Sonntag, 4. September 2016
Die Ringparabel gibt es seit der Spätantike
Als Europäer stehen wir im Bann von Lessings berühmter Ring-Parabel, welche die drei monotheistischen Konzepte Judentum, Christentum und Islam drei einander zum Verwechseln ähnlichen Ringen vergleicht und in dieser Metapher die tiefen Gegensätze und Widersprüche zwischen ihnen zu relativieren sucht. Da sie alle drei einander zum Verwechseln ähnlich sind, so die Logik der Ring-Parabel, könne es sich bei den in ihrem Namen ausgefochtenen Konflikten und Kriegen nur um Missverständnisse handeln, die durch geistigen Austausch, Aufklärung und Toleranz zu überwinden sind.
Die Ring-Parabel nimmt ihre Legitimation aus dem gemeinsamen Ursprung der drei monotheistischen Religionen aus einer nahöstlich-nomadischen Welt, symbolisiert in der Gestalt des biblischen Patriarchen Abraham, eines Flüchtlings aus dem babylonischen Ur, wandernden Herdenfürsten und Propheten, auf den sich alle drei Religionen als Urvater berufen. Aus diesem Grund und wegen ihrer weltweiten Wirkung ist es üblich geworden, Judentum, Christentum und Islam summarisch als die „drei abrahamitischen Religionen“ zu bezeichnen.
Diese Sicht hat sich das moderne, weitgehend säkulare Europa des 19. und 20. Jahrhunderts zu eigen gemacht. Die Kategorie „abrahamitische Religionen“ bedeutet eine Pluralisierung, damit auch relative Entwertung. Wie sich in Lessings Ringparabel nicht ermitteln lässt, welcher der drei Ringe der echte, ursprüngliche ist, soll folglich auch keine der drei Religionen die wahre, ursprüngliche sein. Und da keine der drei Religionen die wahre, ursprüngliche ist, meinte man sie fortan in einem Plural zusammenfassen zu können, der ihre tiefgreifenden Unterschiede verwischt.
Bei genauerem Hinsehen erweist sich Lessings Parabel von den drei gleichen Ringen als verfehltes Bild. Die Metapher von den drei Ringen, die einander zum Verwechseln ähneln, so dass sich angeblich nicht mehr feststellen ließe, welcher der ursprüngliche war und welcher der nachgeahmte, ist schon deshalb falsch, weil bei den drei in Frage stehenden Religionen ganz zweifelsfrei eine Reihenfolge ihrer Entstehung und damit der Originalität ihrer Ideen feststellbar ist.
Schon von daher sind die „drei abrahamitischen Religionen“ von Grund auf verschieden: das Judentum ist in der Reihenfolge die erste, das Christentum die zweite, unmittelbar aus dem Judentum hervorgegangene – Jesus war Jude – , während der Islam eine wesentlich spätere, außerhalb oder am Rand der jüdisch-christlichen Sphäre entstandene Bewegung ist, deren Textwerk, eine Sammlung von Gesängen, genannt Koran, sich der beiden vorhergegangenen bedient und zugleich ihre Vertreter bekämpft.
Die über Jahrtausende auseinander liegende Entstehungszeit der drei Religionen ist ein weiterer Grund, die Konklusionen der Ring-Parabel zu bezweifeln.
Noch in der Renaissance-Version dieser uralten, seit der Spätantike bekannten Erzählung, in der Novellensammlung „Decamerone“ des Italieners Boccaccio, war die Ring-Parabel nichts als ein listiges „Geschichtchen“ (im italienischen Original "una novelletta“), mit dem sich ein reicher alexandrinischer Jude einer Fangfrage des Sultans Saladin zu entziehen suchte.
Erst durch Lessings Adaption wurde sie zu einem fundamentalen Axiom modernen europäischen Denkens.
Bibel und Koran sollen in dieser Serie in gebotener Kürze und Konzentration unter folgenden Aspekten gegenüber gestellt werden: Genealogie, Textstruktur, Menschenbild, das Verhältnis zu Krieg und Frieden, der im Text dargestellte anthropologische Prozess.
Zur Genealogie: Der Koran ist mehr als ein Jahrtausend nach der hebräischen und fünf bis sechs Jahrhunderte nach der christlichen Bibel entstanden, in einer Umgebung, die bereits weitgehend von biblischem Denken geprägt war. Der Überlieferung nach lebte und wirkte Mohamed am Rande des oströmischen Reiches, das rund drei Jahrhunderte zuvor das Christentum als Staatsreligion angenommen hatte, in geographischer Nähe zu den Zentren der byzantinischen und syrischen Kirche einerseits und den großen talmudischen Schulen des babylonischen Judentums, Sura und Pumbedita, andererseits.
Der Inhalt der Bibel war ihm bekannt, er war mit Christen und Juden in alltäglichem Kontakt und sprach als Kaufmann aramäisch, die lingua franca der antiken nahöstlichen Welt, zugleich die Sprache, in der sowohl die Werke der syrischen Kirche als auch der babylonische Talmud geschrieben wurden.
Vielleicht behauptet deshalb der Hadit, die Sammlung der Berichte über Worte und Taten Mohameds, dass der Prophet Analphabet gewesen sei: um den bereits im Umfeld Mohameds erhobenen Vorwurf, es handle sich beim Koran um ein Plagiat, von vornherein zu entkräften. Dieses Wort ist dennoch immer wieder gefallen, gerade in den Untersuchungen von Kennern der hebräischen, griechischen, aramäischen und arabischen Originaltexte, auch in neuerer Zeit, etwa in Franz Rosenzweigs Buch „Der Stern der Erlösung“.
Der Koran ist zu weiten Teilen Bibel-Exegese. Er beschäftigt sich ganze Suren hindurch mit biblischen Figuren und erzählt ihre aus der Bibel bekannten Geschichten nach, wobei talmudische Midrashim oder christliche Legenden einfließen. Nacherzählt, paraphrasiert oder leitmotivisch erwähnt werden Lebensweg, Taten und Bedeutung von Adam, Noah, Abraham, Isaak und Jakob, in einer ganzen Sure von Joseph, in einem summarischen Abschnitt von Moses und Aharon, dann nochmals von Abraham und Noah, David, Salomon, Hiob, Jona und Sachariah, in einer eigenen Sure wiederum von David, in einer anderen nochmals ausführlich von Moses, Lot, Elias und noch anderen Gestalten der hebräischen Bibel. Auch aus den christlichen Evangelien übernahm Mohamed auf diese Weise Erzählstoff und Personen, etwa Jesus, Johannes und Maria.
Nähme man vom Koran alles hinweg, was biblischer Stoff, jüdisch-talmudisches oder christlich-theologisches Denken ist, bliebe nur noch ein schmaler Text übrig. Fast alles, was der Koran an Fakten mitteilt, ist biblischer Stoff. Wie ist bei dieser Abhängigkeit von jüdisch-christlichem Gedankengut die antijüdische und antichristliche Polemik des Textes zu erklären, die ein stilistisches Leitmotiv der 114 Suren bildet? Mohameds Version der monotheistischen Botschaft gab den nomadischen Beduinenstämmen der arabischen Wüste eine Selbstgefühl schaffende, einende Identität.
Die Polemik des Koran ist zunächst auf christlich-jüdische und inner-christliche Feindseligkeiten des 5. und 6. Jahrhundert zurück zu führen. Der Aufstieg der Lehre Mohameds und des Islam wurde durch innere Zerrissenheit des Christentums und christlichen Judenhass begünstigt. Die Vehemenz der Kämpfe zwischen den verschiedenen Kirchenfraktionen und zwischen diesen und den Juden stand in offensichtlichem Widerspruch zu der in der Bibel geforderten Nächstenliebe.
Der neue Prophet gerierte sich als Verteidiger der Lehre gegen ihre ungehorsamen Schüler. Im selben Maß, in dem er einem bisher unwissenden, beduinischen Publikum die Essenz biblischer Gedanken als eigene Botschaft verkündete, vollzog er die Abgrenzung von Juden und Christen, denen er sie verdankte. In Sure 2, Vers 59 wird Juden und Christen zwar noch zugestanden, dass sie an der göttlichen Gnade teilhaben können, doch schon in Vers 107 der selben Sure wird beiden die Berechtigung abgesprochen, die Orte des Gebets zu Gott überhaupt noch aufzusuchen.
Sure 2, Vers 110 verwirft das christliche Konzept vom Gottessohn. Sure 5 setzt sich mit den Juden auseinander, die frühere Inhaber der Lehre und „Volk des Buches“ genannt werden, jedoch durch Ungehorsam Gott erzürnt hätten, und kommt in Vers 85 zu dem Ergebnis: „Du wirst mit Sicherheit entdecken, dass die größten Feinde der Gläubigen die Juden und die Götzenanbeter sind“. In Vers 56 derselben Sure werden die Christen in das verächtliche Verdikt einbezogen: „Oh Gläubige, nehmt euch nicht Juden und Christen zu Freunden, denn sie sind untereinander befreundet. Wer sie zu seinen Freunden macht, wird einer von ihnen“.
Diese Abgrenzung von den früheren Inhabern des Buches ist zugleich ein Akt der Aneignung, wie Sure 5, Vers 62 zu erkennen gibt: „Oh Gläubige, nehmt euch niemals die zu Freunden, denen das Buch vor euch gegeben wurde“. Die Religion des Buches ist hier bereits in den Besitz der Anhänger Mohameds übergegangen, während ihre früheren Eigentümer von nun an „Ungläubige“ sind. Sure 48 (betitelt „Sieg“) erklärt Torah und Evangelien zu Büchern, in denen die Anhänger Mohameds dargestellt würden (Vers 29). Auch einzelne Gestalten wie Stammvater Abraham werden dieserart übereignet. Sure 3, Vers 60 behauptet, er sei „weder Jude noch Christ, sondern Muslim“ gewesen. Der Prozess der eigenen Selbstaufwertung auf der Grundlage einer Schmähung von Juden und Christen ist von nun an ein Leitmotiv des Koran.
Der Verurteilung der früheren Völker der Bibel folgte ihre im Koran geforderte Bestrafung. Noch zu Lebzeiten, im Jahre 627, ließ Mohamed alle Juden der Stadt Medina niedermetzeln, weil sie sich weigerten, ihn als den Propheten Gottes anzuerkennen und gegen die Übernahme der Stadt durch ihn Widerstand leisteten. Mohameds Version der monotheistischen Botschaft gab den nomadischen Beduinenstämmen der arabischen Wüste eine eigenständige, ein Selbstgefühl schaffende, einende Identität. Jahrhunderte lang hatten sie sich gegenseitig bekriegt und vernichtet, hatten sie raubend, plündernd, um Wasserstellen und Weideland kämpfend die arabische Halbinsel durchstreift, in einem Zustand, den die islamische Tradition jahiliya nennt, „das Zeitalter der Ignoranz“.
Schon wenige Jahre nach Mohameds Tod (632) eroberten sie erste Gebiete des römischen Imperiums, 634 die Byzanz vorgelagerte Festung Bosra, dann die großen christlichen Städte des Ostens, Damaskus, Aleppo, Antiochia, nach der Schlacht am Yarmok ganz Syrien, wenig später, 637 oder 638, Jerusalem, sodann Alexandria und Ägypten, das östliche Mittelmeer und Nordafrika, wodurch schon wenig später die islamische Invasion gegen Europa selbst, die spanische Halbinsel, Süditalien und Frankreich, möglich wurde.
Zur Text-Struktur und -konsistenz: Der Koran ist ein Monolog. Er besteht aus 114 Suren oder Gesängen in Versform. Es gibt nur einen einzigen Sprecher, den Propheten Mohamed, der die göttliche Wahrheit zu besitzen erklärt und sie einem schweigenden Publikum mitteilt. Der Koran unterscheidet sich daher generell von der Bibel, die viele literarische Formen, zahlreiche Sprecher und immer andere Erzählweisen kennt.
Die biblischen Darstellungsweisen betonen, schon durch ihre textliche Strukur, den Dialog, die Interaktion zwischen verschiedenen Größen. Es ist sozusagen das dualistische Prinzip des Monotheismus. Immer wieder in der Bibel ist das Aufweisen und Überwinden von Widersprüchen – bis hin zum offenen Streitgespräch – die vorgeführte Methode der Erkenntnis- und Wahrheitssuche, in den Mosaischen Büchern, bei den Propheten, im Buch Hiob, im Kohelet, in der Sammlung der Sprüche oder in den zahlreichen Debatten des Neuen Testaments.
Mohameds Vortragsstil poetischer Verdichtung und Verkürzung, durch welchen Zusammenhang und Informationsgehalt des Textes Einbusse erlitten, löste Widerspruch von Seiten jüdischer und christlicher Schriftgelehrter aus, was zwischen ihm und diesen einen Bruch hervorrief und allmählich vertiefte. Im Wesentlichen übernahm Mohamed die gesetzlichen Forderungen seines Koran den Fünf Büchern Mose. Doch je mehr Material er der Bibel entnahm, um so größer wurden auch seine Abweichungen. Er adaptierte Elemente in seine Lehre, die mit jüdischen und christlichen Konzepten der Welt unvereinbar sind, etwa das Paradies als Ort des Sinnenrauschs und irdischer Vergnügungen, das generelle Verbot Wein zu trinken oder die sprachliche Suggestion seiner, Mohammeds, eigener Gottnähe.
Eine Besonderheit von Mohammeds Vortrag mögen die krampfartigen Zustände gewesen sein, die ihn in visionärem Zustand befielen und die von seinen Zuhörern in Ehrfurcht abgewartet wurden. Man wertete sie als Augenblicke der Inspiration, der höheren Beseeltheit, des Empfangens der Botschaft. Sie können einer der Gründe für den in manchen Suren auffallend abrupten, verwirrenden Wechsel des Themas, der Stimmung, des Erzähl-Duktus sein, für die oft erstaunlichen Abweichungen von einem „plausiblen“ Erzählverlauf. "The Suras“, findet der englische Arabist Arthur J.Arberry, „are not arranged in any chronological order“. Der Koran ist nach abendländischem Verständnis eindeutig ein Werk der Dichtkunst, eher inspirativ und irrational gewachsen als in absichtsvoller Systematik. „Der größte Dichter bist Du, oh großer Prophet von Mekka...“, schrieb Heinrich Heine. Einige Jahrzehnte später schildert ihn Rilke als Analphabeten und „innen verwirrten Kaufmann“.
Einer der am häufigsten erhobenen Einwände gegen Mohameds Botschaft ist der unbestreitbare Tatbestand, dass ihre Adressaten, die mit „ihr“ angeredeten Empfänger des Textes, ausschließlich Männer sind. Das Männerparadies des Koran, die „immerjungen Mädchen“ und „Fontänen von Wasser“, sind Beleg für die Mittel, mit denen der Text arbeitet, um seine Leser zur Aktion zu bewegen (…) Außer Versprechen und Verheißung benutzt er dazu noch andere: Warnung, Drohung, Ankündigung von Strafe.
Das harte Nebeneinander sanft gewinnender und aggressiv-polemischer Passagen wurde zum stilistischen Prinzip, da der Koran ein Buch der Abgrenzung ist. Die üppigen Darstellungen vom Paradies erweisen sich als notwendiger kompositorischer Ausgleich in einem Text, der auf dieser Welt vor allem eines fordert: absolute Unterwerfung. „Es ist ein Weg des Gehorsams“, schreibt Franz Rosenzweig. „Das unterscheidet ihn, mehr als sein Inhalt, von der Liebe des Nächsten“.
Verbindlichkeit des Textes (textus receptus): Die für Europäer ohnehin schwierige Rezeption des Koran wird noch schwieriger durch die nicht gesicherte Eindeutigkeit des Textes. Bis heute variieren seine „Lesarten“ (tafsir al koran) so erheblich, dass bereits das Lesen des Textes eine erste Interpretation darstellt. „Es gibt keinen uniformen Koran-Text“, schreibt Ignaz Goldziher in seinem Standardwerk „Die Richtungen der Islamischen Koranauslegung“. Unter den Ursachen für die Mehrdeutigkeit des Textes sind sprachliche, vor allem die „Eigentümlichkeit der arabischen Schrift, in der dasselbe grafische Skelett je nach der Verschiedenheit und der Anzahl der über oder unter dasselbe gesetzten Punkte verschiedene Lautwerte darstellt.“
Hinzukommen zahlreiche andere Gründe für die Strittigkeit einzelner Worte und Passagen des Koran-Textes, nicht zuletzt politische. So hat die shiitische Richtung des Islam seit der frühesten Zeit ihres Auftretens die Integrität der othmanischen Textgestaltung bezweifelt und abgelehnt. Diese enthalte, behaupten die Shiiten, gegenüber dem echten Koran Mohameds unzulässige Änderungen und Zusätze, während andere Passagen des authentischen Textes durch Weglassung getilgt worden seien.
Allerdings können sich auch die Shiiten nicht auf einen „von ihnen bedingungslos anerkannten und integren Korantext“ einigen, daher nichts zur Überwindung des Problems beitragen. Der inner-islamische Krieg um die Nachfolge des Propheten, begonnen im siebenten Jahrhundert, hat bis heute kein Ende gefunden. Er nährt sich aus dem unheilbaren Schisma, das bereits mit der jeweils für heilig erklärten arabischen Fassung des Korantextes beginnt und seit Jahrhunderten ein unerschöpfliches Potential für inner-islamische Spaltung, Sektenbildung und politische Fragmentierung darstellt, einen Vorwand für Kriege und blutige Gewalt.
Letztlich lassen sich inner-islamische Kämpfe im Mittleren Osten, wie sie heute etwa zwischen Shiiten und Sunniten im Irak, im Libanon, Jemen, oder zwischen dem shiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien in einer die ganze Region entflammenden Erbitterung und Grausamkeit ausgebrochen sind, bei Bedarf immer auf diese Jahrhunderte alten Uneinigkeiten in der Textfassung zurückführen.
Der inner-islamische Hass ist oft stärker als der auf die „Ungläubigen“. Die Unfähigkeit der islamischen Fraktionen, sich auf eine verbindliche Textfassung zu einigen, deutet auf eine gering entwickelte Kultur der Konsensfindung, eine geringe Bereitschaft zu sinnvollen Kompromissen, die sich auch auf andere Bereiche des Lebens auswirken muss.
Für die Bibel besteht ein solches Problem nicht. Spätestens seit der Synode von Javne um 90 unserer Zeit ist der hebräische (in einigen Abschnitten aramäische) Original-Text in bis heute verbindlicher Eindeutigkeit fixiert. Seit dem dritten bis zweiten vorchristlichen Jahrhundert existiert zudem eine von Juden verfertigte, später von den Christen übernommene griechische Übersetzung, die Septuaginta (in die auch einige nicht-masoretische Texte aufgenommen wurden, die sogenannten Apokryphen). Sie liegt in der leicht bearbeiteten Version des Origines, der Hexapla, den meisten späteren Übersetzungen zugrunde, auch der lateinischen Vulgata-Fassung des Hieronymus, die für die katholische Kirche verbindlich ist. Einen eigenen Weg ging die syrische Kirche, die im Aramäischen blieb und einer aus dieser Sprache kommenden, peshita („die Einfache“) genannten Fassung folgt.
Unbestreitbar hat es auch im Judentum verderblichen Fanatismus gegeben und im Christentum Kreuzzüge, Hexenwahn und Inquisition. Doch im Unterschied zum Koran sind solche Missbräuche nicht durch den biblischen Text selbst geboten. Zudem hat, wo das Missverständnis lebensgefährlicher Interpretation im biblischen Text bestehen mag, die über Jahrtausende gewachsene Text-Betrachtung dem biblischen Kanon ein ergänzendes Gesetzeswerk von Adaptionen, Diskussionen und Spezifizierungen zur Seite gestellt, „Zäune für die Tora“, wie man im rabbinischen Judentum sagt, die den Missbrauch des Textes ins Lebensbedrohliche verhindern sollen. Ähnliches unternahm die christliche Theologie. Die ständige Analyse und Auslegung des Ur-Textes im Sinne humaner Lebbarkeit ist in Juden- und Christentum seit langem ein selbstverständliches Vorgehen.
Im Islam sind text-analytische Ansätze traditionell behindert. Der Prophet selbst hat vor derlei „Mutwillen“ gewarnt: „Und wenn du solche siehst, die über unsere Zeichen grübeln, so wende dich von ihnen ab.“ (Sure 6,68) Mohameds Freund und Nachfolger (im Amt des ersten Khalifen) Abu Bekr wird der Spruch zugeschrieben: „Wie könnte mich die Erde tragen oder der Himmel beschatten, wenn ich über den Koran nach meiner subjektiven Meinung spräche, als über etwas, wovon ich nichts verstehe.“ Noch strikter lehnt der maßgebliche Theosoph at-Tirmidi jede nicht durch muslimische Autoritäten gebilligte Beschäftigung mit den „heiligen Texten“ ab: „Wer den Koran nach Gutdünken erklärt, ist dadurch ein Ungläubiger.“
Das Menschenbild: „Gott ist gütig gegen alle, und sein Erbarmen waltet über all seinen Geschöpfen“, heißt es in Psalm 145,9. In dieser Textstelle wird – stellvertretend für viele – das entscheidende Kriterium des biblischen Menschenbildes ausgesprochen: die Gleichwertigkeit aller Menschen vor dem Schöpfer. Das Volk der Bibel hält sich nicht für besser oder moralischer als andere Völker und Religionen. Die hebräische Bibel versucht nirgendwo, Israel zu glorifizieren. Eher das Gegenteil: alle seine Schwächen und Verfehlungen werden in einer manchmal erschreckenden Offenheit dargestellt.
Die „Erwähltheit“ des biblischen Volkes ist als Verpflichtung gemeint, als kritischer Anspruch an sich selbst, nicht als Erhöhung über andere. Der Text betont, dass die Flüchtlinge aus Ägypten, die am Berg Sinai das Gesetz empfingen, nur zu einem Teil Hebräer waren, zum anderen Teil Unterdrückte und Verzweifelte anderer Völker, die sich ihnen angeschlossen hatten, im hebräischen Original erev rav (a mixed multitude in der King James Bible, fremdes Volk in der Luther-Bibel), und diese Fremden „stiegen mit Israel auf“, wie das Verb alah im Hebräischen wörtlich meint, sie nahmen das Gesetz an wie die Hebräer, und schon von daher ist das Sein und Wesen Israels seit seiner eigentlichen Geburtsstunde mit Fremden verbunden.
Den Fremden sollt ihr nicht bedrücken, heißt es immer wieder in den Mosaischen Büchern, denn ihr seid selbst Fremde gewesen in Ägypterland. Die für die Völker der alten Welt unübliche Wertschätzung des „Anderen“ – gemeint im Sinne von „Anderssein“ – begann bei den Frauen. Die zunächst in 1 Moses 3,16 ausgesprochene, von den frühen Völkern als „gottgewollt“ angesehene Superiorität des Mannes gegenüber der Frau wird schon wenig später im selben Buch für die hebräischen Patriarchen korrigiert. In der Abraham-Sarah-Geschichte wird dem Stammvater von seinem Gott geboten, fortan auf seine Frau zu hören: „In allem, was dir Sarah sagt, höre auf ihre Stimme“ (1 Moses 21,12). Die Aufforderung erfolgt in derselben sprachlichen Formel – im Hebräischen sh’ma b kolah – mit der sonst geboten wird, auf das Wort Gottes oder seiner Sendboten zu hören.
Von da an ist in der biblischen Sphäre die Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes aufgehoben, zumindest in Frage gestellt. Wo sie dennoch gesellschaftliche Gepflogenheit blieb, konnte sie jedenfalls nicht mehr für „gottgewollt“ erklärt werden. Die Behauptung der Gottgewolltheit eines solchen Vorrechts wird in der Bibel nirgendwo mehr erhoben. Zwei Stellen im Neuen Testament, in Briefen des Paulus, die einen Aufruf zur Unterordnung der Frau enthalten, berufen sich gleichfalls nicht auf Gottes Wort, sondern geben ausdrücklich die Ansicht des Apostels wieder.
Auch über den Fremden oder Andersgläubigen besteht nach biblischem Verständnis kein gottgewolltes Vorrecht des „Gläubigen“ – so wie kein gottgewolltes Vorrecht des Mannes gegenüber der Frau besteht. Beide Relationen werden oft im biblischen Text verknüpft, das Verhältnis zu den Fremden und das zu den Schwächeren im eigenen Volk, zu den Frauen und Kindern, den ökonomisch Abhängigen und Unfreien, meist in der Metapher ihrer ohnmächtigsten, schutzbedürftigsten Gruppe, der „Witwen und Waisen“.
Im Besonderen wird in der Bibel das Verhältnis zu denen geregelt, die anderen Glaubens sind. Schon zu antiken Zeiten lebten sie zahlreich unter den Juden, als „dein Fremder, der in deinen Toren wohnt“ und wurden (und werden bis heute) in jüdische Segenssprüche eingeschlossen, sogar in den Shabat-Segen. Die biblische Toleranz gegenüber allen Andersgläubigen wird im Buch des Propheten Micha 4,5 verbindlich formuliert: „Mag jedes Volk im Namen seines Gottes wandeln, während wir im Namen unseres Gottes wandeln werden für immer“. Der Bund des biblischen Volkes mit Gott gilt nur für die, die durch Geburt darin einbezogen sind oder sich freiwillig anschließen, die übrige Menschheit mag andere Zugänge zu Gott oder Göttern finden, sie gilt als gerechtfertigt durch die noachidischen Gesetze oder die Disziplin ihrer jeweiligen Religionen.
Unter Berufung auf andere Stellen der hebräischen Bibel ermutigt das Neue Testament zu einer friedlichen Mission unter Andersgläubigen. Diese entwickelte sich aus ihren noch ganz auf inner-jüdische Mission bezogenen Anfängen zu jenem „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“ (Matthäus 28,19). Alle der Mission geltenden Textstellen im Neuen Testament meinen ohne Zweifel die Bekehrung von Individuen, nicht ihre massenhafte Unterwerfung oder das Erobern von Gebieten. Der Text der Evangelien äußert keine Drohungen oder Strafen gegenüber denen, die sich der Bekehrung entziehen. Missbräuche seitens der Kirchen ändern nichts an der ursprünglichen christlichen Idee einer spirituellen Überzeugungsarbeit ohne gewaltsamen Nachdruck.
Den Status von Gott geduldeter, sogar in die Gottesliebe einbezogener Fremder gibt es im Islam nicht. Der Begriff des „Andersgläubigen“ ist im Koran unbekannt, folglich gibt es auch keine Toleranz ihm gegenüber. Die Menschheit ist dort getrennt in Gläubige, denen die Gnade, Barmherzigkeit und Anleitung Allahs gelten, und Ungläubige, die nicht nur davon ausgeschlossen sind, sondern die der Gott des Islam in leitmotivischer Eindringlichkeit zu strafen und von der Erde zu vertilgen verlangt. Die Bestrafung soll sowohl durch Allah erfolgen als auch durch Muslime. Neben zahlreichen Stellen im Koran, die von Gott auferlegte Strafen und Torturen für Ungläubige beschreiben (Sure 2, Vers 189ff., Sure 3,103 und 126, Sure 4, 45, 50, 59, Sure 8,12, Sure 9, 5 u..a), gibt es auch die direkte Aufforderung an die Muslime, etwa in Sure 8 Vers 12: „Trefft sie oberhalb des Nackens und schlagt ihnen jeden Finger ab“. Oder den in Sure 4, Vers 105 ergehenden Aufruf zur Jagd auf Ungläubige: „Und lasst nicht nach, die Ungläubigen aufzuspüren.“
Wo es keine von Gott tolerierten Andersgläubigen gibt und keine anderen Wege zu Gott als den des Islam, kann es auch keine Gleichwertigkeit der Menschen vor dem Schöpfer geben. Das Konzept des Koran vom menschlichen Zusammenleben ist eine klare, sozusagen heilige Hierarchie, eine Unterteilung der Menschheit in zwei Klassen. Mensch erster Klasse ist nach Mohameds Lehre der gläubige muslimische Mann, neben ihm werden sowohl Frauen als auch Nicht-Muslime zu Menschen zweiter Klasse.
Die Frauen werden es dadurch, dass im Koran die Gottgewolltheit der männlichen Superiorität wieder eingeführt wird, jene archaische Vorstellung der frühen Völker, aus welcher das biblische Gesetz herauszuführen sucht.
Die in der Bibel entwickelte Idee einer Gleichwertigkeit der Geschlechter wird von Mohamed nicht aufgegriffen, das in den mosaischen Büchern ausgearbeitete System zur Sicherung der Rechte der Frauen fast völlig ignoriert. In Mohameds Gesetz gilt eine Frau nicht einmal als selbständige juristische Person. Allah hätte, heißt es in Sure 4,38, den Männern Vorrang verliehen, auch das Recht, alle Angelegenheiten der Frauen zu bestimmen, und erwarte von den Frauen Gehorsam. Werde dieser verweigert, solle der Mann die Frau züchtigen.
Die der Frau zugedachte Rolle beschreibt Sure 2, Vers 223: „Eure Frauen sind euch ein Saatfeld. Geht zu diesem Saatfeld, wann immer ihr wollt.“ Bereits die metaphorische Gleichsetzung eines Menschen mit einem Saatfeld, dem Inbegriff des Passiven und Wehrlosen, ist mit unserem Menschenbild unvereinbar. Sie wird noch übertroffen durch die Aufforderung zu vollständiger Willkür im Umgang mit dem zu passiver Hinnahme verurteilten Wesen. Nicht einmal so viel Recht soll der Frau gelassen werden, dass sie wenigstens den Zeitpunkt der männlichen Beiwohnung bestimmen darf. Nach westlichem Rechtsverständnis ist dieser Koran-Vers ein Aufruf zur Vergewaltigung.
Die Metapher vom Saatfeld mit dem Zusatz „Wann immer ihr wollt“ ist die sprachliche Formel für die völlige Entrechtung, in unseren Augen Enthumanisierung der Frauen.
Wie wenig eine Frau im Koran als Persönlichkeit und Einzelwesen verstanden wird, belegt der Umstand, dass einzelne Frauen – jenseits der Sammelbezeichnung al-nisa, Frauen – im gesamten Text nicht in Erscheinung treten.
Im Koran wird nur eine einzige Frau namentlich erwähnt, und diese Einzige ist auch noch der Bibel entnommen: Maria, die Mutter Jesu. Wenn man bedenkt, welche prominente Rolle Frauen in der Bibel spielen, als Prophetinnen, Königinnen, Führerinnen des Volkes, als Mütter und Partnerinnen, als Symbole der Tapferkeit, Klugheit und Retterinnen in der Not, welchen Reichtum an unvergesslichen Frauengestalten die Bibel entfaltet, dann vertritt der Koran, in dem es überhaupt keine Frauenfiguren gibt (außer einer einzigen, der Bibel entliehenen) hier das diametrale Konzept zum biblischen.
Das Menschenbild des Koran ist kein freies, sondern ein hierarchisches, von vornherein politisch geprägtes. Die viel zitierte Toleranz islamischer Herrscher, etwa zur Zeit der Okkupation Spaniens, kann nur vor dem Hintergrund dieser Hierarchie verstanden werden. Es ist keine Toleranz unter Gleichen, eher Indifferenz gegenüber Unterworfenen. Da der jihad, der Heilige Kampf, wie er der „Gemeinschaft der Gläubigen“ geboten ist, nicht primär die Missionierung der Ungläubigen zum Ziel hat, sondern die territoriale Ausdehnung des Reiches der Gläubigen, des dar al-islam, verhält sich die herrschende muslimische Männerkaste, wenn das fremde Gebiet einmal erobert ist, weitgehend indifferent gegenüber den Unterworfenen. Diese müssen das Steueraufkommen des Gebiets erbringen und andere Kontributionen und Menschenopfer entrichten, wie etwa im Osmanischen Reich den Knabentribut, und solange sie es tun, lässt man sie weitgehend bei ihren Sitten und Gebräuchen.
Der Knabentribut (devsirme) ist ein Beispiel für die im Osmanischen Reich üblichen Opfer der unterworfenen Völker: „Alle paar Jahre gingen die Osmanen in ein, sagen wir, serbisches Dorf und griffen sich dort die kräftigsten und klügsten Jugendlichen (…) In der Türkei absolvierten diese eine anstrengende sieben Jahre dauernde Ausbildung: schwere körperliche Arbeit zur Kräftigung ihrer Körper, Unterweisung im Islam und in der Türkischen Sprache. Jene, die sich in Sport und Kriegskunst hervortaten, wurden als Kadetten des Janitsharen-Korps ausgesucht, als ‚Männer des Schwertes‘.
Ihrer Familienbindungen beraubt, kannten sie keinen Interessen-Konflikt und waren loyal nur dem Sultan gegenüber.“ Max Weber nannte eine auf Sklavendienst basierende Herrschaftsform folglich „Sultanismus“: „Im Sultanismus rekrutiert der Herrscher seinen Stab aus Ausländern und Sklaven. Weil diese in der Gesellschaft, die zu regieren sie helfen, wenig Rückhalt haben, sind sie auf die Gnade ihres Herrn angewiesen. Deshalb sind Ausländer und Sklaven die besten Werkzeuge für Willkürherrschaft.“
Doch die Ausbildung zu Werkzeugen des Herrschaftsapparates ließ die herrschende muslimische Männerkaste nur wenigen angedeihen. Gegenüber der großen Masse der Unterworfenen blieb sie, was deren Glauben betraf, relativ gleichgültig. Der Historiker Henri Pirenne nennt den wohl wichtigsten Grund: „Allah ist der Einzige Gott“, heißt es in seinem Buch „Mohammed et Charlemagne“ über die islamische Invasion Europas, „und daher wäre es logisch, dass seine Diener (die muslimischen Männer – Ch.N.) es als ihre Pflicht verstehen, die Ungläubigen zum Gottesgehorsam zu zwingen. Was sie jedoch beabsichtigten war nicht, wie man denken könnte, deren Konversion, sondern ihre Unterwerfung.“
Krieg und Frieden: Die in unseren Augen geringe Wertschätzung des einzelnen Menschenlebens liegt im jihad begründet, dem der islamischen Glaubensgemeinschaft gebotenen heiligen Kampf zur weltweiten Durchsetzung des Islam. Der Prophet lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Kampf erst dann zu Ende sein kann, wenn alle Menschen Allah anbeten und die Gebote erfüllende Muslime sind (Suren 8,39; 61,9 u.a.). Während es missionierenden Christen erklärtermaßen um das Gewinnen von Individuen geht – Jesus bezeichnete seine Jünger als „Menschenfischer“ (Matthäus 4,19) – geht es dem Islam um die Ausweitung des dar al Islam, also um die Beherrschung von Völkern und Territorien.
Das biblische Volk führte eine Reihe von Kriegen zur Gewinnung und Sicherung des ihm versprochenen Landes, wobei dieses Land per definitionem begrenzt ist und seine Grenzen mehrmals im Text genau bezeichnet werden (2 Moses 23,31; 4 Moses 34,3 u.a.).
Kein einziger dieser antiken Kriege wurde mit einem generellen Vorrecht des biblischen Volkes begründet, „Gläubige“ zu sein und daher Anspruch auf „ungläubiger“ Völker Land zu haben. Für das biblische Volk tritt ein Gefühl des Friedens bereits ein, wenn das Gebiet zwischen Dan und Beer Sheva gesichert ist (1 Könige 5,5), nicht erst, wie im Koran, wenn sich das Reich des Islam über die ganze Welt ausgebreitet hat.
Anthropologischer Prozess: Anthropologisch gesehen, ist der in den Mosaischen Büchern für das Volk der Hebräer vorgeführte Prozess, wie Morris S. Seale formuliert, „ein Wechsel in der Lebensweise von revolutionärem Ausmaß. Sie ließen die Gesetzlosigkeit der Wüste hinter sich, für die Gesetzlichkeit einer niedergelassenen Gesellschaft. Die Mosaischen Bücher können daher als Übungsbuch (im englischen Original: training manual) für ein Volk verstanden werden, das sich auf den schweren Weg in Richtung Humanität und Zivilisation begibt.“.
Die nomadische Lebensweise ist dagegen der Zwang zu ständiger Expansion. Nomadisch lebende Völker – in ihrem notgedrungenen Kampf um die elementaren Subsidien des Lebens wie Wasserstellen und Weideland – sind per se kriegerisch.
Daher ist die im Gesetz vom Sinai regulierte Gesellschaftsform eine sesshafte. Die Feste der Juden sind landwirtschaftliche Feste, angeordnet im Zyklus von Saat, Reife, Ernte, symbolisiert in drei Pilgerreisen zum Tempel zur Darbringung von Erstfrüchten. Auch Jesus bewegte sich in dieser landwirtschaftlichen Welt, fast alle seine Gleichnisse sind ihr entnommen. Die Feste der Christen folgen dem alten landwirtschaftlichen Zyklus der jüdischen, unter Hinzufügung einer weiteren, nun mit der Gestalt Jesus verbundenen Komponente.
Im Koran ist dagegen kaum irgendwo von Angelegenheiten der Landwirtschaft und sesshaften Lebens die Rede. Das dort propagierte Bild vom Muslim ist das Bild eines Kämpfers und Kriegers. Auch im späteren Schrifttum genießt die Arbeit in der Landwirtschaft (überhaupt in irgendeiner Form friedlicher Wirtschaft) kein großes Ansehen. Die Überlieferung des Hadit, schreibt ein muslimischer Geistlicher, Maulana Muhammad Ali, „spricht davon als von einer verdienstvollen Handlung, warnt aber zugleich davor, dass jene, die sich ganz der Wirtschaft widmen, nicht fähig sind zu großen und glorreichen Taten“.
Beide Bücher, Bibel und Koran, lassen sich als Anleitung verstehen, wie Völker aus wildem Nomadentum, Faustrecht und Stammeskriegen herausfinden können. Doch sie zeigen verschiedene Wege und Ziele. Ein früher Unterschied liegt im Verhältnis zum Land: in der Bibel ein fest umrissenes Gebiet, das intensiv kultiviert werden soll, um die darauf Lebenden zu ernähren, im Koran ein – nun aus religiösem Grund – ständig zu erweiterndes Territorium. Der Koran enthält einen erneuten Aufruf zum Nomadentum, diesmal zu einem globalen, von der „Gemeinschaft der Gläubigen“ gemeinsam unternommenen. „Das Wandeln auf dem Weg Allahs bedeutet die Ausbreitung des Islam durch den Glaubenskrieg“, schreibt Franz Rosenzweig. „In dem gehorsamen Beschreiten dieses Weges (…) findet die Frömmigkeit des Muslim ihren Weg in die Welt.“
Chaim Noll ist ein deutsch-israelischer Schriftsteller.
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