Dies gilt jedenfalls für den unerwarteten Aufschwung,
den unsere eigene Bewegung im letzten halben Jahrzehnt erfuhr. Gerade
die verantwortlichen Köpfe haben nicht etwa Blut geleckt, ihnen ist
schwindlig. Sie können kaum fassen, was ihnen da nach jahrzehntelanger
Bedeutungslosigkeit widerfahren ist.
Die erste Reaktion ist eine Mäßigung der eigenen
Ansprüche und eine Anpassung an den Jargon der plötzlich wie Pilze aus
dem Boden sprießenden Bürgerproteste. Diese Anpassung sollte man nicht
mit Opportunismus verwechseln.
Sie hat mehr von einem Spieler, der, nach langer
Pechsträne, doch wieder gewonnen hat und auf nichts mehr hofft, als das
Kasino zu verlassen, sobald er für den Abend in etwa bei Null
herausgekommen ist: sicherlich vernünftiger als die Bank sprengen zu
wollen.
Doch auch dieser Spieler sitzt an einem Tisch,
dessen Regeln dazu gemacht sind, daß er auf lange Sicht verlieren muß.
Radikalität im Sinne eines An-die-Wurzel-Gehens ist der Mut und die
Anstrengung zu begreifen, wie das Spiel aufgrund welcher Regeln
funktioniert. Radikalität bedeutet nicht, um der Grandezza willen das
gewagteste Blatt zu spielen. Und erst recht nicht Maulheldentum am
Bartresen.
Inzwischen aber wird das rechte Lager zunehmend vom
Sprachgebrauch der Demonstrationen dominiert. Es ist zwar ein gutes
Zeichen, daß sich etwas bewegt, aber es ist sehr gefährlich, wenn
niemand mehr dagegen hält. Denn machen wir uns nichts vor: Es hat selten
etwas so verwirrtes gegeben, wie diese seit PEGIDA entstandene
Protestkultur.
Das ist niemandem zum Vorwurf zu machen. Was die
Leute fünfzig Jahre nach 68 auf die Straße treibt ist nicht radikale
Theorie, sondern das Entsetzen darüber, daß ihre Welt um sie herum
zerbröselt.
Deshalb hört man nirgendwo so oft die Worte
„Grundgesetz“, „Demokratie“ und „Freiheitlich-Demokratische
Grundordnung“, wie auf diesen Protesten. Das ist nicht, wie böswillig
unterstellt wird, zynisches Mimikry von Verfassungsfeinden, sondern
Ausdruck der Hilflosigkeit: Angesichts einer unverstandenen Katastrophe
werden die gewohnten Formen beschworen und diejenigen verflucht, deren
Boshaftigkeit man persönliche Schuld an deren Zerfall zurechnet.
Ich will nicht weiter Leute mismachen, die, erst vor
kurzem durch die Gewalt der Umstände politisch geworden, ihre Wut in
den gewohnten Geleisen auf das sichtbarste Ziel richten. Und ganz
ehrlich: Die „Merkel muß Weg“-Sprechchöre haben etwas von
Volksgesundheit.
Volksgesundheit ist das Erste und Wichtigste, was
von einem Straßenprotest erwartet werden kann. Wer von den Eindrücken
und Gedankenfetzen, die die Leute auf die Straße treiben, verlangt, daß
sie einem akademischen Prüfungsausschuß standhalten, verkennt den Geist
der Straße.
Doch zwischen demjenigen, der sich Feierabend und
Wochenende um die Ohren schlägt, weil er sieht, daß es mit diesem Land
so nicht weitergeht, und demjenigen, der es auf sich genommen hat, dem
Volk zu erklären, warum es so nicht weitergeht, besteht ein Unterschied
der intellektuellen wie der politischen Verantwortung.
Daß Demonstrationen sich an Ereignissen wie einem
aufsehenerregenden Mord entzünden, ist natürlich. Und es ist ebenso nur
menschlich, wenn Bürger, die durch die Ereignisse welche auf den Herbst
2015 folgten, gerade erst politisch aufgewacht sind, angesichts der
Zustände zuerst nach den Politikern suchen, die ihnen ihre Demokratie,
ihre Bundesrepublik, ihre Rechtsstaatlichkeit doch vor allem ihr
Deutschland genommen haben.
Aber wenn: „Merkel hat die Grenzen geöffnet, das war
illegal und grundgesetzwidrig“, alles ist, was wir zu sagen haben, dann
ist das eine geistige Bankrotterklärung, der die politische früher oder
später folgen wird.
Wer das Grundgesetz jemals zur Hand genommen hat
weiß, daß es sich hierbei um ein Rechtsdokument handelt, welches die
Grundrechte des Individuums (und zwar unabhängig von Herkunft oder
Staatsangehörigkeit) über das deutsche Volk stellt. Vor allem dann, wenn
wir Volk im Sinne des Ethnos und nicht des Demos auffassen.
Es gibt eine sehr aufschlußreiche Ausnahme: Das
Grundgesetz sieht eine Reihe von Möglichkeiten vor, dem Feind der
Verfassung oder auch nur der „freiheitlichen demokratischen
Grundordnung“ die politische Betätigung zu erschweren oder gänzlich zu
untersagen (Art. 5; Art. 8; Art. 9; Art. 18; – Art. 20 Abs. 4 ist auch
in diesem Sinne gemeint, als letzte Verteidigungslinie hinter den oben
genannten).
Auf uns Heutige wirkt das, als hätte Anetta Kahane
das Grundgesetz verfaßt. Doch versetzen wir uns für einen Moment nach
Herrenchiemsee im Jahre 1948. Wenn die Väter des Grundgesetzes sich die
Frage stellten, gegen welche Art von Feind ihre neue Staats- und
Rechtsordnung gewappnet sein müsse, da dachten sie notwendigerweise an
einen Agitator.
Niemand hatte die Möglichkeit heutiger
Anarcho-Tyrannei im Blick. Die Idee, daß der Rechtsstaat einfach unter
der Last der von ihm garantierten Individualrechte, genauer den damit
verbundenen Verfahrenspflichten zusammenbrechen könnte, kam niemandem.
(Allenfalls Carl Schmitt dachte zumindest an ähnliche Szenarien.)
Und das galt nicht nur für das besetzte Deutschland,
sondern für die ganze westliche Welt. Was heute Alltag ist, stand
damals außerhalb des Erfahrungshorizontes. Die Debatte über den Schutz
von Demokratie, Staat und Recht drehte sich um die Frage, die jeder von
uns noch im Gemeinschaftskundeunterricht kennen lernte: Unter welchen
Umständen kann ein demokratisches Gemeinwesen zum eigenen Schutz seinen
Bürgern welche politischen (!) Rechte entziehen?
Der Westen ist deshalb weder rechtlich, noch
moralisch, noch intellektuell auf die gegenwärtige Situation
vorbereitet, in der ihn die Bevölkerungsexplosion der Dritten Welt mit
Individualrechten überflutet. Nur deshalb konnten auch die tatsächlich
ideologischen Multikultis, die Marke Claudia Roth – die von den
Funktionseliten ja gar nicht für voll genommen wird – solchen Erfolg
haben: Als Hohepriester des sowieso Unvermeidlichen.
Um dies zu ändern müssen die derzeitigen Eliten
ausgetauscht werden, ja, aber das nützt nichts, wenn die Nachfolger
letztlich in den gleichen Schablonen denken, allenfalls häufiger über
Recht und Ordnung reden.
Merkel hat die Grenzen nicht geöffnet, weil sie für
Multikulti wäre. Die Frau ist für überhaupt nichts, außer dafür, noch
als Mumie im Kanzleramt zu sitzen. Die Frage, die 2015 die
Grenzschließung verhinderte, war die Innenminister de Maizières: „Was
geschieht, wenn 500 Flüchtlinge mit Kindern auf dem Arm auf die
Bundespolizisten zulaufen?“ (zit. n. Robin Alexander: Die Getriebenen S.
23)
Die Antwort war schließlich, daß für jeden, der sich
auf das Asylrecht berief, ein Verfahren eröffnet wurde, irgendwann,
sobald die behördlichen Kapazitäten es zuließen. Bis dahin darf der
Asylbewerber selbstverständlich bleiben und wird versorgt.
Dieses Muster, die Kombination individueller Rechte,
die unbeachtet jedem beliebigen Menschen zugestanden werden, mit
behördlicher Überlastung ist die Katastrophe, die schon vor 2015 im
Gange war und sich seither immer häufiger wiederholt. Vor kurzem teilte
die Staatsanwaltschaft Hamburg mit, daß in den nächsten drei Monaten
Bagatelldelikte nicht mehr geahndet werden. Das hat nichts mit
Gutmenschentum zu tun. Es gibt einfach zu viele Verbrechen und zu wenig
Personal.
Und woher sollte der Staat neues Justizpersonal denn
nehmen? Etwa „Fachkräfte“ einstellen? Ohne ordentliches Verfahren darf
man allerdings niemanden verurteilen, auch dann nicht, wenn der Täter zu
einer Bevölkerungsgruppe gehört, die die so viele Verbrechen begeht,
daß die Justiz nicht mehr hinterherkommt und die Polizei im Alltag
kapituliert.
Radikal zu sein bedeutet heute, an die Wurzel dieses
Übels heranzugehen. Die ist nicht so kompliziert, daß die Zusammenhänge
breiteren Schichten nicht zu vermitteln wäre. Die Geschichte mit den
Treibhausgasen und dem Klimawandel war komplizierter: Der Schwachpunkt
unseres Rechtsstaates, der uns sehr teuer ist, gerade heute, wo wir die
Alternative zu ihm zu spüren beginnen, ist sein Ressourcenverbrauch. Wir
dürfen nicht zulassen, daß er von der halben Welt in Anspruch genommen
wird.
Wir dürfen nicht zulassen, daß unser Volk, unser
Staat und unser Recht Selbstmord begehen, weil die Massen der Dritten
Welt sie mit ihren Menschen-, Grund- und sonstigen Rechten bombardieren!
Es ist nicht nur verständlich, sondern auch richtig,
daß sich der Zorn der Straße gegen die Windbeutel richtet, die derzeit
über dem Großen Austausch das Präsidium führen.
Es ist nicht nur verständlich, sondern auch
notwendig, wenn sich Parteipolitiker in ihren Äußerungen zumindest
soweit innerhalb des gegebenen Rahmens halten, daß ihre Partei nicht
verboten wird.
Aber so zu tun, als ob allein die Boshaftigkeit oder
Dummheit der Multikultis und der Regierung Merkel die Ursache allen
Verderbens wäre, man also nur die politischen Köpfe auswechseln müßte,
das wird allerspätestens dann zur Sackgasse, wenn wir sie eines Tages
von der Macht verdrängt haben und damit die Erbschaft ihrer
strukturellen Probleme antreten.
Bis zu diesem Zeitpunkt muß ein gedankliches Gerüst
stehen und eine Erzählung verbreitet sein, die es überhaupt erst
ermöglichen werden, die gewonnene Machtstellung in eine neue Politik
umzumünzen. Wenn dies nicht gelingt, dann wird man lediglich einige
Angstreaktionen auf den Großen Austausch hervorbringen, die gegen die
immer noch herrschenden Moral und Rechtsvorstellungen verstoßen und
deshalb angreifbar sein werden.
Eine konsequente Politik zu seiner Abwendung wird so
nicht möglich sein. Wir sehen dies heute in den Vereinigten Staaten
unter Trump, wo selbst moderate Beschränkung illegaler Einwanderung hart
erkämpft werden muß, während selbst ein Ende aller illegaler und
legaler Einwanderung nicht mehr verhindern könnte, daß weiße Amerikaner
zu Minderheit im eigenen Land werden.
Eine solche Situation für Deutschland zu verhindern,
ist die Verantwortung des politischen Intellektuellen in unserer Zeit
und jeder Bewegung, die sich als metapolitische Speerspitze begreift. Poensgen
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