... Wagner "durch den Wolf des Feminismus drehen", das ist kaum mehr als
ein update des bekannten "Eulen nach Athen tragen". Wenn man den
marxistischen Bibelsatz beim Worte nimmt, dass sich der Grad der
gesellschaftlichen Emanzipation am Grad der Emanzipation der Frau
offenbare, steht Wagner zumindest als ein Prä- oder Protofeminist vor
uns. Seine großen Frauenfiguren brechen radikal mit allen Konventionen.
Das beginnt mit Senta, die zwar weder primär noch "partout aus der
patriarchalischen Welt des Vaters raus", sondern zuvörderst den Ahasver
der Meere von jenem Fluch erretten will, den ihm der (oder die?)
Leibhaftige aufbürdete, aber da die wenigsten Weiber heutzutage noch
einen echten fliegenden Holländer kennenlernen, geht diese Deutung schon
in Ordnung. Exakt jenem Muster folgt auch Elisabeth, die Tochter des
Landgrafen im "Tannhäuser", die ebenfalls ihren sozialen Käfig
zerbricht, um die Titelfigur vor ewiger Verdammnis zu retten. (Dass bei
Wagner die Männer immer von den Frauen "erlöst" werden müssen, hängt
damit zusammen, dass er nur einssechzig groß war, aber solche
Kathedralen tonsetzen konnte.) Die Isolde der Überlieferung, eine eher
passive und sogar grausame Gestalt – sie schiebt ihre Dienerin Brangäne
in der Brautnacht dem Marke unter und lässt sie danach als Zeugin
beseitigen –, emanzipiert Wagner zur selbstbestimmt handelnden Hohen
Frau. Sieglinde emanzipiert er zum Bruch ihrer Zwangsehe, Brünnhilde zur
Auflehnung gegen Göttervater Wotan. Am Ende der "Götterdämmerung" ist
es bezeichnenderweise das Wotanskind und "wissend" gewordene Weib, das
den Nekrolog auf die untergehende alte Welt hält. "Meine ganze Politik
ist nichts weiter als der blutigste Haß unsrer ganzen Civilisation,
Verachtung alles dessen, was ihr entsprießt, und Sehnsucht nach der
Natur", notierte der Dichterkomponist im Dezember 1851, "nur die
furchtbarste und zerstörendste Revolution kann aus unsern civilisirten
Bestien wieder ‚Menschen’ machen".
Die revolutionäre Befreiung zum
Natürlichen ist bei Wagner ohne die Befreiung der Liebe aus den Banden
der bürgerlichen Konventionen nicht zu haben. Nahezu jedes seiner Werke
preist die freie Liebe. Im ersten Akt der 1870 uraufgeführten "Walküre"
setzte der Revoluzzer seinem bürgerlichen Publikum den
leidenschaftlichen Inzest eines Geschwisterpaares vor; dagegen sind die
angeblichen Bürgerschrecks des Regietheaters bräsige Konformisten (mal
ganz davon abgesehen, dass Wagner 1848 tatsächlich auf den Barrikaden
gestanden hatte). Immer sind Wagners weibliche Figuren ihren männlichen
Pendants geistig-sittlich mindestens ebenbürtig. "Ich bin nur
Brünnhildes Arm", versichert Siegfried. Dasselbe könnte im "Lohengrin"
Graf Telramund von sich sagen, der wie eine Marionette am Willen der
dämonischen Ortrud hängt. Dasselbe müsste sogar Wotan von sich sagen,
der Obergott, der von wem dominiert wird? Natürlich von seinem Weib
Fricka, als Vollstreckerin "heil’ger Verträge" (neudeutsch:
struktureller Gewalt, also männlich konstruiert, aber immerhin...) Und
sogar die eher schlichte Eva aus den "Meistersingern" schreibt in ihr
Parship-Profil, die Altersobergrenze der Freier betreffend:
"Ei was, zu alt! Hier gilt’s der Kunst:
Wer sie versteht, der werb’ um mich!"
(Wer nicht, der nicht; bitter für Brembeck.)
All
diesen Frauenzimmern eignet, mit der schönen Formulierung Thomas Manns,
"ein Zug von Edelhysterie". Wagners Frauenfiguren sind psychisch
hochproblematisch, bis zum Starrsinn selbstbewusst, auf beängstigende
Weise opferbereit, Emanzen, Blaustrümpfe, Mannweiber. Der letzte Essay,
den Wagner schrieb und über dem er starb, trägt übrigens den Titel "Über
das Weibliche im Menschen", der letzte Satz, den er zu Papier brachte,
lautete: "Gleichwohl geht der Prozeß der Emanzipation des Weibes nur
unter ekstatischen Zuckungen vor sich." Man würde Wagner nicht
sonderlich fehlinterpretieren, wenn man ihn als Frauengleichsteller und
im Jahrhundert fehlgegangenen 68er bezeichnete. Der scharfsichtige
Nietzsche witterte übrigens schon, worauf das alles einmal hinauslaufen
werde: "Haben Sie bemerkt, dass die Wagnerischen Heldinnen keine Kinder
bekommen? Sie können’s nicht... Siegfried ‚emancipirt das Weib’ – doch
ohne Hoffnung auf Nachkommenschaft."... MK am 26. 7.
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