Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, verbaten mir meine Eltern,
eine ganz bestimmte Schallplatte meiner älteren Schwestern zu hören. Auf
dieser Platte waren „Jugendlieder“ mit frechen Texten voller
Kraftausdrücke, die mich natürlich brennend interessierten, meinen
Eltern zufolge aber nicht für die Ohren eines kleinen Jungen geeignet
waren. Ich weiß noch, wie ich meine Mutter fragte, woher sie denn von
den Kraftausdrücken wisse und ob sie sich die Texte selbst angehört
habe. Sie stockte kurz und wies mich dann an, ich solle nicht so frech
sein, was dem Ende der Diskussion gleichkam.
Was diese Anekdote mit Zensur und dem heutigen Verbotsklima zu tun
hat? Zunächst erst einmal gar nichts. Denn es ist völlig in Ordnung,
wenn Eltern ihren kleinen Kindern den Zugang zu gewissen Inhalten
untersagen. Sie sollten dies sogar tun. Wenngleich das in der Praxis
nicht eben leicht ist.
Meine heute neunjährige Tochter langweilte sich
schon mit sieben Jahren bei Filmen, die eigentlich erst ab 12
freigegeben waren. Dies schützt sie aber nicht davor, Filme ohne
Altersbeschränkung gelegentlich in Alpträumen zu verarbeiten. Umso
wichtiger ist es da, als Erziehungsberechtigter einen guten Überblick zu
behalten und ein ebensolches Gespür dafür zu entwickeln, was welches
Kind wann verkraftet.
„Das ist unfair! Du darfst gucken, was du willst!", maulte sie
neulich, als ich ihr dringend davon abriet, sich den Film „Hachiko“ (FSK
0) anzusehen. Ich wusste, dass dieser Film in diesem Moment bei ihr
nicht gut ankommen würde. „Das ist nicht unfair“, entgegnete ich und
wollte noch ergänzen: „Und außerdem darf nicht einmal ich alles sehen!"
Doch diesen Satz sparte ich mir. Ich hatte keine Lust auf eine
Diskussion darüber, wie ich ihr das Ansehen eines offiziell für ihr
Alter geeigneten Films untersagen könne, wenn ich selbst nicht alles
sehen dürfe. Ich wollte sie in diesem Moment einfach in dem Glauben
lassen, dass ihr geliebter Papa mündig und erwachsen und frei genug ist,
um derartige Entscheidungen selbstbestimmt, wissend und mündig zu
treffen. Es ist bedauerlich, dass Erwachsene ihren Kindern in einem so
zentralen Punkt der Erziehung wie der Frage, was einen mündigen
Erwachsenen eigentlich ausmacht, offen ins Gesicht lügen müssen, um
nicht das eigene vollständig zu verlieren.
Natürlich sind die Altersangaben der Freiwilligen Selbstkontrolle bei
Filmen letztlich nur grob geschätzte Empfehlungen. Letztlich müssen die
Eltern die Entscheidung selbst treffen und die Verantwortung
übernehmen. Aber wie sollen wir Erwachsene denn wirklich und ernsthaft
die Verantwortung für Kinder übernehmen und ihnen ein Vorbild in Sachen
Mündigkeit sein, wenn wir selbst offensichtlich Vormünder und Vorkoster
brauchen, die für uns entscheiden, was wir hören, sehen, lesen, denken
und sagen dürfen?
Denn letztlich geht es ja genau darum, wenn Politiker
entscheiden, diese oder jene Veröffentlichung zurückzuziehen oder diese
oder jene Partei zu verbieten. Sie tun es, etwa weil sie, wie sie sagen,
„Volksverhetzung“ verhindern wollen. Aber wie kann wer feststellen, was
ein Volk verhetzt, wenn man nicht einmal bei Kindern einschätzen kann,
was sie wann um den Schlaf bringt?
Es ist interessant, dass die Diskussion darüber, ob irgendetwas
verboten werden soll oder nicht, sich immer nur um dieses Irgendetwas
dreht und nie um diejenigen, die es angeblich zu schützen gilt. Immer
wird darum gestritten, ob irgendetwas noch akzeptabel ist oder schon
verboten gehört, ganz so, als gäbe es dafür eine in Stein gemeißelte
Skala, an der man abmessen kann, ob die gottgegebene Grenze des
Tolerierbaren überschritten wurde oder nicht. Warum wird eigentlich die
Frage, womit Bürger umgehen können beziehungsweise können sollten,
entschieden, ohne zuvor festzustellen, ob und wenn wie sie damit
tatsächlich umgehen? Die Antwort darauf kann eigentlich nur lauten: Weil
unterschiedliche Menschen ganz unterschiedlich mit Inhalten umgehen und
dies von ganz vielen Faktoren abhängt. Aber wenn jeder anders ist, wer
ist dann das Maß? Soll ich meiner Tochter Kinderfernsehen verbieten, nur
weil sie bei anderen Filmen der Klasse „FSK 0“ manchmal Alpträume
bekommt?
An dieser Stelle der Argumentationskette fällt mir meine freche
Kinderfrage an meine Mutter wieder ein: Haben diejenigen Damen und
Herren, die bestimmte Inhalte für verbotswürdig halten, sie zuvor selbst
auf ihr verhetzendes Potenzial hin überprüft, am eigenen Leibe etwa?
Hat es sie denn auch verhetzt? Und wenn nicht, warum sollte dieser
Effekt bei dem Rest ihres Volkes eintreten? Bei wem genau? Woran
unterscheidet man verhetzungsimmune Erwachsene von
verhetzungsanfälligen? Sind die einen, obgleich ebenfalls erwachsene und
mündige Bürger, am Ende doch weniger erwachsen, weniger mündig und
weniger Bürger als andere, man traut sich nur nicht, es auszusprechen?
Macht man sie dadurch, dass man ihnen nur gefilterte Realitäten
vorsetzt, nicht erst wirklich unmündig? Was bedeuten diese ganzen
Begriffe eigentlich, wenn sich hinter der Fassade der rechtlichen und
politischen Gleichheit aller mündigen Bürger inoffizielle
Unterscheidungen verbergen, die den Einen das Recht geben, den Anderen
vorzuschreiben, was gut ist und was nicht?
Ich halte die Meinungsfreiheit für das grundlegende und zentrale
Freiheitsrecht eines jeden mündigen Individuums. Und dieses Recht
bezieht sich auf jeden Menschen, und dies völlig unabhängig von der
jeweiligen Meinung. Die Meinungsfreiheit ist unteilbar, sie gilt völlig
losgelöst vom Inhalt der Meinung für jeden, oder sie gilt überhaupt
nicht. Wer hier Einschränkungen bezüglich bestimmter übelriechender,
ekelhafter und menschenverachtender Inhalte fordert, legt in Wahrheit
nicht deren Urheber in Ketten, sondern alle potenziellen Empfänger, da
er diesen die Mündigkeit abspricht, Übelriechendes, Ekelhaftes und
Menschenverachtendes selbst zu erkennen und entsprechend zu behandeln
oder dies zu lernen. Ich habe nie verstanden, wie man Demokrat sein
kann, wenn man von ganz normalen Leuten eine solche Meinung hat.
Beschränkungen der Meinungsfreiheit degradieren die Öffentlichkeit zu
einer unmündigen verführbaren Masse und mich persönlich zu einem
orientierungs- und willenlosen Schaf, das man zum Positiven gängeln und
belügen zu müssen glaubt, damit es sich nicht in einen blutrünstigen
Wolf verwandelt. Ich halte dies für eine so unerträgliche Beleidigung
und Beeinträchtigung meiner Individualität, dass ich nicht gewillt bin,
von meiner Meinungsfreiheit auch nur einen Millimeter preiszugeben.
Ach
so, diese wohlmeinende Steuerungspolitik ist gar nicht gegen mich
gerichtet, sondern gegen „die Anderen“?
Dann bin ich ja beruhigt, denn sowohl diese „Anderen“ als auch der
komplette Rest der Gesellschaft werden damit umgehen müssen, dass meine
Meinungsfreiheit unantastbar ist und ich selbst darüber entscheiden
will, was ich sehe, lese, höre, denke, sage und schreibe oder sonstwie
ausdrücke, sei es durch Kleidung, Musik oder sonstiges. Und so, wie ich
mir dieses Recht nehme, so gestehe ich es auch jedem anderen Menschen zu
und verteidige es, auch dann, wenn ich dessen Haltung verabscheue. Das
bedeutet Mündigkeit, und wer dies für verantwortungslos und egoistisch
hält, sollte möglichst schnell damit beginnen, Verantwortung für seine
eigene Individualität zu übernehmen und zu entdecken, wozu Freiheit gut
sein kann.
Als ich mit meiner Tochter kürzlich im Fernsehen einen Bericht
darüber sah, dass ein arabischer Fernsehsender die Bikinis der
olympischen Beachvolleyballerinnen mit schwarzen Balken überdeckte,
hielt ich die Luft an. Ich sah förmlich, wie es in dem kleinen Gehirn
neben mir arbeitete, und ich atmete innerlich tief durch, als sie es bei
der überaus klugen Beobachtung beließ, die Spielerinnen würden mit dem
Balken ja aussehen, als wären sie nackt. Sie hatte die Perversion der
Zensur erkannt und auf den Punkt gebracht. Ich hoffe, sie wird später
auch verstehen, dass die Notlüge bezüglich meiner eigenen vorgeblich so
unbegrenzten Meinungs- und Entscheidungsfreiheit letztlich nur ihre
eigene Vorstellung retten sollte, dass es erstrebenswert ist, erwachsen,
mündig und frei zu sein.
Matthias Heitmann ist freier Publizist und Vortragsredner. Sein
aktuelles Buch heißt „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des
modernen politischen Denkens“ (TvR Medienverlag Jena, 2015, 197 S., EUR
19,90). Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de. Dieser Artikel ist zuerst am 31.8.16 auf der Website Tichys Einblick erschienen.
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