Stationen

Sonntag, 8. Juli 2018

Wann kommt Stuttgart wieder zur Vernunft?

Ich habe in den siebziger Jahren eine Zeit lang in Stuttgart gelebt, jene Stadt mit der offenbar gefährlichsten Luft in Deutschland. Damals war die Luft sogar noch gefährlicher als heute. In Untertürkheim beim „Daimler“ purzelten absolut partikelfilterfreie Mercedes-Diesel-Limousinen vom Band, so temperamentvoll und feinstaubend wie ein Mähdrescher und in Geruch und Abgang einer Gauloise verwandt. Der Rauch der damals beliebten filterlosen französischen Zigarette wurde durch das Maispapier, mit dem die Zigaretten gedreht waren, noch einmal verstärkt. Meine damalige Stammkneipe, ein Spanier, war nicht weit vom berüchtigten Neckartor gelegen und verfügte über eine Terrasse in unmittelbarer Nähe einer vierspurigen Durchgangsstraße. Stinkende Gauloises und vorbeinagelnde Mähdrescher prägten die olfaktorische und akustische Kulisse. Wem das noch nicht gefährlich genug war, der orderte aus der Küche ein paar verbrannte Tintenfischringe. Nach heutigen Maßstäben hätten wir sofort vom Barhocker fallen müssen, was mitunter auch geschah, aber aus anderen Gründen und meist erst nach 24 Uhr.
Neulich, auf einem Oldtimertreffen, drang der Geruch eines alten Strich-Acht-Mercedes-Diesel an meine Nasenschleimhäute, und ich fühlte mich sofort 30 Jahre jünger. Ein kleines medizinisches Wunder, das sich aber wissenschaftlich begründen lässt. Hanns Hatt, Professor für Zell-Biologie an der Universität Bochum und der deutsche „Geruchspapst“ schlechthin, sagt: „Lange war das Riechen von Wissenschaftlern und Philosophen als animalischer, triebhafter Sinn und als chemische Informationsquelle ohne Geist vernachlässigt worden“. Doch das habe sich inzwischen geändert: „Tatsächlich können Düfte uns stimulieren oder entspannen, erfrischen und freudig erregen oder auch manipulieren, vor allem aber sind Düfte Glücksboten."
Ich roch also diesen alten Daimler, und sofort stieg das Glück in mir auf. Ich schmeckte verbrannte Tintenfischringe, spanischen Rotwein aus der Dreiliterflasche, qualmende Gauloises und das billige Heizöl, mit dem wir unseren Diesel des Nachts in der Garage befüllten. Aber der Fortschritt ist unaufhaltsam, in Stuttgart rücken die Fahrverbote näher, und die grünen Träume von unbefleckter ökologischer Reinheit werden endlich wahr. Und neue Zeiten werden von neuen Geruchserlebnissen begleitet.
Stuttgarts junge Leute von heute dürften sich dann in 30 Jahren begeistert an ihre Jugend erinnern, wenn der Geruch eines alten Fahrradsattels ihr Gemüt betört. Drei Kilometer Neue Weinsteige bergauf mit dem Lastenfahrrad, das ergibt einen unvergleichlichen Hautgout. Für die Nicht-Franzosen dazu ein bisschen sprachliche Nachhilfe bei Wikipedia: „Als Hautgout bezeichnet man in der Küchensprache den süßlichen, strengen und intensiven Geruch und Geschmack von überlang oder zu warm abgehangenem Wild oder auch anderen Fleischarten wie Rind- oder Lamm- und Hammelfleisch.“ 
Soviel zum Glücksgefühl für das späte 21. Jahrhundert in der Hometown of the Juchtenkäfer.

Kann denn Pollenflug böse sein?

Doch nun droht diesem stillen Glück ein furchtbares Ungemach. Nachdem teilweise imaginierte Juchtenkäfer den Bau des Stuttgarter Hauptbahnhofs erfolgreich blockierten, erweisen sich nun auch die Stuttgarter Feinstaubwerte als flüchtig. „Die zuständige Landesanstalt hat Feinstaub-Messergebnisse am Stuttgarter Neckartor zurückgenommen. Verstärkter Pollenflug könnte zu verfälschten Ergebnissen geführt haben“, berichtet der SWR. Womöglich müssten Werte nach unten korrigiert werden. "Die Intensität des Pollenflugs hat uns alle überrascht", erklärte der Stuttgarter Stadtklimatologe Rainer Kapp. Die Stuttgarter Luft könnte also auf wundersame Weise genesen, wobei sich natürlich ein paar delikate neue Fragen ergeben.
Zum Beispiel: Kann denn Pollenflug böse sein? Als Diesel unter den Bäumen tat sich in diesem Jahr mengenmäßig die Fichte hervor, die Birke zeichnete sich hingegen durch besonders gesundheitsgefährdende Umtriebe aus. Ein Aufenthalt in blühender Vegetation oder gar in den eigenen vier Wänden ist jedenfalls eine verdammt riskante Angelegenheit: Etwa jeder fünfte Deutsche hat zumindest zeitweise mit Heuschnupfen zu kämpfen – Tendenz seit Jahren steigend. Navigator-Medizin schreibt: „Wobei hier auch der allergische Schnupfen mit hinzugerechnet wird, der nicht auf Pollen, sondern zum Beispiel auf eine Hausstauballergie zurückzuführen ist“. Der bekannte ökologische Visionär Ronald Reagan stellte bereits 1980 fest: „Bäume verursachen mehr Luftverschmutzung als Autos“. Das kam damals ungefähr so gut an wie heute ein Trump-Tweet zum Klima („Vielleicht könnten wir ein bisschen von dieser guten alten Erderwärmung gebrauchen“).
Was tun? Der gefährlichen Pollenflug-Problematik könnte Stuttgart wirksam durch ein allgemeines-Baumfäll-Gebot begegnen, wobei allerdings der geschützte Juchtenkäfer im Wege steht, der diese Bäume besetzt hat. Schwierige Lage, vielleicht könnte man die Juchtenkäfer in einer feuchten Bodenmatte von Diesel-Fahrzeugen ansiedeln, einem Habitat, sehr ähnlich dem zwischen Baum und Borke. Dann könnten die Diesel nicht mehr abgesägt werden und die Juchtenkäfer kämen schneller zur Arbeit.
Das Auto ist ja bekanntermaßen ein Hort des Artenschutzes. Bei einer Bestandsaufnahme in Frankfurt stellte sich jedenfalls einmal ein Gebrauchtwagenmarkt an der Borsigallee als wertvollstes Insektenbiotop der Mainmetropole heraus. Den zweiten Platz verdient, da bin ich mir ganz sicher, die Küche meiner spanischen Stammkneipe am Stuttgarter Neckartor.   Maxeiner

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