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Samstag, 20. Januar 2018

Ein importierter Konflikt bringt deutsche Ermittler in Verruf

Kaum Glaubliches dringt derzeit vom Münchner NSU-Prozess an die Öffentlichkeit: Der Witwe des von den Neonazis um Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos am 11. September 2000 ermordeten Nürnberger Blumenhändlers Enver Simsek begegnete die Polizei nach der Hinrichtung ihres Mannes mit der ganzen gefühlskalten Erbarmungslosigkeit, zu der deutsche Bürokratien mitunter fähig sind. Sie ließ die Ehefrau zunächst nicht ans Klinikbett ihres mit dem Tode ringenden Mannes – eines von neun Opfern des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU).
Deren Mordserie wurde bekanntlich zum Teil schnell und schnodderig unter der Rubrik "Döner-Morde" geführt und scheinbar selbstverständlich einem kriminellen "türkischen" Untergrundmilieu zugerechnet. Die Ermittler bestanden auf einer Vernehmung von Adile Simsek im Polizeipräsidium, noch ehe sie ihren Mann besuchen durfte.
 
In seinem Prozessbericht vom 10. Januar 2018 listet der SPIEGEL die Fragen auf, die die Polizei damals so dringlich von Adile Simsek beantworten wissen wollte und für die es keinen noch so kurzen Aufschub zu geben schien:
"Dealte Ihr Mann mit Drogen, hatte er eine Geliebte, wurde er erpresst? Fragen, die die Frau erschütterten. Enver verwickelt in Drogengeschäfte? Enver mit einem geheimen Liebesleben? Enver in kriminellen Kreisen? Ihr Enver, der in diesen Stunden starb? Ohne, dass sie bei ihm sein konnte..."
Polizei und Kriminalämter, so zitiert der SPIEGEL Adile Simseks Anwältin, seien damals bei ihren Ermittlungen von "Vorurteilen beherrscht" gewesen: "Dass das so passiert sei, habe mit der Herkunft der Opfer zu tun". Eine verstörende, an die Fundamente des Rechtsstaats gehende Anklage. Die Polizeiapparate hätten "jeden noch so entfernten oder abwegigen Hinweis auf Verbindungen der Opfer zur organisierten Kriminalität" verfolgt. Von Wettbetrügereien mit "türkischem" Hintergrund war in der Tat schon früh die Rede gewesen – oder nicht doch eher einem kurdischen?

Neonazis oder deutsche Rassisten als Täter wollte jedenfalls lange Zeit niemand auch nur in Erwägung ziehen, weder bei den Behörden, noch in der deutschen Öffentlichkeit – ein gravierender Vorwurf, der jetzt wieder im Münchner NSU-Verfahren gegen die Ermittler von damals erhoben wurde. Unterstellt wird ein behördlicher antimigrantischer Rassismus, der die NSU-Opfer und deren Angehörige damals in ihrer Verzweiflung nach den brutalen Serienmorden wie eine weitere Salve von Staats wegen treffen musste.

Doch sind die Vorhaltungen gegen die damaligen Ermittler gerechtfertigt? Haben sie schuldhaft fahrlässig, womöglich sogar mit Vorsatz in eine ihren Vorurteilen genehme Richtung ermittelt – in Richtung aus der Türkei gesteuerter Drogen- oder anderer, von dorther organisierter Kriminalität, anstatt nicht wenigstens auch in die richtige Richtung deutscher Neonazis? War es vielleicht Absicht der Ermittler,  von deutschen Tätern abzulenken? Trug die zunächst eingeschlagene Ermittlungsrichtung nicht rassistische Züge? Hat sie das Morden womöglich begünstigt?

Welche Gründe letztlich für den falschen Weg der Ermittlungen ausschlaggebend waren, lässt sich von außen nur vermuten. Ein weit zurückreichender Archivfund aus den verborgenen Tiefen des Internets relativiert aber den Vorwurf gegen die deutschen Ermittler von damals. Er gibt den Blick frei auf eine entlastende Indizienkette, die erkennen lässt, dass die deutschen Kriminalämter sich jahrelang offenbar in einer von der Türkei, womöglich aus politischen Gründen, eingerichteten Irrtumsfalle befanden. Möglicher Hintergrund: Der Konflikt der Türkei mit ihrer kurdischen Minderheit.

Es waren mitnichten deutsche Beamte, die sich als erste in die flinke Hypothese von den "türkischen" Milieu-Verbrechen verliebten – diese Annahme wurde zuerst in der Türkei selbst formuliert. Belastet wurden jedoch nicht "Türken", sondern Kurden; genauer: die von den türkischen Behörden des Terrorismus verdächtigte PKK.
Das nationale türkische Kriminalamt KOM hatte schon 2007 einen Bericht an das Bundeskriminalamt in Wiesbaden abgesetzt, welcher "einen Zusammenhang zwischen den 'Döner-Morden' sowie dem Drogenmilieu in Europa mit einem Familienclan aus Diyarbakir" herstellte. Dieser Darstellung zufolge wurden die Opfer der "Döner-Morde" zu "Verteilern im Drogenmilieu" gerechnet: "Die Opfer sollen zudem Schutzgelder an die [kurdisch-nationalistische] PKK in Europa und [einen] Familienclan in Diyarbakir gezahlt haben", der inoffiziellen Hauptstadt von Türkisch-Kurdistan.

Die "Döner-Morde" würden aus der Türkei heraus befehligt, berichtete die deutschsprachige "TurkishPress" in einem Artikel von Fikret Deniz, der am 12. Dezember 2009 um 18:28 Uhr ins Netz gestellt wurde. Bis zum 8. April 2012 stand die Webseite mit dem Korrespondentenbericht noch im Internet. Seitdem ist sie verschwunden und nur noch über die "Wayback"-Archiv-Suchmaschine aufzuspüren (Sollten Sie dem Link folgen, müssen sie weit nach unten scrollen, bis Sie zu dem zitierten Artikel gelangen).

"TurkishPress" bezieht sich, der aufgefundenen Webseite zufolge, seinerseits auf eine Darstellung der türkischen Zeitung "ZAMAN" vom Oktober 2007, wonach das türkische Kriminalamt KOM kurz nach Bekanntwerden der Mordserie ermittelt habe, "dass ein Familienclan in Diyarbakir einen Drogenring in Europa aufbauen wollte. Als die erhofften Erlöse aus dem Drogenmillieu ausblieben und die PKK den neuen Verteilerring erpresste, soll die Familie die Morde beauftragt haben."

"TurkishPress" schließt: In dem Bericht des KOM "wurden die Täter sowie der Familienclan namentlich aufgeschlüsselt und die Nürnberger Kripo davon unterrichtet".
Der in Deutschland ansässigen "TurkishPress" kam die, wie sich schließlich zeigte, falsche Spurenlegung in die Türkei durch die türkische Ermittlungsbehörde KOM offensichtlich sehr gelegen. Der eigene kurdenfeindliche Hintergrund des Nachrichtenportals stand seinem Bericht aus Dezember 2009 zu den Ermittlungsergebnissen des KOM jedenfalls nicht entgegen; diese lesen sich heute gleichsam wie Signalverstärker, um die Spuren der "Döner-Morde" ins Milieu angeblicher kurdischer Verbrecherbanden legen zu können. Damit wurde es den deutschen Ermittlern – zunächst der Kripo Nürnberg, schließlich auch dem BKA in Wiesbaden – objektiv und womöglich ganz bewusst erschwert, sich alternativ auch mit Spuren ins mindestens ebenso plausible Neonazi-Milieu zu befassen.
Welchen Interessen "TurkishPress" hier gedient haben könnte, lässt sich mithilfe eines Artikels von "Achse"-Gastautor Cengiz Dursun vom 26. Juli 2011 erahnen, in welchem Dursun das Newsportal als einen "Haufen von Frührentnern im Unruhestand" beschreibt, "die liebend gern den Völkermord an den Armeniern leugnen, täglich türkische Nachrichtenseiten übersetzen, um auf die Terroranschläge der PKK aufmerksam zu machen, und neuerdings versuchen, Islamkritiker wie Henryk M. Broder für das Attentat in Norwegen verantwortlich zu machen". Der in den Archivkatakomben des Internets verschwundene Bericht von "TurkishPress" von Dezember 2009 war offensichtlich Teil einer parallel an den Interessen der Türkei ausgerichteten antikurdischen Kampagne. Die Wahrheit hinter der Mordserie herauszufinden stand jedenfalls nicht im Vordergrund.
Sechs Jahre, nachdem das nationale Kriminalamt der Türkei im Oktober 2007 erstmals gezielt die falsche Spur der "Döner-Morde" in angeblich kurdische kriminelle Milieus gelegt hatte – eine Spur, die sich erst mit der Explosion der letzten Wohnung des NSU-Trios in Zwickau am 4. Nov. 2011 endgültig erledigte –, waren die Deutsch-Kurden in der KGD, der "Kurdischen Gemeinde Deutschland e.V." die ersten, die die damaligen Falschbehauptungen öffentlich korrigiert wissen wollten; endlich, denn unter den Anschuldigungen hatte das kurdische Ansehen in Deutschland, aber auch in der Türkei mittlerweile gelitten. In einer Presseerklärung vom 20. Mai 2013 forderte der KGD-Vorsitzende Ali Ertan Toprak, es müsse parallel zum NSU-Prozess nun "auch die Rolle der türkischen Ermittler hinterfragt werden, die nach unseren Informationen schon relativ früh in die Ermittlungen der deutschen Sicherheitsbehörden einbezogen waren".

"Hatte vielleicht ... der türkische Sicherheitsapparat selbst ein Interesse, die linken türkischen und kurdischen Organisationen als mögliche Täter ins Visier zu nehmen?" Die Frage des Chefs der deutsch-kurdischen Gemeinde harrt bis heute der Beantwortung.
Heute hat es indes den Anschein, als wollten einige mit dem wiederholt vorgetragenen Vorwurf eines deutschen Ermittlungsressentiments bewusst eine anhaltende Schuldhypothek auf die deutschen Behörden abladen, um die Schuld der türkischen Behörden vergessen zu lassen, die anscheinend die in ihrem Land diskriminierten Kurden mit einem Serienverbrechen in Deutschland belasten wollten. Die anwaltlich vorgetragenen Beschuldigungen gegen die deutschen Kriminalämter sind an diesem Punkt unverdient, ja beleidigend.
Berechtigt bleibt allerdings der Vorwurf, dass sich die Behörden sich im Zuge ihrer ersten Vernehmungen Adile Simseks im September des Jahres 2000 einer gefühllosen, inhumanen und unnötig-bürokratischen Prioritätensetzung schuldig machten, als sie der Ehefrau nicht erlaubten, zu allererst ihrem sterbenden Mann beizustehen. Hier wäre ein schwerer Fehler dringend anzuerkennen, auch, ja gerade auch nach so vielen Jahren!

Dem SPIEGEL ist daher beizupflichten: "Eine Entschuldigung der Ermittlungsbehörden, Worte des Bedauerns, eine Erklärung stehen noch aus".  Paul Nellen

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