Stationen

Samstag, 7. Juli 2018

Der Stoff, der unsere Träume zerstört

Auf die Formel C19H28O2 lässt sich ein großer Teil der deutschen Politik bringen. Darüber wissen und geben ausgewiesene Gesellschaftschemiker der Grünen wie der Medien Bescheid, selbst wenn ihnen das Kürzel oben auf die Schnelle nichts sagen sollte. Es handelt sich nämlich um die Summenformel von Testosteron, dem Stoff also, ohne den es Horst Seehofer, Markus Söder und den Masterplan gar nicht gäbe. Von der zusätzlich nach 16S (Sulfur, Schwefel) stinkenden Partei einmal ganz abgesehen.

Testosteron  gehört zu den Sexualhormonen, es kommt bei männlichen und weiblichen Tieren und bei Männern und Frauen in unterschiedlicher Stärke vor. Ein hoher Testosteronspiegel fördert Barthaarwuchs, leider aber auch Kopfhaarausfall, Aggressivität, aber auch, je nach Perspektive, Entschlussfreude. Von dem Hormon allein hängt bei Menschen relativ wenig ab; seine Wirkung ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel mit anderen Hormonen – etwa Cortisol – und einer ganzen Reihe von seelischen und sozialen Bedingungen. Bemerkenswerterweise, jedenfalls legt das eine Untersuchung der Universität Bonn nahe, lügen Männer mit höherem Testosteron im Schnitt weniger als Geschlechtsgenossen mit einem niedrigeren C19H28O2-Spiegel.
Solche komplizierten Darlegungen sind natürlich nichts für Qualitätsmedien und Qualitätspolitiker. Beide Milieus bestehen zwar darauf, dass einfache Erklärungen immer die falschen sind, aber das gilt selbstredend nur für die einfachen Erklärungen, die andere Leute abgeben. In der fast vergangenen Woche stand für die meisten Grünen-Politiker und Angehörigen des Berliner Kommentariats fest, wer oder vielmehr was schuld war an die Regierungskrise: das Testosteron, der Stoff des Bösen.
„Was ist da nur los mit diesen ganzen testosterongesteuerten Männern in Bayern?“, fragte die Klima-, Hormon- und Frauenkirchenexpertin Katrin Göring-Eckardt am vergangenen Sonntag bei „Anne Will“, als um 22.47 die etwas voreilige Meldung über Seehofers Rücktritt in die Runde gereicht wurde.
„Bei der CSU regieren Ego und Testosteron“, fand Anton Hofreiter – ein Missstand, der bei den Grünen nie vorstellbar war, da sei Joseph Fischer vor.
„Politik nach persönlichem Hormonhaushalt“ diagnostizierte auch Tagesschau-Chefredakteur Kai Gniffke in seinem Kommentar über den Seehofer-Rücktritt. Immerhin stimmte in Gniffkes Monolog die Feststellung, dass CSU-Politiker über einen Hormonhaushalt verfügen.
Im Vollgefühl der „Seehofer-ist-weg“-Sondermeldung tippte die „Welt“-Feuilletonredakteurin Hannah Lühmann eine Art Siegeserklärung gegen das Testosteron herunter:
„Wie die Kanzlerin einen Mann nach dem anderen dazu bringt, sich vor den Augen der Welt selbst zu zerlegen, ist grandios. Warum ist sie nicht längst eine Ikone des neuen Feminismus?“
Denn:
Merkel ist eben keines von diesen wildschweinhaften Machttieren, die sich gegenseitig in ihren Volten und Finten zu überbieten suchen. Sich in der Sache auskennend, lässt sie die Männer sich in ihr Unheil verstricken, ohne mit der Wimper zu zucken. Und aus diesem Grund übernehme ich jetzt einfach mal die Rolle des kritiklosen Fans: Danke, Angela Merkel!“
Wobei kritisch-skrupulöse Kanzlerinnenfans ja generell selten und unter berlinmittigen Medienschaffenden praktisch nie vorkommen, aber das nur nebenbei. Und noch ein Warnhinweis an die Leser und vor allem Schreiber: Wenn Sie ihrerseits Grünenpolitikerinnen und Feuilletonredakteurinnen kritisieren möchten, dann meiden Sie in jedem Fall  hormonbasierte Erklärungen, denken Sie noch nicht einmal an ein Wort wie „Östrogenrausch“ und benutzen Sie auf keinen Fall Tiervergleiche. Don’t try this at home! Anderenfalls handeln Sie sich lange, lange Hashtag-Debatten über Alltagssexismus und Biologismus und brandneue, mit keinem Steuergeld der Welt zu befriedigende Kampfvereine sonder Zahl ein.

Um auf Hannah Lühmann zurückzukommen: „Sich in der Sache auskennend.“ Das ist kein schlechtes Stichwort. Vor kurzem hielt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier in Frauenchiemsee einen Vortrag über Migration, Verfassung und Völkerrecht, der es kaum in die Medien schaffte, vermutlich auch deshalb, weil Erörterungen dieser Art als zu dröge für Feuilletons und ARD-Plauderrunden gelten. Außerdem steht Papier natürlich unter Hormonverdacht. Trotzdem hier die schon einmal auf Publico zitiert zentrale Sätze des Vortrags:

„Unter rechtlichen Gesichtspunkten ist festzuhalten, dass es weder nach deutschem Verfassungs- und Verwaltungsrecht noch nach europäischem Recht noch nach dem Völkerrecht für Nicht-EU-Ausländer ein vorbehaltloses Recht auf Einreise in das und auf Aufenthalt im Bundesgebiet gibt. Ein vorbehaltloses Recht auf Aufnahme in der Europäischen Union zum Zwecke der Durchführung eines – von vornherein aussichtslosen – Asylverfahrens besteht ebenfalls nicht. Es gibt ein solches individuelles Menschenrecht auf einen Aufenthalt und auf ein Leben in einem fremden Staat der eigenen Wahl, also auf Einwanderung in den Staat der eigenen Präferenz nicht, selbst wenn die Einreise formal mit einem ersichtlich unzulässigen oder offensichtlich unbegründeten Antrag auf Asyl verbunden wird oder wenn der Asylantrag in einem erkennbar unzuständigen Mitgliedsstaat der EU gestellt werden soll. Ohne eine solche Einreiseerlaubnis ist die Einreise nach Deutschland oder in die Europäische Union illegal; sie ist de iure grundsätzlich zu verweigern. Die Verwaltungspraxis in Deutschland entsprach und entspricht dem eindeutig nicht.
In der Folge der Fehlentwicklungen leben in Deutschland sehr viele Ausländer, die den materiellen Status als Flüchtling nicht erlangt haben, ihn nie erlangen werden oder ihn aufgrund unkorrekter, oberflächlicher, zum Teil sogar absichtlich fehlerhafter Anwendung geltenden Rechts in fragwürdiger Weise erlangt haben.
Die Handhabung des Asylrechts muss sich strikt auf das konzentrieren, was es leisten kann und was es leisten soll: Nämlich aktuell politisch verfolgten Menschen Schutz zu gewähren, in der Regel durch ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht.
Die unverzichtbaren Elemente der verfassungsrechtlichen Identität Deutschlands, nämlich Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat, setzen souveräne Staatlichkeit voraus. Die Existenz eines Staates setzt aber die Fähigkeit voraus, seine Grenzen zu schützen.“

Bei dem, was Seehofer, Söder, die CSU und außerdem etwa zwei Drittel der deutschen Wähler wildschweinhaft und hormongetrieben wollen, handelt es sich um die Anwendung des deutschen Rechts an der deutschen Grenze. Um es noch weiter zu konkretisieren: Es geht darum, zwei Migrantengruppen die Einreise zu verwehren, nämlich denjenigen, für die ein Einreiseverbot besteht, und denen, die schon mit ihrem Asylantrag in einem anderen EU-Land erfasst sind. Also um eine begrenzte Zahl von Migranten, die unter keinen nur denkbaren Umständen in Deutschland asylberechtigt sind.
Der gesamte Streit der vergangenen zwei Wochen einschließlich Fast-Koalitionsbruch und schon einmal in den Raum geworfener Neuwahlen rührte einzig und allein von der Weigerung Merkels her, ihre Asylpolitik wenigstens in diesen beiden Fußnoten an das geltende Recht anzupassen. Mittlerweile ruht die Hoffnung Merkels und ihrer Verehrer darauf, dass die entsprechenden Rücknahmeabkommen mit anderen EU-Ländern nicht zustande kommen, beziehungsweise darauf, dass sich der Versuch einer zaghaften Ordnung an den Grenzen noch irgendwie juristisch vereiteln lässt.
Ein Argument im Göring-Hofreiter-Lühmann-Gniffke-Kosmos lautet neuerdings auch: Aber die Zurückweisung würde doch so wenige betreffen. Nur fünf Migranten am Tag! Ja eben, könnte man mit ruhigem Hormonspiegel sagen. Deshalb, wegen dieser eher bescheidenen technischen Korrekturen sollte ja nach fester Auffassung der Tugendpartei gerade noch ganz Europa zerbrechen, Putin und Trump triumphieren und der bekanntlich komplett aus tiefgefrorenem Testosteron geschnitzte Saruman seine Oberherrschaft über den Erdkreis antreten.
Die Fähigkeit, jedes politische Thema auf hormonküchenpsychologische Ebene herunterzuschwatzen, während derweil anderswo harte Fakten geschaffen werden beziehungsweise sich selbst schaffen – diese Fähigkeit gehört sicherlich zu den Kernkompetenzen in Politik und Medien der Merkel-Ära.
Dabei gibt es eine Pointe: Dank der Politik Merkels, dank des von den Lühmanns und Göring-Eckardts und Anja Reschkes geschaffenen Klimas gedeiht testosterongesteuerte, toxische und gelegentlich wildeberhafte Männlichkeit so prächtig wie noch nie in diesem Land. Sie wandert ein, sie kommt, um zu bleiben, sie schafft sich Respekt mit dem Messer, prügelt auf dem Weg der frommen Anstrengung Kippaträger und schwule Paare aus der Öffentlichkeit und senkt die Frauenquote in nächtlichen S-Bahnen und auf öffentlichen Silvesterfeiern ruckzuck auf das Niveau der 50er Jahre und demnächst noch tief darunter.
Wie oben zitiert – es spricht einiges dafür, dass Testosteron in höheren Dosen dazu führt, dass Männer die Wahrheit sagen. Vor allem dann, wenn sie sich statusbedingt sowieso nicht verstellen müssen.
Wer beobachtet, wie kurdisch-libanesische Clans in Berlin mehr und mehr zu quasistaatlichen Ordnungsmächten aufsteigen, die vielleicht die Straßenschläger dann einhegen, vielleicht auch nicht, der sieht schon einmal ein Zukunftsmodell für ein halbes Dutzend weiterer Großstädte in Deutschland. Dort entsteht gerade ein Milieu, in dem Mann aus tiefster Seele sowohl Ja zum Testosteron sagt als auch zu offenen Grenzen, zu privatem Waffenbesitz, 200-PS-Autos und Freudenschüssen aus Hochzeitskonvois heraus auf Berliner Straßen, zu Schweinefleischverzicht und einer ausgeprägt polizeikritischen Haltung.
Auch wenn man es nicht sofort sieht: es gibt sogar eine wichtige Überschneidung zwischen den Göring-Gniffke-Lühmanns und den neuen Testosteronmännern des Landes. Beide halten jeden anderen Innenminister als Anton Hofreiter für ein Problem.    Wendt

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