Stationen

Mittwoch, 5. Oktober 2016

Das kann funktionieren


Das Brexit-Votum wurde gemeinhin als eine Wahl zwischen europäischem Kollektivismus auf der einen und britischem Nationalismus auf der anderen Seite gesehen. Aber Großbritannien hat nun, nach seiner Entscheidung, die Europäische Union (EU) zu verlassen, die seltene Gelegenheit, global eine neue Richtung zu weisen. Denn es gibt noch eine dritte Wahlmöglichkeit für Großbritannien – nämlich die, eine Allianz nordeuropäischer Staaten zu schaffen.
Dieser neuen Nord-Union, einer nördlichen Handels- und Sicherheitsallianz, würden Staaten angehören, die sich – wie Großbritannien – gegen die erstickende Bürokratie der EU und ihre ewigen Geldansprüche sträuben. Zum Beispiel Finnland, das sich finanziell geschröpft sieht durch Subventionen an verschwenderische südeuropäische EU-Mitgliedsstaaten und durch Brüssels unerschöpfliche Programme zur Eurorettung.

Auch Finnlands Nachbarn in Skandinavien fragen sich, warum sie weiter in der EU bleiben sollten, wenn Großbritannien den Club nicht länger stützt. Und einer der skandinavischen Staaten geht in der Tat bereits seinen eigenen Weg: Norwegen genießt uneingeschränkt freien Handel im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) unter Beibehaltung seiner eigenen Währung und bei weltweit hoher Nachfrage.

Island, das 2010 EU-Beitrittskandidat geworden war, folgte dem norwegischen Beispiel. Im März 2015 zog die winzige, knapp am Staatsbankrott vorbeigeschlitterte Inselrepublik offiziell ihren Beitrittsantrag in Brüssel zurück – und das aus gutem Grund: um seine gescheiterten Banken nicht nach EU-Regeln mit Steuergeldern retten zu müssen. Dabei ist Island keineswegs abgeneigt, in eine Sicherheitspartnerschaft einzutreten, die eine Alternative zur EU bietet.

Die Dänen schließlich zahlen, wie die Finnen, mit wachsendem Widerwillen ihre kontinuierlich steigenden Beiträge an die EU. Was aber, wenn die Dänen ihren Weg heraus aus der Falle von Brüssel fänden? Was, wenn dieser neue Weg frei von nationalem Chauvinismus wäre – und in Übereinstimmung mit dem Aufbau einer strategischen Position mit Auswirkungen weit über den eigenen Raum hinaus?

Selbst die Unabhängigkeitsbewegung in Schottland verlöre viel von ihrer wirklichkeitsfernen Anmutung, wenn Edinburgh sich mit Dublin, Belfast, Cardiff und London in einer Nord-Union wiederfände.

Irland schöpft derzeit frischen Mut. Auf der Insel will man die Arbeitsplätze der amerikanischen Unternehmen nicht dadurch verlieren, dass Apple und Co vor Brüsseler Strafsteuern in das nun befreite England fliehen und die keltischen Experten gleich mitnehmen. Dublin war immer bereit, sich für generöse Strukturhilfen ein wenig zu ducken. Doch jetzt braucht die Angst, dass die EU seine geradezu helvetische Konkurrenzfähigkeit zerschlägt, einen neuen Beschützer.

Auch kleine Länder wie Estland könnten, ebenso wie Regionen von EU-Staaten wie Flandern in Belgien, gute Gründe dafür sehen, sich einer Nord-Union anzuschließen. Man braucht sich nur vorzustellen, um wie viel hoffnungsvoller die Flamen in die Zukunft sähen, könnten sie sich aus der glücklosen Föderation mit einem ewig fordernden Wallonien lösen, um Halt in einer bisher nie auf dem Radar erschienenen Allianz zu finden.

Selbst der deutsche Stadtstaat Hamburg wäre ein Kandidat für die Mitgliedschaft in einer solchen Union. Heute zahlt die Elbmetropole nicht nur Steuern für Brüssel, es wird auch im Rahmen des Länderfinanzausgleichs kräftig zur Kasse gebeten zugunsten von Ländern mit schwacher Finanzkraft wie dem benachbarten Stadtstaat Bremen und dem ebenso hoffnungslos verschuldeten Saarland. Kein Wunder, dass eine Mischung aus Verärgerung und Niedergeschlagenheit unter den einst so selbstbewussten und lange schon anglophilen Hanseaten weit verbreitet ist.
Was aber, wenn sich Hamburg zum südlichen Tor einer Nord-Union entwickelt und damit zum Leuchtturm für Kontinentaleuropa heranwächst? Eine solche Rolle wäre bestens dazu angetan, den alten Elan wiederzubeleben. Ein Blick zurück: 200 Jahre lang, von 1664 bis 1864, fungierte Hamburgs westlichster Stadtteil Altona als Kontinentalhafen Dänemarks. Träte Hamburg einer Nord-Union bei, entschlösse sich das benachbarte Schleswig-Holstein schnell auch zu diesem Schritt. Mit seiner dänischen Minderheit und mit seinem Nord-Ostsee-Kanal, der meistbefahrenen künstlichen Wasserstraße für Seeschiffe weltweit als „Mitgift“ wäre dem Bundesland ein freundlicher Empfang in der Nord-Union sicher.
Und: Niemand könnte allen Ernstes behaupten, diese Entscheidung führe Hamburgs und Schleswig-Holsteins rund 4,5 Millionen Bürger rückwärts in eine dunkle, nationalistisch geprägte Vergangenheit. In einem Status der Unabhängigkeit von Deutschland wären sie eine Minderheit inmitten einer größeren Föderation – und damit frei von chauvinistischen Ambitionen. Sie wären auch frei, ihre Vorstellungen von wirtschaftlichem Erfolg und Wohlstand in die Tat umzusetzen, ohne weiterhin den Allüren der Brüsseler Nomenklatura und ihren Berliner Wasserträgern ausgeliefert zu sein.

Historische Vergleiche sind nur bedingt hilfreich, aber es drängen sich Parallelen auf zwischen der Vorstellung einer Nord-Union mit teildeutscher Beteiligung und der Situation, in der sich die baltischen Städte Danzig, Elbing und Thorn als preußische Hansestädte mit überwiegend deutscher Bevölkerung einst befanden. 1454 – und von da an für fast 350 Jahre – hatten sie unter der polnisch-litauischen Krone politische Zuflucht genommen, um sich der Ausplünderung und der Gewalteinwirkung durch ihre Landsleute vom Deutschen Ritterorden zu entziehen. Wer das als Separatismus ächten wollte, würde damit nur seinen ungebrochenen Nationalismus offenbaren.

Keine Region sollte sich gezwungen sehen, Teil einer als erstickend empfundenen EU zu bleiben. Der Ausstieg Großbritanniens wird langfristig nicht das Chaos verursachen, das viele voraussagen. Im Gegenteil. Er wird, davon bin ich überzeugt, die Teile der globalen Wirtschaft, die unter dem rigiden Einfluss der EU in die Stagnation geraten sind, mit frischer Energie versorgen. Beim Ja zum Brexit ging es nicht nur darum, dass Großbritannien es leid ist, sein Geld der EU zum Verjubeln ausliefern zu müssen – es ging auch darum, dass das bürokratische Ungetüm EU sich als ebenso unwillig wie unfähig zu jeder vernünftigen Kurskorrektur erwiesen hat.
Kosmopolitische Briten vermerken mit Unruhe, wie Konkurrenten in Übersee Talente zu sich holen, zugleich aber Nachwuchs für Terror und Schulversagen fernhalten. Um das ebenfalls zu dürfen, wollte Großbritannien seine Souveränität zurück. Das galt auch für die meisten Anti-Brexiter, denn nur 6 Prozent aller Briten wollten eine Vertiefung der EU.

Könnte also ein nördliches Bündnis, bestehend aus Großbritannien, Irland, Flandern, den Niederlanden, Dänemark, Grönland, Island, Norwegen, Schweden, Finnland und Estland, zusammen mit Hamburg und Schleswig-Holstein, tatsächlich Aussichten auf ein Gelingen haben? Selbstverständlich. Die multikulturelle Nord-Union (NU) würde sich über ein Gebiet von 3,83 Millionen Quadratkilometer erstrecken – die elftgrößte politische Formation weltweit – mit 120 Millionen Menschen (global Rang 7), die Englisch als Mutter- oder erste Fremdsprache beherrschen.
Diese Bevölkerung wäre demografisch vergleichbar mit einem verdreifachten Kanada oder einem verfünffachten Australien. Unnötig zu erwähnen, dass die NU sich an deren wirtschaftlicher Effektivität und smarter Einwanderungspolitik orientieren würde. Und: Die NU würde mit ihrer 5,7-Billionen-Dollar-Wirtschaft den vierten Platz einnehmen.
Außer Schweden und Finnland gehören alle NU-Kandidaten zur NATO. Dazu passen optimal die britischen Nuklearboote: Nur Toren wollen schutzlos durchs 21. Jahrhundert. Erpressereien bei den Brexit-Verhandlungen unterbinden dann schon die Weiseren, die Londons Wohlwollen nicht verlieren wollen. Mit einer gemeinsamen Währung und ihrem Reichtum an Öl, Gas, Wasserkraft und Schiefergas könnte die NU dem viel stärker vergreisten Japan die Bronzemedaille in Sachen globaler Wirtschaftskraft streitig machen und zur Nummer 3 hinter den USA und China aufrücken.
Die Bildung einer Nord-Union würde einen freundlichen, aber entschlossenen Konkurrenten zur EU entstehen lassen. Die EU würde 7 bis 11 Milliarden Dollar im Jahr an Beitragszahlungen einbüßen. Die Rebellen im Norden wären in der Lage, eine eigene, schlanke Verwaltung auf die Beine zu stellen, die nur einen Bruchteil dessen kostet – und den Rest dafür zu verwenden, ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Die verbliebenen EU-Staaten würde alsbald merken, dass sie gleichziehen müssen, wenn sie nicht gänzlich scheitern wollen. Während sie jetzt wie Ertrinkende den in die Rettungsboote gelangten Engländern wüste Flüche hinterherschicken, könnten sie dann – endlich befreit von Subventions-Milliarden und Euro-Rettungsschirmen – ihre viel zu lange schon gelähmten Energien für einen innovativen Rückweg auf die Märkte wieder freisetzen.
Nach Bildung einer NU sollten aus eigener Kraft wieder auf die Beine findende Resteuropäer durchaus an ihre Tür klopfen dürfen. Sie wüssten, dass es diesmal um eine Union freier, aber miteinander konkurrierender Regionen geht, die die kollektivistische Gleichschaltung hinter sich gelassen hat. Sie bietet nicht mehr, aber auch nicht weniger als Schutz vor äußeren Feinden und inneren Rechtsbrechern. Ein „Europa über alles“ ist ihr so unangenehm wie all die früheren Hegemonie-Bestrebungen. Trotz aller Vergeudungen der letzten Jahrzehnte ist es für eine solche Option keineswegs zu spät. Dass man sich ernsthaft an ihr versuchen kann, zeigen die Anstrengungen der Schweizer – wohlhabend, verteidigungsbereit und vier Sprachen überbrückend – seit Jahrhunderten.   Gunnar Heinsohn

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.