Stationen

Montag, 1. Januar 2018

Vitale Kolchis



Silvesterfeier in einem georgischen Restaurant. Die Tische sind üppig gedeckt – bei den Ostvölkern gilt es als anstößig, sie abzuräumen; das Essen zieht sich über Stunden, es werden nur die abgegessenen Teller und Schüsseln durch neue ersetzt –, die Speisen sind wundervoll nahrhaft, es gibt wenig für Vegetarier und nichts für Veganer, doch es scheint auch kein einziger Vertreter dieser Observanzen anwesend zu sein. Die Gäste stammen aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion: Georgier, Armenier, Ukrainer, Kaukasier, Russen aus Ostpreußen, Russen aus Moskau, Russen aus Sibirien, Russen aus London, dazwischen einige wenige deutsche Männer, an ihrem Habitus leicht zu erkennen, die sich ihre Partnerinnen importiert haben. Es wird georgischer Wein serviert, auf den Tischen der Kaukasusvölker steht flaschenweise Kognac, am guten Russentisch, dem ein ausweislich seiner Begleiterin reicher Mann mit dem Körperbau und der Physiognomie eines Metzgermeisters und der guten Laune eines Kindes präsidiert, wird Wodka getrunken, wobei die Speiseberge nahezu unberührt bleiben, man schiebt nur hin und wieder der Wodka (weiblich!) einen "Nachbeißer" hinterher. Als die Moderatorin mit dem Mikrophon die Runde macht, um Toasts einzusammeln, wünscht der reiche Russe der Gesellschaft "Gesundheit. Nur Gesundheit. Den Rest kauft man sich!"

Das Riesenland erstreckt sich bekanntlich über elf Zeitzonen, es gibt folglich zu jeder vollen Stunde Gelegenheit zum kollektiven Glaserheben, irgendwo sitzt immer jemand, der oder die als Repräsentanten ihrer Weltzeit von der Moderatorin ausgerufen werden, beginnend in Chabarowsk am Amur und schließlich endend mit der deutschen Mitternacht. Es gibt Live-Musik – ein Sänger, zwei Sängerinnen, ein Computer –, und die Tanzfläche ist ständig voll. Die Titel wechseln von russischer Popmusik über sowjetische Schlager (die jeder kennt und mitsingt), orientalische Tänze (eine schwarzhaarige, dunkeläugige Schöne reagiert sofort mit den typisch orientalischen Schlangenbewegungen der Arme), bis hin zu Modern Talking. Was komplett fehlt, ist das, was sonst überall läuft.



Die kulturprägende Kraft der Sowjetunion zwang den verschiedensten Völkerschaften nicht nur dasselbe Joch auf, sondern amalgamierte sie zu Sowjetbürgern; alle sprechen dieselbe Sprache, singen bei denselben Liedern mit, haben, sofern etwas älter, ähnliche Erinnerungen, sind durch dieselbe Schule gegangen. Dort haben auch Muslime ganz selbstverständlich Puschkin gelesen, klassische Instrumente gelernt und Schach gespielt. Gerade in den islamischen Ländern am Südbauch Russlands machte der Bolschewismus großen Eindruck; das war eine universalistische Religion von immenser Kraft, die sich wie der frühe Islam ausbreitete und alle Hindernisse niederrannte, deren Prediger von Männern mit Revolvern und Maschinengewehren begleitet wurden und sich auf keinen Kompromiss einließen, sie verkündeten die Gleichheit aller Erdenkinder und machten blutigen Ernst damit, das hatte etwas ungeheuer Einleuchtendes. Heute ist dieses Imperium zerfallen, aber seine zumindest in kultureller Hinsicht eindrucksvollen Reste sind zuweilen noch zu besichtigen.




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