Stationen

Sonntag, 29. Juli 2018

Angst aktuell

Damals in der Allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule der DDR war zwar ziemlich viel, aber nicht alles schlecht, das Ausmaß der Propaganda übertraf jenes an normalen BRD-Schulen um ein Beträchtliches (aber der Westen holt zügig auf!), die Kollektivismen waren erzwungen statt wie heute freiwillig, die Klassen erschütternd unbunt, es gab keine Kopftücher, keine kleinen Machos aus dem Orient, keine Messer, keine lustige Hackordung nach rein und unrein, keine Kartoffelverachtung, nicht mal Hip-hop und kaum einen Angriff auf einen Lehrer; dafür mussten die Schüler im Frontalunterricht Lesen, Schreiben, Rechnen und im Deutschunterricht sogar Gedichte lernen, was heute mindestens diskriminierend (deutsche Klassiker!), sexistisch ("Sah ein Knab ein Röslein stehen!"), inklusionsfeindlich (Reim) und praktisch strukturelle Gewalt (Auswendiglernen!) wäre.

Ich erinnere mich noch gut an eine Unterrichtsstunde in der siebten oder achten Klasse, als die Deutschlehrerin Goethes "Erlkönig" vortrug und uns danach die Frage stellte, warum das Kind denn gestorben sei. Langes Schweigen. Vielleicht weil es krank war?, mutmaßte eine Schülerin. Nein, versetzte die Lehrerin, machte eine Kunstpause und sprach: "Es ist vor Angst gestorben." In diesem Moment hätte man die berühmte Stecknadel zu Boden fallen hören können. 

Ein paar Monate später präsentierte uns die Musiklehrerin zwei Gäste, einen Pianisten und einen Sänger, die Lieder vortrugen, unter anderem eben Schuberts Vertonung der Goetheschen Ballade. Von meiner Erinnerung her war es ein lyrischer Bariton, und es war das erste Mal, dass ich Bekantschaft mit dem deutschen Kunstlied schloss. Der Gesang befremdete mich, ich hielt Singen damals für unmännlich und weigerte mich im Unterricht deshalb auch, selber zu singen – der erste Wagnertenor, den ich im TV mit Siegfrieds Schmelzlied hörte, beseitigte diesen Vorbehalt in wenigen Sekunden – , doch die unheilschwangere Klavierbegleitung mit den galoppierenden Oktaven in der Rechten hinterließ einen tiefen Eindruck in meiner Teenagerseele. Wie ich gerade darauf komme, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob es irgendwo in 'schland noch solche Auftritte vor Schülern gibt, und wenn ich meine Söhne nach Gedichten frage, die sie auswendig wissen, gibt es ein müdes Schulterzucken. Wenn der Begriff "Erlkönig" fällt, denken die meisten heute sowieso an Autos. 

Die Ballade vom Sieg des Irrationalen über die väterlichen Vernunftgründe ist gleichwohl ein Werk für die Ewigkeit, das Schubert kongenial in Töne gesetzt hat. Wann haben Sie's zuletzt gehört? Ich stieß in der elektronischen Ali-Baba-Höhle auf eine Aufnahme mit meinem bevorzugten Wagnertenor Ludwig Suthaus, die man gehört haben sollte.   MK am 29. 7.





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