Wie viel Freiheit sollen die Feinde der Freiheit genießen? Das ist seit jeher das Dilemma jedes Rechtsstaates: Schränkt er seine Gegner zu früh und zu hart ein, leiden seine Werte. Kommt der Eingriff zu spät, gehen sie jedoch ebenso unter.
Das ist schon so, seit es Rechtsstaaten gibt. Entscheiden musste im Frühjahr 1922 auch Bayerns Innenminister Franz Xaver Schweyer. Der Politiker der christlich-konservativen, nicht unbedingt im heutigen Sinne demokratischen, wohl aber strikt rechtsstaatlichen Bayerischen Volkspartei (BVP), des regionalen Ablegers der katholischen Zentrumspartei, hatte eine schwierige Situation zu bewältigen.
In München nämlich trieben hordenweise Anhänger der NSDAP ihr Unwesen. Sie sprengten Veranstaltungen anderer Parteien, belästigten Passanten, vor allem solche mit „jüdischem Aussehen“, und hetzten die Jugend auf. „Allmählich unerträglich“ werde das Gehabe des Anführers der Gruppe, eines gewissen Hitler, fand der Innenminister.
Es ging um eine wichtige Frage: Sollte Adolf Hitler, der sich aufführte, „als wäre er der Herr der bayerischen Hauptstadt“, aus Bayern ausgewiesen werden? Immerhin war er offiziell als „staatenlos“ registriert, wenn er auch in Wirklichkeit Österreicher war. Eine Abschiebung wäre also möglich.
Die Vertreter der bürgerlichen Parteien stimmten Schweyers Vorschlag zu, ebenso Niekisch. Nur einer widersprach: ausgerechnet der Sozialdemokrat Erhard Auer.
„Er führte demokratische und freiheitliche Grundsätze ins Feld“, erinnerte sich Auers Konkurrent Niekisch von der USPD. Wenn man mit ihnen Ernst machen wolle, könne man den NSDAP-Chef nicht ausweisen. „Hitler sei doch nur eine komische Figur, es sei der Arbeiterschaft ein Leichtes, ihn in die Bedeutungslosigkeit zurückzuschleudern.“
Die Vertreter der anderen Parteien gaben nach; Schweyer bekam keine Zustimmung für sein Vorhaben – und gab es auf: Hitler wurde nicht ausgewiesen. Der Innenminister sah sich sogar gezwungen, wenige Wochen später im Landtag den (zutreffenden) Gerüchten entgegenzutreten, er habe den NSDAP-Chef abschieben wollen.
Ein Hitler-Gegner blieb der BVP-Politiker dennoch. Er verbot den NSDAP-Parteitag in München am 27. Januar 1923, konnte sich aber wiederum nicht durchsetzen. Die Quittung bekam er sofort: Hitler verspottete ihn; der Innenminister müsste wegen „verbrecherischer Schwäche“ vor Gericht gestellt werden.
Auch weitere Versuche, die NSDAP in die Schranken zu weisen, verpufften. Franz Xaver Schweyer erlebte den Beginn des Putsches im Bürgerbräukeller persönlich mit, als Hitler am Abend des 8. November 1923 in den Saal stürmte und eine Versammlung der Regierungsanhänger kaperte, um die „deutsche Revolution“ auszurufen. Ein Unterfangen, das schon am folgenden Mittag endete.
Während noch in München der Prozess gegen den gescheiterten Putschisten Hitler lief, fiel Schweyer einer Parteiintrige zum Opfer: Nach 1072 Tagen im Amt musste er 1924 aus der Regierung ausscheiden.
Der Hass der NSDAP aber blieb ihm, er schrieb weiter gegen Hitler an und attestierte ihm „Größenwahn“. Allerdings erlag er einem entscheidenden Irrtum: „Der Nationalsozialismus hat durch den Misserfolg im Jahr 1923 seine Anziehungskraft verloren und wird diese aller Voraussicht nach kaum wiedergewinnen“, schrieb er 1929 im renommierten „Staatslexikon“.
Es kam anders, und Schweyer büßte: Am 5. Juli 1933 wurde er von einem SA-Kommando verschleppt und gefoltert. Der „Völkische Beobachter“ drohte ganz offen, man werde nun „das ganze Sündenregister dieses Hinterhältigsten der Feinde der deutschen Freiheitsbewegung“ aufrollen.
Und Auer starb, zehn Jahre nach Schweyer, im März 1945 an den Folgen der Qualen, die ihm in KZ-Haft angetan worden waren. WeLT
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