Frankreich braucht seine Revolutionen. Wenn es keine sozialen,
politischen oder sonstigen Anlässe gibt, werden eben welche geschaffen
und inszeniert. Dazu bedarf es einiger Ingredienzen: Ein
symbolträchtiger Ort, der Hauch der Geschichte, Pathos, Visionen und
Institutionen, die man abschaffen (gegebenenfalls auch köpfen) oder neu
erfinden kann. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hatte
all diese Zutaten zusammengetragen, als er sich gemeinsam mit der
Bundeskanzlerin vor allem an die junge Generation in Frankreich und
Deutschland richtete.
Sie trafen sich in dem Raum, in dem die Vorgänger der beiden, Charles
de Gaulle und Konrad Adenauer auf den Tag genau vor 55 Jahren den
Élysée-Vertrag unterzeichnet hatten und gemeinsam beschwörten sie die
Zukunft Europas in dieser von Umbrüchen charakterisierten Zeit, in der
die deutsch-französische Freundschaft eine Konstante darstelle. Und
damit diese karolingische Konstante noch stabiler und fruchtbarer werde,
soll im Laufe des Jahres ein neuer Élysée-Vertrag ausgearbeitet werden.
Braucht es diesen neuen Vertrag wirklich? In
diesem mittlerweile gefühlt zehnten Appell zur grundsätzlichen
Erneuerung Europas plädierten beide für eine Vertiefung der
deutsch-französischen Freundschaft, während eine Delegation der
Abgeordneten der Nationalversammlung unter Führung des Präsidenten des
französischen Parlaments Francois de Rugy sich mit ihren Kollegen des
Bundestags in Berlin trafen und gemeinsam eine Resolution
verabschiedeten, in der die Erneuerung des Élysée-Vertrages noch einmal
angekündigt wurde, als ob die beiden Regierungschefs dafür nicht
reichten.
Freundschaft ohne Integrationshuberei
De Rugy, ein treuer Gefolgsmann Macrons, ließ es sich auch nicht
nehmen, bei dieser Gelegenheit vor nationalistischen Auswüchsen in
Europa zu warnen. Es war eine Inszenierung, wie Macron sie liebt:
Dunkles zu beschwören, um selbst als weißer Ritter aufzutreten. Denn die
Route zur Rettung Europas hat er schon bei seiner Grundsatzrede in der
Sorbonne im vergangenen Herbst vorgezeichnet.
Dazu gehört eine Wirtschaftsregierung der Euro-Zone mit einem eigenen
Finanzminister und einem starken eigenen Budget. In diesem Zusammenhang
sind auch die Vorschläge des Kommissionspräsidenten Jean Claude Juncker
zu sehen und bezahlen sollen die Zeche dieser revolutionären
Bestrebungen natürlich die Deutschen. Dafür muss man sie noch stärker an
Frankreich binden, denn der alte Élysée-Vertrag gibt diese Unterwerfung
nicht her.
Der alte Vertrag spricht sich zwar für eine stärkere Konvergenz in
nahezu allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen aus. Aber er
wurde geschlossen in einem Geist der Freundschaft ohne
Integrationshuberei. Für Adenauer und de Gaulle war nach dem Jahrhundert
der Kriege und Feindschaft die deutsch-französische Freundschaft eine
Grundlage für die Außenpolitik beider Länder.
Der alte Vertrag reicht aus
De Gaulle formulierte es so: „Wenn es eine Nation gibt, mit der das
französische Volk zum Besten Europas kooperieren sollte, so ist es das
deutsche. In der Vergangenheit sind hier zu viele Fehler gemacht
worden“. Und: „Die Deutschen wird es in Europa immer geben, die
Amerikaner nur vielleicht“. Es war ein Wort wie aus der Gedankenwelt
Bismarcks, der seinen Epigonen die Weisheit hinterließ: Die einzige
Konstante der Außenpolitik ist die Geographie.
Solche Weisheiten führten zum Élysée-Vertrag vom 22. Januar 1963. Der
Vertrag verpflichtet beide Regierungen zu Konsultationen in allen
wichtigen Fragen der Außen-, Sicherheits-, Jugend- und Kulturpolitik.
Das gilt noch immer. Man kann weiterführende Verträge in einzelnen
Bereichen schließen, ein neuer Grundlagenvertrag ist nicht nötig.
Beispiel Verteidigung: Einer der Nachfolger de Gaulles, Jacques
Chirac, vertiefte den Élysée-Vertrag, als er sagte: Es gehe um mehr als
Solidarität, „Solidarität, das ist auch mehr als Freundschaft.
Freundschaft ist für mich mit Blick auf die Deutschen
selbstverständlich, aber Solidarität geht weiter. Ich verbinde damit ein
echtes Gefühl der Brüderlichkeit. Es gibt keine Freiheit für Frankreich
ohne Freiheit für Deutschland“. Und: Ein Angriff auf Deutschland sei
ein Angriff auf Frankreich und werde mit allen Mitteln (auch der Force
de Frappe) beantwortet.
Schicksalsgemeinschaft
Das hat man von Macron bei allem Pathos noch nicht gehört. Dabei ist
die Idee einer gemeinsamen Verteidigung älter als der Élysée-Vertrag,
sie wurde schon kurz nach dem Krieg erörtert und gelangte sogar zur
Beschlußreife, ein Beschluß, der 1954 in der französischen
Nationalversammlung abgelehnt wurde, was mit dazu beitrug, daß die
Bundeswehr gegründet wurde. Es entstand die Westeuropäische
Sicherheitsunion, die Kooperation mit der Nato, mit der Frankreich immer
seine Probleme hatte.
Aber auch die Deutschen hatten damit ihre Probleme. Als de Gaulle
Adenauers Nachfolger Ludwig Erhard die Teilhabe an der Force de Frappe
vorschlug, lehnte dieser ab, weil er eine Verstimmung Washingtons
fürchtete. Dabei ist es geblieben. Es wäre revolutionär, wenn Macron den
Vorschlag des ersten Präsidenten der Fünften Republik erneuerte – und
vermutlich würde Merkel auch ablehnen.
Dennoch: Die deutsch-französische Liaison ist eine
Schicksalsgemeinschaft wie Adenauer und de Gaulle sagten, eine entente
elementaire, ein Kernbündnis, wie selbst der Ostpolitiker Willy Brandt
betonte. Nun ist der alte Vertrag so breit angelegt und zielt auf eine
so enge Kooperation der beiden karolingischen Kernstaaten Europas ab,
daß man fast schon von einem Fusionsvertrag reden könnte.
Bloße Vision
Auf jeden Fall sind seine Möglichkeiten bei weitem nicht
ausgeschöpft. Auch mangelt es an Voraussetzungen, zum Beispiel eine
gemeinsame Management- und Unternehmenskultur; die Mentalitäten der
Patrons und Räte sind zu unterschiedlich – wie man bei manchen
gemeinsamen Unternehmen, Beispiel Airbus, feststellen konnte. Ein
gemeinsamer „total integrierter Markt bis 2024“ dürfte eine Vision
bleiben.
Das gilt auch für die Harmonisierung der Steuersysteme bis 2020, von
einer Harmonisierung der Rüstungsindustrie und der Innovationsbereiche
ganz zu schweigen. Viel realistischer ist die Forderung, daß jeder
Student mindestens zwei, besser vier europäische Sprachen beherrschen
sollte. Damit sollte man übrigens beim Deutschen und Französischen
anfangen, hier sind die Zahlen der Studenten und Schüler seit Jahren
rückläufig. Aber ohne Sprachen keine Einheit. Sie sind der mentale Kern
der Integration. Insofern war der Appell an die Jugend durchaus
gerechtfertigt. Mehr ist eigentlich nicht erforderlich.
Mehr ist auch nicht zu erwarten. Man kann von den Franzosen nicht
erwarten, daß sie die deutschen Umwelt- und Ernährungshysterien immer
richtig einordnen. Oder daß sie in allem einem imaginären moralischen
Imperativ folgen, etwa bei der Zuwanderung. Und für die Deutschen ist
unverständlich, warum den Franzosen eine hohe Inflation gleichgültig
sein und es unbedingt 264 geschützte Käsesorten in den internationalen
Handelsverträgen geben soll und warum die Franzosen seit über zwölf
Jahren jährlich rund 150.000 mehr Kinder gebären, obwohl sie, gemessen
am Sozialprodukt nicht mehr Geld für Familienpolitik ausgeben als
Berlin.
Nation und Freundschaft als verbindende Formel
Es gibt, gottseidank, Unterschiede in der Mentalität, in den
Sehnsüchten und in der Lebensweise. Insofern gilt für das Bewußtsein von
der deutsch-französischen Freundschaft die Erkenntnis und das Postulat,
das Ernest Renan 1882 in der Sorbonne über die Nation formulierte, und
das leider oft nur verkürzt zitiert wird.
Renan sagte: „Die Nation ist eine große Solidargemeinschaft, die
durch das Gefühl für die Opfer gebildet wird, die erbracht wurden und
die man noch zu erbringen bereit ist. Sie setzt eine Vergangenheit
voraus und läßt sich dennoch in der Gegenwart durch ein greifbares
Faktum zusammenfassen: die Zufriedenheit und den klar ausgedrückten
Willen, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Die Existenz einer Nation ist
(man verzeihe mir diese Metapher) ein tägliches Plebiszit, wie die
Existenz des Individuums eine ständige Bekräftigung des Lebens ist.“
Deutsche und Franzosen mögen einen anderen Nationenbegriff haben,
sicher ist: Nation und Freundschaft, das ist eine verbindende Formel für
die Politik in Paris und Berlin. Heute haben Deutsche und Franzosen
gemeinsame Feinde, vor allem den islamischen Totalitarismus, der unsere
Gesellschaftssysteme bedroht. Sie haben auch gemeinsame Interessen, eine
gemeinsame Geschichte, gemeinsame Werte, eine gemeinsame Kultur. Das
Gemeinsame zu pflegen und das Unterschiedliche als Bereicherung zu
erkennen, das trägt weiter als die Unterschiede einebnen zu wollen. Liminski
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