Es handelt sich um einen öffentlichen Überziehungskredit zwischen den Notenbanken, weil es anderen Volkswirtschaften des Euroraums ermöglicht wurde, ohne private Auslandskredite aufzunehmen, einen Nettozustrom von deutschen Waren, Dienstleistungen und Vermögenstiteln zu bezahlen. Der von der Bundesbank vergebene Target-Kredit wird in Höhe des Hauptrefinanzierungssatzes der EZB (Beschluss EZB 2007 NP10) zu Lasten der Schuldner-Notenbanken verzinst, der freilich zurzeit null ist.
Der Kredit war nur möglich,
weil die Zentralbanken der Auftrag gebenden Länder bereit und in der
Lage waren, das bei der Überweisung eingezogene Geld durch neue
Geldschöpfungskredite an ihre jeweiligen Bankensysteme zu ersetzen, also
insgesamt mehr von solchen Krediten zu vergeben, als es gemäß der
Landesgröße zur Liquiditätsversorgung der eigenen Wirtschaft nötig
gewesen wäre.
Andernfalls wäre die Wirtschaft durch die
Nettoüberweisungen sehr schnell ausgetrocknet.
Der
Target-Überziehungskredit wird in der Zahlungsbilanzstatistik als Teil
des Auslandsvermögens der Bundesrepublik Deutschland verbucht, das aus
der Summe früherer Leistungsbilanzüberschüsse gebildet wurde. Das
Nettoauslandsvermögen der Bundesrepublik ist mit einem Wert von 1929
Milliarden Euro Ende 2017 nach Japan das größte der Welt. Die
Target-Kreditforderungen der Bundesbank zur Jahresmitte 2018 machten
davon 51 Prozent aus.
Überweisungen zwischen Ländern müssen, wie die privaten Clearing-Systeme
Londons zeigen, nicht zwangsläufig über Zentralbanken laufen. Auch
private Banken können einander grenzüberschreitend Zahlungsaufträge
geben und insofern Kreditverhältnisse aufbauen, um damit den Güterhandel
und Kapitalverkehr zu ermöglichen. Dafür wird in keinem Land
Zentralbankgeld eingezogen oder neu in Umlauf gebracht, und auch die
Target-Salden verändern sich nicht. Überweisungen außerhalb des
Target-Systems implizieren private Kredite zwischen den Bankensystemen,
und Überweisungen über das Target-System öffentliche Kredite. Die beiden
Kreditformen unterscheiden sich dadurch, dass das Kreditausfallrisiko
das eine Mal beim Steuerzahler und das andere Mal beim Bankaktionär
liegt, aber sie zählen gleichermaßen zur Nettoauslandsschuld oder zum
Nettoauslandsvermögen der jeweiligen Länder. Sie sind zusammen mit
anderen privaten und öffentlichen Kapitalflüssen das Spiegelbild der
Leistungsbilanzsalden.
Ein Blick auf das Bretton-Woods-System
Auch im Bretton-Woods-System, dem
internationalen Festkurssystem der Nachkriegszeit, gab es in Form der
Devisenforderungen, die bei der Bundesbank aufgrund von
Auslandsüberweisungen anlandeten, schon einmal etwas Ähnliches wie die
Target-Salden. Die Notenbanken Amerikas und der europäischen
Nachbarländer hatten ihre jeweiligen Volkswirtschaften mit
überschüssiger Liquidität versorgt, die es den Einheimischen
ermöglichte, wie heute beim Target-System in Deutschland auf
Shopping-Tour zu gehen. Man kaufte mit dem selbst bedruckten Papier
Waren, Firmen, Aktien, Immobilien und vieles mehr, und die Bundesbank
musste die Devisen in D-Mark umtauschen. Im zweiten Schritt konnte sie
aber verlangen, dass die nichtamerikanischen Währungen in Dollar oder
Gold umgetauscht wurden, und da der Marktpreis des Goldes unter der
festgesetzten Parität lag, bekam sie meistens Gold. Bis zum Jahr 1968
hatte die Bundesbank etwa 4000 Tonnen Gold angehäuft, was damals 3,4
Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts ausmachte. Zugleich verfügte
sie über Dollarreserven in Höhe von 1,6 Prozent des BIP.
Die
Target-Forderungen der Bundesbank zur Jahresmitte 2018 belaufen sich
demgegenüber auf 30 Prozent des deutschen BIP von 2017. Dürfte die
Bundesbank sie in Gold umtauschen, erhielte sie dafür zum aktuellen
Goldpreis weitere 28277 Tonnen.
Selbstbedienung im Eurosystem
Die Notwendigkeit der Tilgung der
Devisenschulden mit Vermögensposten, die man nicht selbst erzeugen
konnte, hat die Zahlungbilanzsalden im Bretton-Woods-System in engen
Grenzen gehalten. Im Eurosystem ist hingegen keine Tilgung vorgesehen.
Das kann das enorme Anwachsen der Target-Salden erklären. In der Tat ist
Deutschland zu einem Selbstbedienungsladen geworden, in dem man nach
Belieben anschreiben lassen kann, ohne dass der Ladeninhaber seine
Forderungen fällig stellen kann.
Es sind im
Wesentlichen fünf institutionelle Regelungen, durch die eine
asymmetrische Kreditgeldschöpfung im Eurosystem in den ersten Jahren der
Finanzkrise bis etwa 2012 ermöglicht wurde.
Die erste ist das
Target-System an sich. Der Maastrichter Vertrag sagt davon nichts.
Dieses System haben die Notenbanken selbst beschlossen, ohne die
Parlamente zu befragen. Man hätte das Eurosystem auch auf privaten
Überweisungen aufbauen können.
Die zweite Regelung liegt in der 2008
beschlossenen Vollzuteilungspolitik bei Refinanzierungskrediten. Danach
dürfen sich die Geschäftsbanken eines jeden Landes unbegrenzt Kredite
bei der eigenen Notenbank besorgen und können damit unbegrenzt
Überweisungen in andere Länder realisieren. Sie müssen dabei freilich
hinreichend gute Pfänder hinterlegen.
Die Mindestqualität dieser
Pfänder, und das ist die dritte Regelung, wurde sukzessiv bis unter
BBB-Minus-Rating, also bis auf das Schrottniveau gesenkt. Schrottpfänder
hatte man genug, um die heimische Geldmaschine laufen zu lassen.
Die
vierte Regelung besteht in den sogenannten Ela-Notfall-Krediten, die es
einer jeden Notenbank erlauben, nach eigenem Gustus beliebig viel Geld
zu drucken, es sei denn, zwei Drittel der Stimmen des EZB-Rates sind
dagegen. Da die südeuropäischen Krisenländer und Irland in den
entscheidenden Jahren eine Stimme mehr als ein Drittel hatten, konnte
niemand verhindern, dass sich diese Länder für Hunderte von Milliarden
Euro Ela-Kredite gewährten.
Die fünfte Regelung besteht im sogenannten
Anfa-Geheimabkommen, zu dessen Veröffentlichung die EZB
erst durch einen Berliner Doktoranden gezwungen wurde. Danach darf eine
Notenbank mit selbst gedrucktem Geld Wertpapiere kaufen. So erwarb die
Banca d’Italia nach Maßgabe der Anfa-Regeln für 105 Milliarden Euro
Staatspapiere. Die durch all diese Mechanismen erzeugten Kredite aus der
Druckerpresse fanden reißenden Absatz bei den Geschäftsbanken, weil sie
zu wesentlich günstigeren Konditionen als Kapitalmarkt-Kredite
angeboten wurden.
Der exzessiven
Kreditgeldschöpfung in den Krisenländern, die Nettoüberweisungen in die
nordeuropäischen Länder ermöglichte, stand ein entsprechender Rückgang
der Kreditgeldschöpfung in letzteren gegenüber, weil das bei den Banken
anlandende Überweisungsgeld den Bezug von verzinslichem Kreditgeld von
der eigenen Notenbank überflüssig machte. In den Jahren 2012 und 2013
gab es in Deutschland keinerlei eigenes Kreditgeld von der Bundesbank
mehr. In Deutschland zirkulierte nur noch das Überweisungsgeld, das
andere Notenbanken in Auftrag gegeben hatten.
Die zwei Target-Wellen
Der deutsche Target-Saldo stieg in der
Krise in zwei Wellen an. Die erste erreichte mit einem Target-Bestand
von 751 Milliarden Euro im August 2012 ihren Höhepunkt. Nach dem
Lehman-Crash verweigerten sich die Kapitalmärkte einer Fortsetzung der
Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite der südeuropäischen Länder und
Irlands. Die ausländischen Anleger wollten zudem das bereits verliehene
Geld sobald wie möglich zurückhaben und weigerten sich, Ersatzkredite zu
gewähren. Ferner versuchten inländische Vermögensbesitzer, ihr Vermögen
im Inland zu beleihen oder zu verkaufen und ihr Geld ins Ausland zu
bringen. Die oben beschriebene Selbsthilfe mit der Druckerpresse
ermöglichte es den Volkswirtschaften, die öffentlichen
Überziehungskredite in Anspruch zu nehmen, die durch die Target-Salden
gemessen werden.
In den letzten
vier Jahren erlebten wir die zweite Welle. Sie wurde durch die Erwartung
und Implementierung des Anleihekaufprogramms der EZB ausgelöst, nach
dem in der Zeit vom März 2015 bis Juni 2018 für etwa 2,4 Billionen Euro
Wertpapiere gekauft wurden, von denen zwei Billionen Staatspapiere
waren. Obwohl jede Notenbank nur die Staatspapiere ihres eigenen Landes
zurückkaufte, stiegen die Target-Salden nochmals an. Das lag zum einen
daran, dass die Verkäufer die Überschussliquidität in Deutschland in
Sicherheit bringen wollten. Das ist ein Aspekt, der angesichts der in
Italien mit großer Macht wieder aufflammenden Euro-Krise eine zunehmende
Bedeutung erhielt. Die Kapitalflucht aus Italien und auch aus dem stark
betroffenen französischen Bankensystem war erheblich.
Zum
anderen lag es an dem technischen Effekt, dass die Papiere der
südlichen Euroländer früher zur Finanzierung riesiger
Leistungsbilanzdefizite in die Welt verkauft worden waren, so dass nun
ohnehin Auslandsüberweisungen notwendig waren, um diese Papiere
zurückzuholen. So oder so war die Bundesbank gefordert, die Rückkäufe
und damit die alten Leistungsbilanzdefizite der Südländer durch eine
gigantische Umschuldungsaktion im Nachhinein zu kreditieren.
So musste die
Bundesbank zum Beispiel direkt an sie gerichtete Überweisungsaufträge
der spanischen Notenbank ausführen, die das Ziel hatten, spanische
Wertpapiere von deutschen Lebensversicherern nach Hause zurückzuholen.
Sie musste neues Geld herstellen und den Verkäufern dieser Wertpapiere
geben, damit die sie der spanischen Notenbank, einer Behörde des
spanischen Staates, zurückgaben. Das war gut für Spanien, weil die
verbriefte, mit einem Zins ausgestattete Staatsschuld gegenüber privaten
Investoren, die manchmal lästig werden können, durch eine bloße
Buchschuld beim Eurosystem und indirekt bei der Bundesbank ersetzt
werden konnte. Diese Buchschuld kann niemals fällig gestellt werden, und
sie trägt derzeit nicht einmal einen Zins. Für Deutschland war das
Geschäft freilich weniger attraktiv. Zwar wurden die deutschen Verkäufer
mit dem Geld der Bundesbank kompensiert, doch ist das eine Forderung
gegen eine Einrichtung des deutschen Staates, die dafür nur eine
Target-Forderung gegen das Eurosystem erhielt.
Auch half die
Bundesbank den Südländern letztlich dabei, ihre Schulden gegenüber
Investoren aus aller Welt loszuwerden und durch eine Buchschuld beim
Eurosystem zu ersetzen, das selbst eine Buchschuld gegenüber der
Bundesbank aufbaute. Wenn nämlich, um in dem Beispiel zu bleiben, die
spanische Notenbank die spanischen Staatspapiere von einem Investor in
Schanghai zurückkaufte, der dann, weil diese Aktion zur Abwertung des
Euros führte, mit dem Verkaufserlös eine deutsche Firma erwarb, so war
auch das ein gutes Geschäft für die Spanier. Die verbriefte Schuld
gegenüber einem privaten chinesischen Investor konnte durch eine
Buchschuld beim Eurosystem ersetzt werden. Der chinesische Investor
wurde für die Hergabe der spanischen Papiere mit der deutschen Firma
kompensiert, und der Verkäufer der deutschen Firma erhielt Euro, die
eine Forderung gegen die Bundesbank sind, für das die Bundesbank mit
einer Target-Forderung kompensiert wurde.
Natürlich sind
das nur Beispiele. Es kann auch sein, dass der ausländische Investor
Aktien und andere Wertpapiere oder deutsche Immobilien erwarb, denn wie
seinerzeit im Bretton-Woods-System ist Deutschland billig und bietet
gute Ware und gute Investitionsmöglichkeiten an. Wieder wird hier alles
gekauft, was nicht niet- und nagelfest ist. Oder der ausländische
Investor überwies sein Geld zunächst auf deutsche Bankkonten oder gar
Bankkonten seiner eigenen Filialen in Deutschland, um auf günstige
Kaufgelegenheiten zu warten. Auch das so in Umlauf gekommene Geld ist
eine Forderung gegen die Bundesbank, die nur durch deren
Target-Forderung gedeckt ist. Dumm nur, dass aber diesmal dafür kein
Gold auf den Tresen gelegt wird.
Die Risiken
Die Target-Forderungen bedeuten Lasten und
Risiken für den deutschen Staat, der Eigentümer der Bundesbank ist und
das Recht hat, ewige Zinsen auf die Target-Salden zu kassieren. Wie ein
Aktionär es über einen Dividendenverzicht täte, trägt der deutsche Staat
im Falle eines Ausfalls der Target- Forderungen gegen das Eurosystem
sämtliche Lasten. Das ist unabhängig von der Frage, ob der deutsche
Staat die Bundesbank rekapitalisieren muss.
Verluste drohen
zum Beispiel, wenn andere Notenbanken aufgrund der Target-Schulden ihre
Zahlungsverpflichtungen im Eurosystem nicht mehr erfüllen können. So
könnte sich ein italienischer Staatskonkurs nebst seiner Folgewirkungen
auf das Bankensystem wegen der hohen Target-Schulden der Banca d’Italia
von fast einer halben Billion Euro selbst im Falle einer Verpfändung der
italienischen Geldschöpfungsgewinne und der Verwendung aller Reserven
in Verlusten von mehreren Hunderten von Milliarden Euro für das
restliche Eurosystem niederschlagen, wovon Deutschland dann 31 Prozent
zu tragen hätte. Ähnlich wäre es, wenn Italien aus dem Euro austreten
und seine Target-Schulden nicht mehr bedienen würde.
Diese
Extremszenarien werden hoffentlich nie eintreten, doch sind sie insofern
für die weitere Entwicklung der Eurozone relevant, als sie den
Krisenländern ein glaubhaftes Drohpotential für das Erstreiten einer
europäischen Transferunion an die Hand geben. Die neue italienische
Regierung hat ganz offen mit dieser Karte gespielt. Entweder rücken die
nördlichen Länder das Geld freiwillig heraus, oder man holt es sich über
einen Austritt aus der Währung, notfalls über einen Konkurs der eigenen
Notenbank.
Bei näherem
Hinsehen ist dieses Drohpotential aber doch nicht so groß, wie es
zunächst scheinen mag, weil die Target-Forderungen der Bundesbank auch
im Normalbetrieb längst nicht so werthaltig sind, wie sie bilanziert
werden.
Ein privates Finanzinstitut müsste eine Forderung, die sie nicht
fällig stellen kann, die derzeit einen Zins von null trägt und die
vielleicht später mal wieder einen echten Zins trägt, dessen Höhe dann
freilich von den Schuldnern mitbestimmt wird, vollständig abschreiben.
So gesehen ist die Hälfte des durch Leistungsbilanzüberschüsse
aufgebauten deutschen Nettoauslandsvermögens heute wohl ohnehin nur noch
als belangloser Erinnerungsposten zu sehen.
Angesichts der
in Italien und auch Frankreich wachsenden Target-Salden ist es nun
höchste Zeit, dass sich die Politik der Sache annimmt und ihre Schweige-
und Verharmlosungsstrategie beendet. Auch manche Journalisten sollten
sich nicht für diese Strategie einspannen lassen. Deutschland steht im
Gegensatz zu Frankreich vor großen demographischen Problemen, die in den
dreißiger Jahren ohnehin Finanzengpässe verursachen werden. Es kann der
Aushöhlung seines Vermögens durch das Target-System nicht länger
tatenlos zusehen.
Es gibt
Möglichkeiten, die Target-Salden einzudämmen. Man könnte die oben
genannten Ursachen, die in der asymmetrischen und übermäßigen
Kreditgeldschöpfung im Eurosystem liegen, abstellen, aber das würde
voraussetzen, dass die mächtigen Target-Schuldner im EZB-Rat bereit
sind, auf ihre Privilegien zu verzichten. Wirksamer wäre es, wenn die
Gerichte und Parlamente sich der Sache annehmen und ein System der
jährlichen Tilgung der Target-Salden wie zwischen den zwölf
Distrikt-Notenbanken der Vereinigten Staaten vorsehen würden. Man könnte
sogar eine Obergrenze einführen, ohne den Zahlungsverkehr
einzuschränken, weil die Banken ihre internationalen Überweisungen dann
selbst über private Clearing-Häuser oder nach entsprechenden Fusionen
innerhalb ihrer eigenen Netze realisieren könnten. Um für den Aufbau
solcher Netze Zeit zu gewähren, sollte man die Überschreitung der
Obergrenze dann freilich zunächst noch unter Zahlung von Strafzinsen
erlauben. Was zu geschehen hat, bedarf weiterer Erörterungen. Nur eines
ist klar: So wie jetzt kann es nicht weitergehen. Hans-Werner Sinn
war Präsident des Ifo-Instituts in München.
Gekürzte Fassung eines längeren Beitrages, der auch noch auf
Falschinformationen und Reformmöglichkeiten eingeht
(www.hanswernersinn.de).
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