Stationen

Mittwoch, 4. Juli 2018

Mitteleuropa

Dresden - Mein Kanzleikollege hat ein anspruchsvolles Interesse: Die Napoleonischen Kriege. Unlängst fuhren wir von Leipzig nach Dresden und sahen aus der Ferne das Völkerschlachtdenkmal. So entspann sich eine Diskussion über die Aktualität der Befreiungskriege gegen die Napoleonische Fremdherrschaft. Um 1800 parlierte die deutsche Aristokratie und das großstädtische Bürgertum, welches jener nacheiferte, auf Französisch. Napoleon war der Held dieser Edlen, Reichen, Mächtigen. Beethoven widmete dem Franzosenkaiser seine Dritte Sinfonie, Goethe war geschmeichelt, als ihm der Korse in Weimar einen Besuch abstattete. Die königlichen Armeen der Preußen und Österreicher leisteten kaum Widerstand, als Napoleon 1806 in Deutschland einmarschierte und dem fast 1000jährigen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ein Ende bereitete.

Der Widerstand gegen Napoleon ging vom national gesinnten Bürgertum der kleinen Städte Preußens, Sachsens, auch Bayerns aus, nicht von den Höfen und Schlössern. Maßgeblicher Verbündeter dieser Revolte war Russland, gefolgt von England. Die damaligen Eliten zeigten sich hingegen bemüht, den Schwung der Bewegung versanden zu lassen und den Befreiern die Früchte ihres Kampfes zu verwehren: nach Napoleons Niederlage gewährte man Frankreich im Wiener Kongress eine Grenzziehung, die sogar französische Annexionen von vor 1795 unangetastet ließ. Ein Ergebnis war der Deutsche Bund, ein loser Zusammenschluß souveräner Staaten, doch kein deutscher Nationalstaat.

Wir erleben heute, dass die alten Frontlinien zwischen den Vertretern einer Hinwendung zu Frankreich, ja einer Union unter französischer Dominanz als idealer politischen Lösung für Deutschland, und jenen, die einen eigenen, deutschen, mitteleuropäischen Ansatz befürworten, wieder akut sind. Auch heute sind die Reichen und Schönen davon überzeugt, dass nur „Europa“ = EU eine gute Zukunft sichern kann. Doch es ist nicht mehr Napoleon, sondern ein anderer kleiner Franzose, der sich als Heilsbringer anbietet: Emmanuel Macron. Ihm will man Geld und Souveränität übereignen, während ein erfolgreicher, souveräner deutscher Staat als „Gefahr“ erscheint.
Außenminister Heiko Maas ist noch am Tag seiner Ernennung nach Paris geflogen, und wer die Bilder von seinem Antrittsbesuch gesehen, die Kommuniqués gelesen hat, weiß: es erschien der Vasall beim Tribunen. Angela Merkel stimmte dem französischen Vorschlag eines „Eurozonen-Budgets“ zu, was die Übertragung von Haushaltsrechten über deutsches Geld auf eine französisch dominierte EU-Behörde bedeutet. Martin Schulz wie Ursula von der Leyen sehen die „Vereinigten Staaten von Europa“ als ihre politische Mission, und wer sich durch Schulz‘ Reden und Stellungnahmen quält, begreift, dass alles auf ein französisches Modell hinausläuft, in dem Deutschland als eigener Staat gar nicht mehr vorkommt.
Spiegelbildlich dazu wird Russland verdammt und als Feind dargestellt, werden die Beziehungen zu mitteleuropäischen Staaten wie Tschechien, der Slowakei, Österreich, Ungarn und Polen vernachlässigt. Diese Haltung ist weder neu, noch erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Sie war die vorherrschende Ansicht der Eliten zur Zeit Napoleons und überdauerte auch die nationalstaatliche Phase ab 1871. Walter Rathenau brachte es in den 1920ern einmal auf den Punkt: „Deutschland ohne Preußen und Sachsen wäre ein Rheinbund von Flensburg bis zum Bodensee.“ Nach 1949 wurde dieses Denken in der Bundesrepublik erneut tonangebend.

Konrad Adenauer fürchtete nichts so sehr, wie eine deutsche Wiedervereinigung um den Preis der Neutralität, weshalb er die Stalin-Note ablehnte und die Menschen in Ostdeutschland dem Kommunismus auslieferte. Den linksliberalen westdeutschen Intellektuellen gefiel ihr Land als „postnationale Demokratie inmitten demokratischer Nationalstaaten“, wie es der Politologe Karl-Dietrich Bracher formulierte. Die Wiedervereinigung und die mit ihr einhergehende Renaissance des nationalen und mitteleuropäischen Gedankens, wie 1812 von den Bürgern im Osten Deutschlands ausgelöst, verunsicherte diese linken Eliten und begründet die Verachtung, die bis heute den Westdeutschen in den neuen Ländern entgegenschlägt.
2018 nun stehen die Anhänger einer Preisgabe deutscher Eigenstaatlichkeit vor einem totalen Sieg. Sie sind nicht mehr bereit, die Staatsgrenzen zu schützen und bestehen auf einer „europäischen Lösung“. „Ein Staat ohne Grenzen ist kein Staat“, äußerte demgegenüber Präsident Donald Trump 2017 mit Blick auf die US-Grenze zu Mexiko. Merkel & Co. aber wollen keine Grenzen, keine eigene Währung und träumen selbst von der Aufgabe der Wehrhoheit. Die „Vereinigten Staaten von Europa“, also das Napoleonische Reich 2.0, sollen dann als Bollwerk gegen Russland dienen und eine eigenständige globale Rolle einnehmen.

Doch die politische Vision scheitert an der Realität. Nicht Russland bedroht Europa, sondern der Migrationsdruck aus Afrika und dem Orient. Eine eigenständige globale Rolle mögen sich die Beamten in den Pariser Palais wünschen, die Osteuropäer können damit wenig anfangen. Und eine teure Frontstellung gegen Russland ist nicht kommunizierbar, weil zu wenige Europäer an die Mär vom „irren Iwan“ glauben. Hinzu kommt: Frankreich geht schweren Zeiten entgegen, erntet die Folgen einer laxen Einwanderungspolitik. Ein zunehmend islamisches und afrikanisches Frankreich taugt nicht als Anker eigener weltpolitischer Träume. Napoleon 2.0 hat wenig zu bieten.
Damit gewinnt das Gegenmodell wieder an Brisanz: Mitteleuropa. Ein global zurückhaltendes, auf Kultur und Wissenschaft aufbauendes, föderales und nach West wie Ost ausgleichendes Europa brüderlicher Nationen, dessen Zentrum entlang der Achse Berlin-Dresden-Prag-Wien liegt. Mit einem solchen Konzept lassen sich keine weltpolitischen Ambitionen verwirklichen, aber wer braucht schon deutsche Soldaten in Afghanistan, Mali, Somalia? Ein solches Mitteleuropa knüpft an die sympathische Vielfalt an, wie sie etwa Joseph Roth beschreibt, betont das Selbstbestimmungsrecht der Regionen und Völker und ist sich seiner Identität bewusst, die es gegen eine nivellierende globale Massenkultur ebenso bewahrt, wie gegen kulturfremde Masseneinwanderung.
Geschichte wiederholt sich, aber in anderen Masken und mit neuen Bühnenbildern. Noch ist Napoleon auf dem Siegeszug, aber sein Scheitern ist absehbar. Die Ideen und Verbündeten der Befreiungskriege haben Napoleon 1.0 besiegt und werden auch Napoleon 2.0 überwinden. Davor fürchten sich dessen Anhänger, weshalb sie ihre Gegenspieler und deren Ideen ausgrenzen oder vergessen machen. So wurde erst in diesem Jahr die Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald umbenannt, da für die neo-napoleonische Bundesrepublik der Name des Freiheitshelden Arndt offenbar unerträglich wirkt. Russland wird als Reich des Bösen geschmäht, und die USA des Donald Trump, die nun die Rolle Englands von 1813 einnehmen, werden verächtlich gemacht. Doch wer einmal vor dem Leipziger Völkerschlachtdenkmal stand, weiß es besser: Der Weg Napoleons endet auf Elba.    Maximilian Krah

Der SPIEGEL hat schon gemerkt, dass es zu einer kulturhistorischen Wende kommen wird.

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