
stattgefunden hatten, ergriff sie solche Massnahmen, als handelte es
sich um die Verhinderung eines Aufstandes. Carabinieri auf den Strassen
und verkleidete Agenten im Parkett sorgten dafür, dass ja kein Evviva
auf Verdi zu hören war.»
So
ist Verdi schon 1859/60 und nicht erst Ende des 19. Jahrhunderts, wie
von Birgit Pauls angenommen, ein italienischer Nationalheld. Beredtes
Beispiel hierfür sind die Ovationen der Turiner Bevölkerung und die
panegyrisch-patriotischen Artikel der italienischen Presse anlässlich
von Verdis Auftritt als Deputierter des Herzogtums Parma in Turin im
September 1859. Bereits hier wird der Komponist in der historischen
Rückschau als «genio musicale» gerühmt, das instinktiv die Gefühle von
«patria» und «libertà» in Töne gesetzt und in seinen frühen Opern
«Nabucco» und «I Lombardi» die Einigung Italiens gewissermassen
musikalisch vorweggenommen habe.
Die
auffällige Rezeptionslücke in den 1860er Jahren lässt sich wohl mit
seinen Auslandsarbeiten erklären. Erst das Requiem, 1874 im Gedenken an
den ersten Todestag des grossen italienischen Schriftstellers Alessandro
Manzoni komponiert, sollte den Patrioten Verdi wieder nachhaltig ins
Gedächtnis rufen. Folchettos nur wenige Jahre später erschienene
Verdi-Biographie (1881) stellt dann den rezeptionsgeschichtlich
bedeutsamen Ausgangspunkt dar für die Verbreitung eines politischen
Verdi-Bildes, das noch heute im kollektiven Bewusstsein Italiens präsent
ist. NZZ
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