Wer in den letzten sechs Monaten dennoch
das Gefühl hatte, da habe sich an Frequenz, Gefährlichkeit und
Dreistigkeit antisemitischer Übergriffe etwas verändert, von der
Verhöhnung von Juden auf offener Straße über die öffentliche Prämierung
von Hass-Rappern bis zu verbalen und tätlichen Angriffen auf Träger der
Kippa, wird sich durch die soeben vorgestellte Langzeitstudie der
Technischen Universität Berlin bestätigt fühlen. In der von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Arbeit
„Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses“ belegen die
Kognitionswissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel und ihre Mitarbeiter
über die letzten zehn Jahre hinweg eine starke Zunahme antisemitischer
Äußerungen im Netz, auch und gerade auf den Kommentarseiten der
Qualitätsmedien. Gestützt werden ihre Funde durch Stichproben auf Twitter, Facebook und auf der – offenbar besonders permissiven – Videoplattform Youtube.
Unverhohlene Formulierungen
Der Anstieg geht mit einer „semantischen
Radikalisierung“ einher, das heißt: Dinge, die früher verschämter
geäußert, gleichsam mitgeschmuggelt wurden, können jetzt unverhohlen
geschrieben werden, oftmals in Formulierungen, die in Qualitätsmedien
nicht als zitierfähig gelten – und das alles wiederum in einem Medium,
das bekanntlich nichts vergisst und mutmaßlich länger währt als das
ewige Eis. Zugleich habe sich, so Schwarz-Friesel bei der Präsentation
der Studie, das Sichtbarkeitsfeld antisemitischer Äußerungen „exorbitant
vergrößert“. Die Professorin und ihre Leute widersprechen damit der
geläufigen These der vergangenen Jahre, Antisemitismus befinde sich in
Deutschland auf dem Rückzug. „Das können wir überhaupt nicht bestätigen,
im Gegenteil. Klassische Judenfeindschaft ist nach wie vor die primäre
Basis für alle Antisemitismen, egal ob sie nun von rechts, links, aus
der Mitte oder von Muslimen kommen.“
Um die
Tragweite der Studie einzuschätzen, muss man etwas zu Methodik und
Repräsentativität sagen. Vorgestellt wurde im vollbesetzten Uni-Saal die
zehn Seiten lange Kurzversion, unterstützt von Powerpoint-Statistiken.
Die Langfassung sollte wenige Stunden später im Netz verfügbar sein –
was sie leider nicht war – und wird in dieser Zeitung demnächst im
Detail bewertet.
Die Datenbasis
der Studie, ein internationales Pilotprojekt, ist von einschüchterndem
Umfang. Eigens entworfene „Crawler“, also für Internetsuche geschriebene
Computerprogramme, haben mehr als 66000 Websites durchmustert und mehr
als eine Viertelmillion User-Kommentare durchsucht. Geprüft wurden nicht
nur Onlinemedien und soziale Medien, sondern auch Ratgeberportale und
Diskussionsforen zu Themen wie Judentum in Deutschland, Nahostkonflikt,
Erinnerungskultur, Solidaritätsaktionen und anderen. Um die Unterschiede
zwischen anonymen Äußerungen und mit Namen versehenen Kommentaren
herauszuarbeiten, dienten 20000 E-Mails an die Israelische Botschaft in
Berlin und den Zentralrat der Juden in Deutschland von 2012 bis 2018 als
„Vergleichskorpus“. Eine derart umfangreiche Untersuchung in Raum und
Zeit hat es noch nie gegeben.
Man kann es schreiben, und nichts passiert
Zu den wahrhaft beunruhigenden Funden der
Studie gehört, dass sich die Sprach- und Verunglimpfungsmuster der
historischen und der zeitgenössischen Judenfeindschaft frappierend
ähneln. Antisemitische Klischees wie „Fremde“, „Verschwörer“,
„Wucherer“, „Landräuber“ oder „Kinder- und Christusmörder“ sind durch
die Jahrhunderte weitergereicht worden und erscheinen unrelativiert und
kontextfrei in Netzkommentaren. Man kann dergleichen schreiben, und
nichts passiert. Die AfD wurde in diesem Zusammenhang kaum erwähnt;
aufschlussreicher ist die Verankerung antisemitischen Denkens in linken,
rechten und muslimischen Kreisen allgemein. Für all das wurden zahllose
Türmchen und Prozentzahlen an die Wand geworfen, aber die zu bewerten
muss noch etwas warten.
Auf die
Einordnung kommt es an, und dafür muss man etwas über die Kodierung der
Daten wissen. Also: Wonach genau wird gesucht? Die Studie unterscheidet
zwischen drei Typen: klassisch-antisemitisch,
Post-Holocaust-antisemitisch und israelbezogen-antisemitisch. Der
jüngste Fall der Karikatur des israelischen Premiers Netanjahu, welche
die „Süddeutsche Zeitung“ veröffentlicht hatte, für deren Erscheinen am
Ende aber nur der uneinsichtige Karikaturist zur Rechenschaft gezogen
(und gefeuert) wurde, wäre ein Beispiel für den dritten Typus.
So klare
Diskursfronten, in denen es auch prominente Verteidiger gab, sind jedoch
die Ausnahme. In Netzforen wird anonym dahergebrabbelt, geschimpft und
gehetzt, ohne dass es Folgen hätte, und oft reicht ein Klick, um von der
Diskussions- zur Hassseite zu springen. Die schiere Masse des
anstößigen Materials macht den Gedanken an Reform oder pädagogische
Bemühung von vornherein utopisch. Offenbar reichen Hunderte
Holocaust-Gedenkstätten nicht aus, weil es vielleicht um etwas ganz
anderes geht als Geschichtsbilder und Erinnerungskultur: Dumpfheit,
Unbildung und mangelnde Affektkontrolle. Nicht, dass es ein Trost wäre,
doch dieser Befund gehört wohl zur Signatur des Internetzeitalters.
Fazit: Antisemitismus ist nicht nur
omnipräsent und konsolidiert, er wächst im Netz stetig an (was er
allerdings mit der Pornographie, Online-Datingsites und einigen anderen
Phänomenen gemeinsam hat, vermutlich, weil das Internet immer noch
gleichbedeutend mit besinnungslosem Wachstum ist) und wird obendrein
hässlicher, brutaler und intransigent. Zwischen 2007 und 2017, so die
Studie, hätten antisemitische Äußerungen in den Kommentarbereichen der
Online-Qualitätsmedien – darunter diese Zeitung, „Zeit“, „Welt“, „taz“
und „Süddeutsche Zeitung“ – von 7,5 auf gut dreißig Prozent zugenommen.
Dreißig Prozent von was? Das war noch nicht genau zu erfahren. Den
gebildeteren Schichten attestiert die Studie, sie artikulierten ihren
Judenhass nicht ganz so offen, sondern pseudorational und „in Verbindung
mit Abwehr- und Umdeutungsstrategien“. Auschwitz wird demnach nicht
geleugnet, sondern komplex in das Ich-Bild des gebildeten
Nachkriegsdeutschen und Geschichtsbewältigers eingearbeitet.
Fragen an die
federführende Autorin der Studie wird es sicherlich geben: Ob sie nicht
übertreibe; was man denn jetzt tun solle; ob ihre Definition dessen, was
Antisemitismus sei, genügend Randschärfe habe; und ob ihre Studie nicht
Deutungsmuster der Verdächtigung über alles und jedes lege, mithin
Gefahr laufe, auch nicht-antisemitische, sondern lediglich kritische
Texte zu inkriminieren? Diese Debatte anzustoßen wäre schon ein großes
Verdienst. FAZ
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