DIE ZEIT:
Herr Baccaro, Italien erschüttert Europa. Die neofaschistische Lega bildet eine Regierung
mit der irrlichternden Fünf-Sterne-Bewegung. Wie konnte es so weit kommen?
Lucio Baccaro:
Die italienische Wirtschaft stagniert seit zwanzig Jahren. Pro Kopf liegt das
Bruttoinlandsprodukt immer noch unter dem von 1999. Die hohe Staatsverschuldung stammt
überwiegend aus den siebziger und achtziger Jahren, als der italienische Wohlfahrtsstaat
aufgebaut wurde. Damals türmte sich die Verschuldung auf, mit der das Land bis heute zu
kämpfen hat. Erst seit den neunziger Jahren erzielt Italien – mit Ausnahme von 2009 – jedes
Jahr einen Primärüberschuss.
ZEIT:
Angeblich geht es wirtschaftlich wieder aufwärts.
Baccaro:
Das glaube ich nicht. Italien ist nach wie vor das Land, dessen Wirtschaft weniger wächst
als die aller anderen Länder, einschließlich des Vereinigten Königreichs. Und die jüngsten
Daten deuten darauf hin, dass Konsum und Export zurückgehen.
ZEIT:
Der Philosoph Angelo Bolaffi behauptet in der
Süddeutschen Zeitung,
Italiens
Krise habe mit der Einführung des Euro wenig zu tun.
Baccaro:
Ich glaube, in diesem Punkt irrt er sich. Meiner Auffassung nach hat die
Euro-Mitgliedschaft die italienische Wachstumsrate verringert. Natürlich kann man das nicht
mit letzter Sicherheit sagen, weil wir das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen und
nachschauen können, was passiert wäre, wenn Italien dem Euro ferngeblieben wäre. Fest steht
nur: Vor der Einführung des Euro wuchs Italiens Wirtschaft genauso schnell oder sogar
schneller als die anderer europäischer Länder.
ZEIT:
Sie haben sich als Forscher einen Namen gemacht, weil sie die Entwicklung des
wirtschaftlichen und des politischen Systems zusammendenken. Nun koalieren die Neofaschisten
des Nordens mit einer Anti-Establishment Partei, die im Süden Erfolge feiert. Beide bilden,
wie Sie sagen würden, einen sozialen Block. Hat Sie das überrascht?
Baccaro:
Wenn überhaupt, bin ich überrascht, dass der Zusammenbruch des etablierten Parteiensystems
nicht früher eingetreten ist. Der Grund ist für mich – um es mit einer Formulierung des
Politikwissenschaftlers Fritz Scharpf zu sagen – der Mangel an "Output-Legitimität".
Gebetsmühlenartig haben die früheren Regierungen von Monti über Letta und Renzi bis zu
Gentiloni wiederholt, die Krise sei überwunden, und man könne das Licht am Ende des Tunnels
sehen. In Wirklichkeit haben sich die wirtschaftlichen Bedingungen nicht nachhaltig
verbessert. Matteo Renzi von der Demokratischen Partei (PD) fand große Zustimmung, weil er
sich als neuer Politiker darzustellen vermochte, der die entscheidende Wende bringen würde.
Das hat er nicht geschafft.
ZEIT:
Und weil die Probleme die alten blieben, geben die Wähler immer radikaleren Politikern
ihre Stimmen?
Baccaro:
Sie stimmen für Personen und Parteien, die noch neuer sind und eine noch massivere
Kursänderung versprechen. Italien befindet sich auf der ständigen Suche nach neuem Personal
und neuen Parteien, während deren Lebenszyklus immer kürzer wird.
ZEIT:
Was verbindet die institutionenfeindlichen Linken mit den staatsfixierten radikalen
Rechten?
Baccaro:
Die Koalition von Lega und Cinque Stelle ist weniger seltsam, als es auf den ersten Blick
scheinen mag. Beide sind Antisystemparteien, beide stellen das "Volk" über die "Eliten".
Beide sind euroskeptisch, die Lega noch stärker als die Fünf-Sterne-Bewegung, die in letzter
Zeit ihre Anti-EU-Rhetorik gemäßigt hat, vor allem aus taktischen Gründen. Sie haben vieles
gemeinsam – sonst wären sie nicht in der Lage gewesen, sich in so kurzer Zeit auf ein
Regierungsprogramm zu einigen.
ZEIT:
Für wie gefährlich halten Sie die italienische Querfront?
Baccaro:
Die Lega hat sich zu einer wohlfahrtschauvinistischen Partei in der Art von Marine Le Pens
Rassemblement National Populaire oder Viktor Orbáns Fidesz-Partei entwickelt. Ihr
Wirtschaftsprogramm ist rechts bei den Themen Steuern und öffentliche Ordnung, während sie
die Rolle des Staates in der Wirtschaft stärken will. Sie ist nicht für einen Abbau des
Wohlfahrtsstaats, sondern für die Beschränkung des Zugangs auf Staatsangehörigkeit und den
Ausschluss von Ausländern. Die Rhetorik des "Italiener zuerst!" ist ihr zentraler
Schlachtruf.
ZEIT:
Und die Cinque Stelle?
Baccaro:
Sie ist schwieriger einzuschätzen. Ihre Wähler sind gebildeter als die der typischen
Antisystempartei. Sie scheint eine wirklich klassenübergreifende Partei zu sein, die Stimmen
aus allen gesellschaftlichen Gruppen bekommt, wenngleich sie besonders stark im Süden des
Landes und bei der jungen Wählerschaft ist.
ZEIT:
Handelt es sich bei der Fünf-Sterne-Bewegung überhaupt noch um eine linke Partei?
Baccaro:
Das ist schwer zu sagen. Ihre politischen Positionierungen sind dafür bislang zu dünn.
Ihre Punkte sind die Betonung des "Volks" im Gegensatz zu den professionellen Politikern,
der Kampf gegen Korruption, mehr Kontrolle gewählter Politiker durch ihre Wähler, eine
Stärkung der direkten Demokratie und eine Art "Bürgereinkommen". Ob dieser Vorschlag links
oder rechts ist, das hängt von der politischen Ausgestaltung des Bürgereinkommens ab.
Bislang hat die Cinque Stelle ohne großen Widerstand den Vorschlag der Lega akzeptiert, eine
regressive Steuer einzuführen. Wenn dadurch die soziale Ungleichheit wächst, kann das durch
das Bürgereinkommen ausgeglichen werden. Das muss es aber nicht. Auch der Katalog von
Strafmaßnahmen gegen Migranten, den die Lega vorgeschlagen hat, wurde von der
Fünf-Sterne-Bewegung akzeptiert.
ZEIT:
Ihr Vorgänger Wolfgang Streeck wirft der EU vor, sie schreibe ihren Mitgliedsländern bis
ins Detail ein neoliberales Regelwerk vor und beseitige damit jeden nationalen
Handlungsspielraum. Dagegen richte sich dann der populistische Protest, ob von links oder
von rechts. Teilen Sie seine Ansicht?
Baccaro:
Ich teile diese Ansicht, würde sie aber anders formulieren. Die Koordinierungsregeln der
Euro-Zone sehen nur einen einzigen Anpassungsmechanismus vor: die innere Abwertung. Weist
ein Land ein Zahlungsbilanzdefizit auf, so muss es dieses dadurch ausgleichen, dass es eine
Deflation gegenüber anderen Mitgliedsländern herbeiführt. Das ist nicht nur schmerzhaft,
sondern auch unwirksam. Währungsunionen können aber nur funktionieren, wenn sie über
Mechanismen verfügen, die gewährleisten, dass eine Anpassung bei allen, also symmetrisch,
erfolgt. Das heißt: Die Überschussländer müssen ebenfalls ihren Teil der Anpassung
übernehmen. Die Strategie der inneren Abwertung hat zum Glaubwürdigkeitsverlust der Politik
geführt.
ZEIT:
Damit sprechen Sie das Überschussland Deutschland an. Warum ist Deutschland der Schurke im
Spiel?
Baccaro:
Die Mehrheit der Italiener hat die Nase voll von der Austeritätspolitik. Sie kaufen das
Argument nicht mehr, dass sie nur noch eine weitere Strukturreform durchführen müssten und
dann wieder eitel Sonnenschein herrschen würde. Es hat in den vergangenen Jahren viele
Reformen gegeben, etwa der Renten und des Arbeitsmarktes, und sie haben das Wachstum nicht
zurückgebracht.
ZEIT:
Sie sind gegenüber Deutschland jetzt sehr höflich. Was haben Frau Merkel und Herr Schäuble
falsch gemacht?
Baccaro:
Die Wut der Italiener richtet sich überwiegend gegen ihre eigenen Politiker, nicht gegen
die Deutschen. Und eine Mehrheit ist gegen eine Rückkehr zur Lira. Allerdings, die
beleidigenden Artikel, die jüngst in der deutschen Presse erschienen sind, fanden starke
Beachtung und haben reichlich Animositäten geschürt. Und was Frau Merkel, Herrn Schäuble
oder andere Politiker angeht: Mir fällt es schwer, ihnen etwas anderes als vielleicht
Kurzsichtigkeit vorzuwerfen. Sie sind gewählte Politiker, die tun, was ihrer Meinung nach
das Beste für ihre Wähler ist. Bislang hat die deutsche Wachstumsstrategie gut funktioniert,
wenn auch nicht für jeden in Deutschland. Der Fehler mancher deutscher Politiker ist es
allerdings, zu glauben, dass das, was in Deutschland funktioniert hat, vermutlich auch
anderswo funktioniert. Sie sollten begreifen, dass unmöglich alle Volkswirtschaften
gleichzeitig exportorientiert sein können. Und sie sollten begreifen, dass das Seil reißen
kann, wenn man es zu straff spannt. Vielleicht reißt es schon.
ZEIT:
Emmanuel Macron will das verhindern und schlägt ein Euro-Zonen-Parlament vor. Könnte es
den fatalen Eindruck vermeiden, dass Deutschland in Europa das Sagen hat?
Baccaro:
Ja, ein Euro-Zonen-Parlament könnte dabei helfen. Es müsste aber über echte Macht
verfügen, über einen europäischen Haushalt mit einer EU-weiten Besteuerungskapazität.
Außerdem müsste es die Einführung symmetrischer Anpassungsmechanismen demokratisch
legitimieren können. So würde die Euro-Zone in eine echte politische Union verwandelt. Dafür
sehe ich im Moment nur geringe Chancen. Ein Parlament, das nur über symbolische Macht
verfügt, brauchen wir nicht.
ZEIT:
Angela Merkel hat Emmanuel Macron monatelang auf eine Antwort warten lassen. Ist Macrons
Initiative bereits gescheitert – ausgerechnet jetzt, wo in Italien eine eurokritische
Regierung an der Macht ist und Europa nach dem G7-Debakel dringend mit einer Stimme sprechen
müsste?
Baccaro:
Im Gegenteil, Macrons Position wird vielleicht durch die Turbulenzen eher noch gestärkt.
Die deutsche Regierung könnte das Gefühl bekommen, dass sie etwas tun muss. Meiner Ansicht
nach gehen Macrons Vorschläge aber nicht weit genug. Sie werden auch die italienische Krise
nicht lösen können – und diese Krise stellt die größte Gefahr für die EU dar.
ZEIT:
Was stört Sie an Macrons Plan?
Baccaro:
Gegen den deutschen Widerstand will Macron eine gewisse Risikoteilung bei den
Staatsschulden. Gleichzeitig will er die Fähigkeit der Finanzmärkte stärken, Staaten mit
hohen Schulden, wie beispielsweise Italien, bestrafen zu können. Ich fürchte, dass dies die
Krise eher beschleunigen als beenden wird. Angenommen, es kommt zu einem Spekulationsangriff
durch die Märkte, dann würde die italienische Regierung nicht einfach kampflos ein
Memorandum mit der Brüsseler Troika aushandeln. An diesem Punkt ist alles möglich. Es könnte
das Ende des Euro sein.
ZEIT:
Die Regierung könnte einfach zurücktreten.
Baccaro:
Ja, der Druck der Euro-Zone und des Finanzmarkts könnte zu einer Kapitulation der
Regierung führen wie 2015 im Fall der griechischen Regierung. Dieses Szenario ist meiner
Meinung nach aber unwahrscheinlich. Meine Vermutung lautet: Stünde die neue Regierung mit
dem Rücken zur Wand – so wie damals die griechische Regierung –, dann würde sie das Haus in
die Luft sprengen. In einem anderen Szenario würde die EU akzeptieren, dass in Italien das
Wachstum Priorität hat und das Land laxeren Defizitstandards folgt.
ZEIT:
Die deutsche Begeisterung darüber wird sich in Grenzen halten.
Baccaro:
Die Bundesregierung müsste ihren Kurs hinsichtlich der Reform der Euro-Zone ändern. Meinem
Gefühl nach ist das nicht sehr wahrscheinlich.
ZEIT:
Gibt es keine andere Lösung?
Baccaro:
Durchaus. Sie bestünde darin, sich einzugestehen, dass die Wirtschaftssysteme der
Euro-Zone für eine friedliche Koexistenz zu unterschiedlich sind. Darum muss man die
Bedingungen für eine einvernehmliche Scheidung aushandeln. Diese sollte so ausgestaltet
werden, dass die Partner auch danach noch miteinander reden können.
ZEIT:
Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.
Baccaro:
Ich denke, dass ich klargemacht habe, dass der Euro und hoffentlich nicht Europa
zusammenbrechen könnte. Tatsächlich sind wir an einem kritischen Punkt. Wir müssen unbedingt
die Idee Europas von der konkreten Realität des Euro trennen. Das Scheitern des Euro, sollte
es dazu kommen, darf nicht zum Scheitern Europas führen. ZEIT
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