Kaum Glaubliches dringt derzeit vom Münchner NSU-Prozess an die
Öffentlichkeit: Der Witwe des von den Neonazis um Zschäpe, Böhnhardt und
Mundlos am 11. September 2000 ermordeten Nürnberger Blumenhändlers
Enver Simsek begegnete die Polizei nach der Hinrichtung ihres Mannes mit
der ganzen gefühlskalten Erbarmungslosigkeit, zu der deutsche
Bürokratien mitunter fähig sind. Sie ließ die Ehefrau zunächst nicht ans
Klinikbett ihres mit dem Tode ringenden Mannes – eines von neun Opfern
des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU).
Deren Mordserie wurde bekanntlich zum Teil schnell und schnodderig
unter der Rubrik "Döner-Morde" geführt und scheinbar selbstverständlich
einem kriminellen "türkischen" Untergrundmilieu zugerechnet. Die
Ermittler bestanden auf einer Vernehmung von Adile Simsek im
Polizeipräsidium, noch ehe sie ihren Mann besuchen durfte.
In seinem Prozessbericht
vom 10. Januar 2018 listet der SPIEGEL die Fragen auf, die die Polizei
damals so dringlich von Adile Simsek beantworten wissen wollte und für
die es keinen noch so kurzen Aufschub zu geben schien:
"Dealte Ihr Mann mit Drogen, hatte er eine Geliebte, wurde er
erpresst? Fragen, die die Frau erschütterten. Enver verwickelt in
Drogengeschäfte? Enver mit einem geheimen Liebesleben? Enver in
kriminellen Kreisen? Ihr Enver, der in diesen Stunden starb? Ohne, dass
sie bei ihm sein konnte..."
Polizei und Kriminalämter, so zitiert der SPIEGEL Adile Simseks
Anwältin, seien damals bei ihren Ermittlungen von "Vorurteilen
beherrscht" gewesen: "Dass das so passiert sei, habe mit der Herkunft
der Opfer zu tun". Eine verstörende, an die Fundamente des Rechtsstaats
gehende Anklage. Die Polizeiapparate hätten "jeden noch so entfernten
oder abwegigen Hinweis auf Verbindungen der Opfer zur organisierten
Kriminalität" verfolgt. Von Wettbetrügereien mit "türkischem"
Hintergrund war in der Tat schon früh die Rede gewesen – oder nicht doch
eher einem kurdischen?
Neonazis oder deutsche Rassisten als Täter wollte jedenfalls lange Zeit
niemand auch nur in Erwägung ziehen, weder bei den Behörden, noch in der
deutschen Öffentlichkeit – ein gravierender Vorwurf, der jetzt wieder
im Münchner NSU-Verfahren gegen die Ermittler von damals erhoben wurde.
Unterstellt wird ein behördlicher antimigrantischer Rassismus, der die
NSU-Opfer und deren Angehörige damals in ihrer Verzweiflung nach den
brutalen Serienmorden wie eine weitere Salve von Staats wegen treffen
musste.
Doch sind die Vorhaltungen gegen die damaligen Ermittler gerechtfertigt?
Haben sie schuldhaft fahrlässig, womöglich sogar mit Vorsatz in eine
ihren Vorurteilen genehme Richtung ermittelt – in Richtung aus der
Türkei gesteuerter Drogen- oder anderer, von dorther organisierter
Kriminalität, anstatt nicht wenigstens auch in die richtige Richtung
deutscher Neonazis? War es vielleicht Absicht der Ermittler, von
deutschen Tätern abzulenken? Trug die zunächst eingeschlagene
Ermittlungsrichtung nicht rassistische Züge? Hat sie das Morden
womöglich begünstigt?
Welche Gründe letztlich für den falschen Weg der Ermittlungen
ausschlaggebend waren, lässt sich von außen nur vermuten. Ein weit
zurückreichender Archivfund aus den verborgenen Tiefen des Internets
relativiert aber den Vorwurf gegen die deutschen Ermittler von damals.
Er gibt den Blick frei auf eine entlastende Indizienkette, die erkennen
lässt, dass die deutschen Kriminalämter sich jahrelang offenbar in einer
von der Türkei, womöglich aus politischen Gründen, eingerichteten
Irrtumsfalle befanden. Möglicher Hintergrund: Der Konflikt der Türkei
mit ihrer kurdischen Minderheit.
Es waren mitnichten deutsche Beamte, die sich als erste in die flinke
Hypothese von den "türkischen" Milieu-Verbrechen verliebten – diese
Annahme wurde zuerst in der Türkei selbst formuliert. Belastet wurden
jedoch nicht "Türken", sondern Kurden; genauer: die von den türkischen
Behörden des Terrorismus verdächtigte PKK.
Das nationale türkische Kriminalamt KOM hatte schon 2007 einen
Bericht an das Bundeskriminalamt in Wiesbaden abgesetzt, welcher "einen
Zusammenhang zwischen den 'Döner-Morden' sowie dem Drogenmilieu in
Europa mit einem Familienclan aus Diyarbakir" herstellte. Dieser
Darstellung zufolge wurden die Opfer der "Döner-Morde" zu "Verteilern im
Drogenmilieu" gerechnet: "Die Opfer sollen zudem Schutzgelder an die
[kurdisch-nationalistische] PKK in Europa und [einen] Familienclan in
Diyarbakir gezahlt haben", der inoffiziellen Hauptstadt von
Türkisch-Kurdistan.
Die "Döner-Morde" würden aus der Türkei heraus befehligt, berichtete die
deutschsprachige "TurkishPress" in einem Artikel von Fikret Deniz, der
am 12. Dezember 2009 um 18:28 Uhr ins Netz gestellt wurde. Bis zum 8.
April 2012 stand die Webseite mit dem Korrespondentenbericht noch im
Internet. Seitdem ist sie verschwunden und nur noch über die "Wayback"-Archiv-Suchmaschine aufzuspüren (Sollten Sie dem Link folgen, müssen sie weit nach unten scrollen, bis Sie zu dem zitierten Artikel gelangen).
"TurkishPress" bezieht sich, der aufgefundenen Webseite zufolge,
seinerseits auf eine Darstellung der türkischen Zeitung "ZAMAN" vom
Oktober 2007, wonach das türkische Kriminalamt KOM kurz nach
Bekanntwerden der Mordserie ermittelt habe, "dass ein Familienclan in
Diyarbakir einen Drogenring in Europa aufbauen wollte. Als die erhofften
Erlöse aus dem Drogenmillieu ausblieben und die PKK den neuen
Verteilerring erpresste, soll die Familie die Morde beauftragt haben."
"TurkishPress" schließt: In dem Bericht des KOM "wurden die Täter sowie
der Familienclan namentlich aufgeschlüsselt und die Nürnberger Kripo
davon unterrichtet".
Der in Deutschland ansässigen "TurkishPress" kam die, wie sich
schließlich zeigte, falsche Spurenlegung in die Türkei durch die
türkische Ermittlungsbehörde KOM offensichtlich sehr gelegen. Der eigene
kurdenfeindliche Hintergrund des Nachrichtenportals stand seinem
Bericht aus Dezember 2009 zu den Ermittlungsergebnissen des KOM
jedenfalls nicht entgegen; diese lesen sich heute gleichsam wie
Signalverstärker, um die Spuren der "Döner-Morde" ins Milieu angeblicher
kurdischer Verbrecherbanden legen zu können. Damit wurde es den
deutschen Ermittlern – zunächst der Kripo Nürnberg, schließlich auch dem
BKA in Wiesbaden – objektiv und womöglich ganz bewusst erschwert, sich
alternativ auch mit Spuren ins mindestens ebenso plausible
Neonazi-Milieu zu befassen.
Welchen Interessen "TurkishPress" hier gedient haben könnte, lässt sich mithilfe eines Artikels
von "Achse"-Gastautor Cengiz Dursun vom 26. Juli 2011 erahnen, in
welchem Dursun das Newsportal als einen "Haufen von Frührentnern im
Unruhestand" beschreibt, "die liebend gern den Völkermord an den
Armeniern leugnen, täglich türkische Nachrichtenseiten übersetzen, um
auf die Terroranschläge der PKK aufmerksam zu machen, und neuerdings
versuchen, Islamkritiker wie Henryk M. Broder für das Attentat in
Norwegen verantwortlich zu machen". Der in den Archivkatakomben des
Internets verschwundene Bericht von "TurkishPress" von Dezember 2009 war
offensichtlich Teil einer parallel an den Interessen der Türkei
ausgerichteten antikurdischen Kampagne. Die Wahrheit hinter der
Mordserie herauszufinden stand jedenfalls nicht im Vordergrund.
Sechs Jahre, nachdem das nationale Kriminalamt der Türkei im Oktober
2007 erstmals gezielt die falsche Spur der "Döner-Morde" in angeblich
kurdische kriminelle Milieus gelegt hatte – eine Spur, die sich erst mit
der Explosion der letzten Wohnung des NSU-Trios in Zwickau am 4. Nov.
2011 endgültig erledigte –, waren die Deutsch-Kurden in der KGD, der
"Kurdischen Gemeinde Deutschland e.V." die ersten, die die damaligen
Falschbehauptungen öffentlich korrigiert wissen wollten; endlich, denn
unter den Anschuldigungen hatte das kurdische Ansehen in Deutschland,
aber auch in der Türkei mittlerweile gelitten. In einer Presseerklärung
vom 20. Mai 2013 forderte der KGD-Vorsitzende Ali Ertan Toprak,
es müsse parallel zum NSU-Prozess nun "auch die Rolle der türkischen
Ermittler hinterfragt werden, die nach unseren Informationen schon
relativ früh in die Ermittlungen der deutschen Sicherheitsbehörden
einbezogen waren".
"Hatte vielleicht ... der türkische Sicherheitsapparat selbst ein
Interesse, die linken türkischen und kurdischen Organisationen als
mögliche Täter ins Visier zu nehmen?" Die Frage des Chefs der
deutsch-kurdischen Gemeinde harrt bis heute der Beantwortung.
Heute hat es indes den Anschein, als wollten einige mit dem
wiederholt vorgetragenen Vorwurf eines deutschen
Ermittlungsressentiments bewusst eine anhaltende Schuldhypothek auf die
deutschen Behörden abladen, um die Schuld der türkischen Behörden
vergessen zu lassen, die anscheinend die in ihrem Land diskriminierten
Kurden mit einem Serienverbrechen in Deutschland belasten wollten. Die
anwaltlich vorgetragenen Beschuldigungen gegen die deutschen
Kriminalämter sind an diesem Punkt unverdient, ja beleidigend.
Berechtigt bleibt allerdings der Vorwurf, dass sich die Behörden sich
im Zuge ihrer ersten Vernehmungen Adile Simseks im September des Jahres
2000 einer gefühllosen, inhumanen und unnötig-bürokratischen
Prioritätensetzung schuldig machten, als sie der Ehefrau nicht
erlaubten, zu allererst ihrem sterbenden Mann beizustehen. Hier wäre ein
schwerer Fehler dringend anzuerkennen, auch, ja gerade auch nach so
vielen Jahren!
Dem SPIEGEL ist daher beizupflichten: "Eine Entschuldigung der
Ermittlungsbehörden, Worte des Bedauerns, eine Erklärung stehen noch
aus". Paul Nellen
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