Es ist ein ewiger Streit, und er hat mit der Grenze der Bretagne am
Fluß Couesnon zu tun. Der Konflikt entzündet sich an der Frage, ob der
Mont-Saint-Michel zur Normandie oder eben zur Bretagne gehört. Manche
Verlage behelfen sich damit, daß sie den berühmten Berg des Erzengels in
den Reiseführern der einen wie der anderen Region behandeln. Was
verständlich ist. Denn aus der Sicht der Tourismusbranche geht es vor
allem darum, noch mehr als die drei Millionen Besucher anzulocken, die
den Mont-Saint-Michel heute schon jährlich besuchen.
Als sich die ersten Mönche im 8. Jahrhundert auf dem kleinen Eiland
ansiedelten, das durch eine große Flut vom Festland abgerissen worden
war, gab es noch keine Normannen und kein Frankreich und das Interesse
an diesem Abschnitt der Kanalküste war eher gering. Das änderte sich,
nachdem Michael drei Mal dem Heiligen Aubert erschienen war und von ihm
die Errichtung eines Klosters verlangt hatte.
Da Aubert zögerte, drückte ihm der Engel als Mahnung ein kreisrundes
Loch in den Schädel. Wer daran zweifelt, kann sich persönlich
überzeugen. Allerdings nicht auf dem Mont, sondern in der Kirche
Saint-Gervais der kleinen Stadt Avranches, die dem Inselberg gegenüber
an der Küste liegt. Dorthin wurden nach der Aufhebung des Klosters im
Gefolge der Französischen Revolution alle verbliebenen Gegenstände
gebracht.
Es handelte sich nur noch um einen traurigen Rest der einstmals
reichen Ausstattung, denn der Mont-Saint-Michel gehörte zu den
wichtigsten Abteien und Pilgerzielen Frankreichs, und er war
gleichzeitig Festungsanlage, von Bedeutung sowohl im Hundertjährigen
Krieg wie während der Hugenottenkriege. Seine Unbezwingbarkeit galt als
Symbol der Unbezwingbarkeit Frankreichs und als Beweis dafür, daß St.
Michael der „Beschützer Frankreichs“ sei.
Diese ausgezeichnete Stellung des Erzengels war das Ergebnis einer
längeren Entwicklung, die im Hochmittelalter einsetzte, aber im Grunde
bis auf die Zeit der Christianisierung zurückreichte. Denn die Verehrung
Michaels war im Westen lange unbekannt und kam erst mit der Gründung
des Klosters auf dem Monte Gargano 491 in Gang.
Dieser andere Berg des Heiligen Michael im Süden Italiens wurde rasch
zum bevorzugten Wallfahrtsort der Normannen. Die waren zwar nur mit
Mühe zu taufen gewesen, legten dann aber eine bemerkenswerte Frömmigkeit
an den Tag. Die behielt indes eine besondere Färbung durch den bleibend
kriegerischen Charakter der Normannen, der wiederum die Sympathie für
Michael, den Drachentöter und Kommandanten der Himmlischen Heerscharen,
erklärt.
Es spricht außerdem viel dafür, daß Michael an die Stelle älterer
heidnischer Götter trat, vor allem dann, wenn die ihm gewidmeten
Kapellen und Kirchen auf Bergen errichtet wurden, die wie der
Mont-Saint-Michel seit alters heilige Plätze waren. Ein Hinweis, der in
Deutschland aus Gründen historischer wie theologischer "Korrektheit"
ungern gehört wird, weil man sich bloß mit Unbehagen daran erinnert, daß
Michael weiland als „Kriegsgott der Deutschen“ gepriesen worden war und
sich die Behauptung, daß der Erzengel im Weltbild der Germanen Odin
oder Wotan ablöste, schon bei Jacob Grimm findet, dann aber auch in den
Köpfen aller möglichen völkischen Neuheiden herumspukte.
Solche Vorbehalte kennt man in Frankreich nicht. Wer durch das Museum
in Avranches geht, das die Handschriften des Mont-Saint-Michel
beherbergt, wird auf den erläuternden Tafeln ganz selbstverständlich den
Hinweis finden, daß sich die Popularität des Erzengels wohl daraus
erklärte, daß er keltische oder gallo-römische oder germanische Kriegs-
und Sturmgötter ersetzt habe. Was auch recht gut erklärt, warum die
wichtigsten Michaelsheiligtümer des Mittelalters in den Gebieten der
Langobarden, Angelsachsen und Normannen lagen.
Ganz unwidersprochen wird das der geschichtsstolze Bretone nicht
lassen, sondern seinerseits darauf hinweisen, daß einer alten Legende
nach, die Bretagne selbst aus dem Leib des von Michael erschlagenen
Drachen geformt wurde, und zu den sieben heiligen Anhöhen des alten
Armorika neben dem Mont Dol, dem Menez Bel-Air, dem Menez Bré, dem Mané
Gwen und dem Ménez-Hom auch der kleine oder Mont Saint-Michel de
Brasparts und eben der große Mont-Saint-Michel gehörten. Teil 1
Tréguier ist etwas wie eine bretonische Bilderbuchstadt. Für mich die
schönste neben Quimper, geprägt vom Mittelalter: Steinhäuser aus
Granit, Fachwerkbauten, enge Gassen und Kirchen als Zeugnis bretonischer
Frömmigkeit. Ernest Renan (1823-1892), der berühmteste Sohn der Stadt,
ist in dieser Atmosphäre groß geworden, er sprach davon, daß ganz
Tréguier wie „ein großes Kloster“ gewirkt habe. Sein Geburtshaus steht
noch in der Mitte der Stadt, in einiger Entfernung das Denkmal, das
seine Mitbürger ihm zu Ehren errichtet haben.
Renan hatte nach eigenem Bekenntnis eine arme doch glückliche
Kindheit. Früh wurde er zum Priester bestimmt und bezog die kirchliche
Schule, zeichnete sich durch seine Geistesgaben aus und lebte doch ganz
selbstverständlich in den naiven Glaubensvorstellungen der Landschaft um
Tréguier, die man „minihiy“ nannte. Aus seinen Jugenderinnerungen
erfährt man etwa, mit welcher Inbrunst der kleine Ernest und seine
Kameraden überzeugt waren, daß zu Ostern die Glocken der Kathedrale des
Heiligen Tugdual nach Rom flögen.
Der Glaube ist Renan zerbrochen. Während seines Studiums in Paris kam
er mit den Ergebnissen der in Deutschland entwickelten
historisch-kritischen Methode der Bibelexegese in Berührung, zweifelte
immer stärker am Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift und dann
auch an den dogmatischen Lehraussagen der katholischen Kirche. Aber
damit nicht genug. Er verließ das Seminar und veröffentlichte später das
Buch „La vie de Jésus“ – „Das Leben Jesu“ (1863), in dem der Stifter
des Christentums rein menschlich geschildert und rein historisch
gedeutet wurde, nicht ohne Respekt, aber doch mit einer deutlich
erkennbaren Reserve.
An die Stelle des christlichen Glaubens trat für Renan der an die
Wissenschaft, den Fortschritt und die Gleichheit. Er war das, was man im
19. Jahrhundert einen liberalen „Doktrinär“ nannte. Allerdings kamen
ihm schneller als den meisten Zweifel an der Wirklichkeitstauglichkeit
seiner neuen Überzeugung. Der chaotische Verlauf der Revolution von
1848, die drohende Machtübernahme der Radikalen einerseits, die
Bereitwilligkeit des Bürgertums, sich einem „starken Mann“ – Napoleon
III. – zu unterwerfen, andererseits, führten zu wachsender Skepsis
gegenüber den Ideen der Zeit.
Eine Revision vollzog Renan allerdings erst nach der Niederlage
Frankreichs im Krieg gegen Preußen und dessen Verbündete 1871. Er, der
mit solcher Leidenschaft die deutsche Kultur bewunderte – man sprach
abschätzig von „Renanismus“ –, sah mit großem Schmerz den Zusammenbruch
des Vaterlandes und fragte nach dessen Gründen.
Unmittelbar nach Kriegsende veröffentlichte Renan das Buch „La
réforme intellectuelle et morale de la France“ – „Die geistige und
moralische Reform Frankreichs“, das in der Öffentlichkeit eine ungeheure
Wirkung auslöste. Denn Renan behauptete, daß die tieferen Ursachen für
die militärische Katastrophe in der Französischen Revolution zu suchen
seien. Nicht das Versagen einzelner Offiziere, Verräterei oder Zufall –
die beliebtesten Erklärungen –, sondern eine langfristige,
kontinuierliche Abwärtsentwicklung seit 1789 habe letztlich den
Untergang bewirkt.
Die Führungsschicht der neuen, der Dritten Republik, reagierte darauf
mit Empörung, wenngleich man in der Sache wenig vorzubringen hatte. Das
betraf etwa die Feststellung Renans, daß es Frankreich seit dem Ende
des Ancien Régime nicht mehr gelungen war, eine stabile Regierungsform
aufzubauen, daß es mit kriegerischen Unternehmungen regelmäßig
scheiterte und sich ganz offenbar außerstande sah, eine brauchbare Elite
hervorzubringen.
Das hatte nach Renan damit zu tun, daß die Französische Revolution
weniger ein Klassen- als vielmehr ein Rassenkampf gewesen war. Eine
Vorstellung, die er nicht als erster vertrat. Eine ganze Reihe
französischer Historiker war überzeugt, daß sich mit dem Sturm auf die
Bastille die Nachfahren der keltischen (gallischen) Ureinwohner des
Landes gegen die Nachfahren der germanischen (fränkischen) Eroberer
erhoben hatten.
Nur wertete man diesen Vorgang gewöhnlich positiv, während Renan die
Vertreibung oder Ausrottung des Adels für eine nationale Formschwäche
verantwortlich machte, die auch die Niederlage von 1871 zur Folge hatte.
Als jemand, der auf seine bretonische und mithin keltische Herkunft
stolz war, betonte er doch die chaotischen Neigungen der „keltischen
Seele“, die ohne das germanische Element nie zu einer echten Ordnung
finden könne.
Von Charles de Gaulle heißt es, daß er als Präsident stets ein Exemplar der „Réforme“ auf dem Nachttisch liegen hatte. Karlheinz Weißmann
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