Stationen

Freitag, 6. Juli 2018

Bretonische Skizzen

Es ist ein ewiger Streit, und er hat mit der Grenze der Bretagne am Fluß Couesnon zu tun. Der Konflikt entzündet sich an der Frage, ob der Mont-Saint-Michel zur Normandie oder eben zur Bretagne gehört. Manche Verlage behelfen sich damit, daß sie den berühmten Berg des Erzengels in den Reiseführern der einen wie der anderen Region behandeln. Was verständlich ist. Denn aus der Sicht der Tourismusbranche geht es vor allem darum, noch mehr als die drei Millionen Besucher anzulocken, die den Mont-Saint-Michel heute schon jährlich besuchen.
Als sich die ersten Mönche im 8. Jahrhundert auf dem kleinen Eiland ansiedelten, das durch eine große Flut vom Festland abgerissen worden war, gab es noch keine Normannen und kein Frankreich und das Interesse an diesem Abschnitt der Kanalküste war eher gering. Das änderte sich, nachdem Michael drei Mal dem Heiligen Aubert erschienen war und von ihm die Errichtung eines Klosters verlangt hatte.
Da Aubert zögerte, drückte ihm der Engel als Mahnung ein kreisrundes Loch in den Schädel. Wer daran zweifelt, kann sich persönlich überzeugen. Allerdings nicht auf dem Mont, sondern in der Kirche Saint-Gervais der kleinen Stadt Avranches, die dem Inselberg gegenüber an der Küste liegt. Dorthin wurden nach der Aufhebung des Klosters im Gefolge der Französischen Revolution alle verbliebenen Gegenstände gebracht.
Es handelte sich nur noch um einen traurigen Rest der einstmals reichen Ausstattung, denn der Mont-Saint-Michel gehörte zu den wichtigsten Abteien und Pilgerzielen Frankreichs, und er war gleichzeitig Festungsanlage, von Bedeutung sowohl im Hundertjährigen Krieg wie während der Hugenottenkriege. Seine Unbezwingbarkeit galt als Symbol der Unbezwingbarkeit Frankreichs und als Beweis dafür, daß St. Michael der „Beschützer Frankreichs“ sei.

Diese ausgezeichnete Stellung des Erzengels war das Ergebnis einer längeren Entwicklung, die im Hochmittelalter einsetzte, aber im Grunde bis auf die Zeit der Christianisierung zurückreichte. Denn die Verehrung Michaels war im Westen lange unbekannt und kam erst mit der Gründung des Klosters auf dem Monte Gargano 491 in Gang.
Dieser andere Berg des Heiligen Michael im Süden Italiens wurde rasch zum bevorzugten Wallfahrtsort der Normannen. Die waren zwar nur mit Mühe zu taufen gewesen, legten dann aber eine bemerkenswerte Frömmigkeit an den Tag. Die behielt indes eine besondere Färbung durch den bleibend kriegerischen Charakter der Normannen, der wiederum die Sympathie für Michael, den Drachentöter und Kommandanten der Himmlischen Heerscharen, erklärt.

Es spricht außerdem viel dafür, daß Michael an die Stelle älterer heidnischer Götter trat, vor allem dann, wenn die ihm gewidmeten Kapellen und Kirchen auf Bergen errichtet wurden, die wie der Mont-Saint-Michel seit alters heilige Plätze waren. Ein Hinweis, der in Deutschland aus Gründen historischer wie theologischer "Korrektheit" ungern gehört wird, weil man sich bloß mit Unbehagen daran erinnert, daß Michael weiland als „Kriegsgott der Deutschen“ gepriesen worden war und sich die Behauptung, daß der Erzengel im Weltbild der Germanen Odin oder Wotan ablöste, schon bei Jacob Grimm findet, dann aber auch in den Köpfen aller möglichen völkischen Neuheiden herumspukte.
Solche Vorbehalte kennt man in Frankreich nicht. Wer durch das Museum in Avranches geht, das die Handschriften des Mont-Saint-Michel beherbergt, wird auf den erläuternden Tafeln ganz selbstverständlich den Hinweis finden, daß sich die Popularität des Erzengels wohl daraus erklärte, daß er keltische oder gallo-römische oder germanische Kriegs- und Sturmgötter ersetzt habe. Was auch recht gut erklärt, warum die wichtigsten Michaelsheiligtümer des Mittelalters in den Gebieten der Langobarden, Angelsachsen und Normannen lagen.
Ganz unwidersprochen wird das der geschichtsstolze Bretone nicht lassen, sondern seinerseits darauf hinweisen, daß einer alten Legende nach, die Bretagne selbst aus dem Leib des von Michael erschlagenen Drachen geformt wurde, und zu den sieben heiligen Anhöhen des alten Armorika neben dem Mont Dol, dem Menez Bel-Air, dem Menez Bré, dem Mané Gwen und dem Ménez-Hom auch der kleine oder Mont Saint-Michel de Brasparts und eben der große Mont-Saint-Michel gehörten.   Teil 1

Tréguier ist etwas wie eine bretonische Bilderbuchstadt. Für mich die schönste neben Quimper, geprägt vom Mittelalter: Steinhäuser aus Granit, Fachwerkbauten, enge Gassen und Kirchen als Zeugnis bretonischer Frömmigkeit. Ernest Renan (1823-1892), der berühmteste Sohn der Stadt, ist in dieser Atmosphäre groß geworden, er sprach davon, daß ganz Tréguier wie „ein großes Kloster“ gewirkt habe. Sein Geburtshaus steht noch in der Mitte der Stadt, in einiger Entfernung das Denkmal, das seine Mitbürger ihm zu Ehren errichtet haben.
Renan hatte nach eigenem Bekenntnis eine arme doch glückliche Kindheit. Früh wurde er zum Priester bestimmt und bezog die kirchliche Schule, zeichnete sich durch seine Geistesgaben aus und lebte doch ganz selbstverständlich in den naiven Glaubensvorstellungen der Landschaft um Tréguier, die man „minihiy“ nannte. Aus seinen Jugenderinnerungen erfährt man etwa, mit welcher Inbrunst der kleine Ernest und seine Kameraden überzeugt waren, daß zu Ostern die Glocken der Kathedrale des Heiligen Tugdual nach Rom flögen.
Der Glaube ist Renan zerbrochen. Während seines Studiums in Paris kam er mit den Ergebnissen der in Deutschland entwickelten historisch-kritischen Methode der Bibelexegese in Berührung, zweifelte immer stärker am Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift und dann auch an den dogmatischen Lehraussagen der katholischen Kirche. Aber damit nicht genug. Er verließ das Seminar und veröffentlichte später das Buch „La vie de Jésus“ – „Das Leben Jesu“ (1863), in dem der Stifter des Christentums rein menschlich geschildert und rein historisch gedeutet wurde, nicht ohne Respekt, aber doch mit einer deutlich erkennbaren Reserve.

An die Stelle des christlichen Glaubens trat für Renan der an die Wissenschaft, den Fortschritt und die Gleichheit. Er war das, was man im 19. Jahrhundert einen liberalen „Doktrinär“ nannte. Allerdings kamen ihm schneller als den meisten Zweifel an der Wirklichkeitstauglichkeit seiner neuen Überzeugung. Der chaotische Verlauf der Revolution von 1848, die drohende Machtübernahme der Radikalen einerseits, die Bereitwilligkeit des Bürgertums, sich einem „starken Mann“ – Napoleon III. – zu unterwerfen, andererseits, führten zu wachsender Skepsis gegenüber den Ideen der Zeit.
Eine Revision vollzog Renan allerdings erst nach der Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Preußen und dessen Verbündete 1871. Er, der mit solcher Leidenschaft die deutsche Kultur bewunderte – man sprach abschätzig von „Renanismus“ –, sah mit großem Schmerz den Zusammenbruch des Vaterlandes und fragte nach dessen Gründen.
Unmittelbar nach Kriegsende veröffentlichte Renan das Buch „La réforme intellectuelle et morale de la France“ – „Die geistige und moralische Reform Frankreichs“, das in der Öffentlichkeit eine ungeheure Wirkung auslöste. Denn Renan behauptete, daß die tieferen Ursachen für die militärische Katastrophe in der Französischen Revolution zu suchen seien. Nicht das Versagen einzelner Offiziere, Verräterei oder Zufall – die beliebtesten Erklärungen –, sondern eine langfristige, kontinuierliche Abwärtsentwicklung seit 1789 habe letztlich den Untergang bewirkt.

Die Führungsschicht der neuen, der Dritten Republik, reagierte darauf mit Empörung, wenngleich man in der Sache wenig vorzubringen hatte. Das betraf etwa die Feststellung Renans, daß es Frankreich seit dem Ende des Ancien Régime nicht mehr gelungen war, eine stabile Regierungsform aufzubauen, daß es mit kriegerischen Unternehmungen regelmäßig scheiterte und sich ganz offenbar außerstande sah, eine brauchbare Elite hervorzubringen.
Das hatte nach Renan damit zu tun, daß die Französische Revolution weniger ein Klassen- als vielmehr ein Rassenkampf gewesen war. Eine Vorstellung, die er nicht als erster vertrat. Eine ganze Reihe französischer Historiker war überzeugt, daß sich mit dem Sturm auf die Bastille die Nachfahren der keltischen (gallischen) Ureinwohner des Landes gegen die Nachfahren der germanischen (fränkischen) Eroberer erhoben hatten.
Nur wertete man diesen Vorgang gewöhnlich positiv, während Renan die Vertreibung oder Ausrottung des Adels für eine nationale Formschwäche verantwortlich machte, die auch die Niederlage von 1871 zur Folge hatte. Als jemand, der auf seine bretonische und mithin keltische Herkunft stolz war, betonte er doch die chaotischen Neigungen der „keltischen Seele“, die ohne das germanische Element nie zu einer echten Ordnung finden könne.
Von Charles de Gaulle heißt es, daß er als Präsident stets ein Exemplar der „Réforme“ auf dem Nachttisch liegen hatte.   Karlheinz Weißmann



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