Damals in der Allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule der DDR war
zwar ziemlich viel, aber nicht alles schlecht, das Ausmaß der Propaganda
übertraf jenes an normalen BRD-Schulen um ein Beträchtliches (aber der
Westen holt zügig auf!), die Kollektivismen waren erzwungen statt wie
heute freiwillig, die Klassen erschütternd unbunt, es gab keine
Kopftücher, keine kleinen Machos aus dem Orient, keine Messer, keine
lustige Hackordung nach rein und unrein, keine Kartoffelverachtung,
nicht mal Hip-hop und kaum einen Angriff auf einen Lehrer; dafür mussten
die Schüler im Frontalunterricht Lesen, Schreiben, Rechnen und im
Deutschunterricht sogar Gedichte lernen, was heute mindestens
diskriminierend (deutsche Klassiker!), sexistisch ("Sah ein Knab ein
Röslein stehen!"), inklusionsfeindlich (Reim) und praktisch strukturelle
Gewalt (Auswendiglernen!) wäre.
Ich erinnere mich noch gut an
eine Unterrichtsstunde in der siebten oder achten Klasse, als die
Deutschlehrerin Goethes "Erlkönig" vortrug und uns danach die Frage
stellte, warum das Kind denn gestorben sei. Langes Schweigen. Vielleicht
weil es krank war?, mutmaßte eine Schülerin. Nein, versetzte die
Lehrerin, machte eine Kunstpause und sprach: "Es ist vor Angst
gestorben." In diesem Moment hätte man die berühmte Stecknadel zu Boden
fallen hören können.
Ein paar Monate später präsentierte uns
die Musiklehrerin zwei Gäste, einen Pianisten und einen Sänger, die
Lieder vortrugen, unter anderem eben Schuberts Vertonung der Goetheschen
Ballade. Von meiner Erinnerung her war es ein lyrischer Bariton, und es
war das erste Mal, dass ich Bekantschaft mit dem deutschen Kunstlied
schloss. Der Gesang befremdete mich, ich hielt Singen damals für
unmännlich und weigerte mich im Unterricht deshalb auch, selber zu
singen – der erste Wagnertenor, den ich im TV mit Siegfrieds Schmelzlied
hörte, beseitigte diesen Vorbehalt in wenigen Sekunden – , doch die
unheilschwangere Klavierbegleitung mit den galoppierenden Oktaven in der
Rechten hinterließ einen tiefen Eindruck in meiner Teenagerseele. Wie
ich gerade darauf komme, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob es
irgendwo in 'schland noch solche Auftritte vor Schülern gibt, und wenn
ich meine Söhne nach Gedichten frage, die sie auswendig wissen, gibt es
ein müdes Schulterzucken. Wenn der Begriff "Erlkönig" fällt, denken die
meisten heute sowieso an Autos.
Die Ballade vom Sieg des
Irrationalen über die väterlichen Vernunftgründe ist gleichwohl ein Werk
für die Ewigkeit, das Schubert kongenial in Töne gesetzt hat. Wann
haben Sie's zuletzt gehört? Ich stieß in der elektronischen
Ali-Baba-Höhle auf eine Aufnahme mit meinem bevorzugten Wagnertenor
Ludwig Suthaus, die man gehört haben sollte. MK am 29. 7.
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