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Sonntag, 28. Januar 2018

Treu & Glauben




Die Welt ist aus den Fugen und der Irrsinn wird alltäglich. Das hat sicherlich sein Gutes, denn es verlangt und bewirkt eine geistige Beweglichkeit, die manchen Menschen gut tut. Man soll ja nicht in verkrusteten Denkstrukturen verharren. Besser man bereitet sich ständig auf Unerwartetes vor.

Wenn man den Wasserhahn aufdreht, könnte zur Abwechslung auch mal Feuer herauskommen. In diesem Sinne hat die Volksbank Reutlingen ihre Geschäftsbedingungen umgestaltet.
Wer bei dieser Bank ein Konto unterhält und sich nicht täglich über die neuesten per Aushang bekanntgegebenen Geschäftsbedingungen informiert, kann von Glück reden, daß nicht sein ganzes Geld weg ist, sondern bloß ein Teil davon. Denn irgendwann im letzten Jahr tauchte in diesem Aushang der Hinweis auf negative Zinsen auf, die ab sofort zu zahlen seien. Negative Zinsen sind allerdings keine Erfindung der Volksbank Reutlingen, sondern eine Folge der ins Perverse gekippten europäischen Geldpolitik.

Eigentlich sind negative Zinsen das Ende des Kapitalismus. Denn Wasser fließt nicht bergauf, und nicht derjenige, der sein Geld verleiht, schuldet seinem Schuldner etwas, sondern umgekehrt. Aber die Welt ist aus den Fugen, und Sparsamkeit gehört jetzt zu den Untugenden, für die man büßen muß.

Zinsen bilden nämlich die Grundlage aller Sparanstrengungen: sie sind die Belohnung für den Triebverzicht, der Ausgleich für die entgangene Befriedigung der Kauflust. Ohne den kapitalistischen Grundbaustein der Verzinsung würde sich niemand veranlaßt fühlen, eine Geldausgabe freiwillig aufzuschieben und den Betrag eben zu sparen. Das ist eine beachtliche Kulturleistung, die auf einer bestimmten Genußstrategie nach der Devise "je später, desto mehr" beruht.

Schon Kinder heben sich manchmal vom Essensteller das, was sie am liebsten mögen, bis zum Ende auf. Dieser Gedanke der Genußerhöhung durch Verzögerung ist weitverbreitet und wirkt bis in religiöse Paradiesvorstellungen hinein. Offenbar liegt darin auch eine Art Selbstrepräsentation menschlicher Vernunft; durch Verschiebung des Genusses auf später beglückt man sich mit dem Beweis der Zeitsouveränität. So wird das Sparen zu einer geradezu metaphysischen Anstrengung und zu einem Inbegriff der Conditio Humana: der Mensch ist das Wesen, das spart.

Dies alles hat die Europäische Zentralbank als ausführendes Organ skrupel- und verantwortungsloser Finanzpolitiker beiseite gewischt und die Euroländer mit soviel billigem Geld geflutet, daß schon dessen bloße Aufbewahrung kostenpflichtig wurde.
Und die Volksbank Reutlingen hat diese Kosten, die ihr das viele Geld verursacht, einfach an die Kunden durchgereicht. Doch das Landgericht Tübingen, das über diese Praxis zu urteilen hatte, stellte treffend fest, daß die Kunden bei aller geistigen Flexibilität mit einer solche Umkehr des Geschäftsprinzips nicht rechnen müßten.

Negativzinsen seien atypisch, formulierte das Gericht, man könne so etwas nicht einfach per Preisaushang einführen.
Es gibt ja im Geschäftsleben und auch im gesellschaftlichen Miteinander den Grundsatz von Treu und Glauben. Er besagt, daß man nicht in jedem Augenblick gewärtig sein muß, aufs Kreuz gelegt zu werden. Würde man die Volksbank-Reutlingen-Methode beispielsweise aufs Lottospiel übertragen, dann müßten die Gewinner sich künftig darauf gefaßt machen, statt einer Auszahlung eine Geldforderung zu erhalten. Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis es dahin kommt.  Burkhard Müller-Ullrich




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