Stationen

Mittwoch, 5. Oktober 2016

Sils



„Mir ist, als wäre ich im Lande der Verheißung. Hier will ich lange bleiben.“ Friedrich Nietzsche war von seinen Gefühlen überwältigt, als er das erste Mal in den Schweizer Kanton Graubünden nach Sils kam. Die Spuren des Wan­derers sind dort noch längst nicht verblasst.

Eigentlich war der Basler Philosophieprofessor auf der Durchreise nach Italien. Von der Zwi­schenstation St. Moritz wollte er 1879 über die steilen Serpentinen des Malojapasses weiter in Richtung Comer See, als er etwa
30 Kilometer vor der Grenze in dem kleinen rätoromanischen Ort Sils mit der Postkutsche festhing.

Das Dorf im Hochtal des Engadin, das damals nur aus wenigen Almhütten bestand, wurde für ihn tatsächlich zur Verheißung. Hier entstanden große Teile seines berühmtesten Werks „Also sprach Zarathustra“ wie auch sein Buch „Jenseits von Gut und Böse“. Von 1881 bis 1888 hatte er hier sein Sommerrefugium, wo er ungestört denken, schreiben und wandern konnte. Für einen Franken am Tag lebte er in einem kleinen unbeheizten Zimmer eines im Schatten eines Berghangs stehenden Hauses, das inzwischen zur Wallfahrtstätte für Nietzscheaner aus aller Welt geworden ist.

Seit 1960 gehört es einer Nietzsche-Stiftung und dient als Mu­seum sowie als Forschungsstätte für angehende Philosophen, die in dem Haus für eine begrenzte Zeit auch wohnen dürfen. Zu be­sichtigen ist auch die dunkle  Stube im ersten Stock, die Nietzsche grün tapezieren ließ, da der stark lichtempfindliche Mann umgeben von dieser Farbe am besten schreiben konnte. Am letzten Septemberwochenende veranstaltet das Nietzsche-Haus alljährlich ein Kolloquium, das diesmal vom 29. September bis 2. Ok­tober im Fünf-Sterne-Hotel Waldhaus in Sils unter dem Motto „Nietzsche und die Politik“ steht.
Von Politik hielt sich Nietzsche in seiner Silser Zeit weitgehend fern. Er ließ sich lieber auf Wanderungen von der guten En­gadiner Gebirgsluft durchwehen. Die flache auf 1800 Metern gelegene Hochgebirgs-Landschaft von Sils kam dem sehbehinderten Nietzsche entgegen, fühlte er sich hier doch trittsicher. Bei Bergwanderungen wäre er nur ins Stolpern geraten. „Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich laufen“, heißt es im „Zarathustra“. Auf der Hochtalebene konnte er zwischen St. Moritz und Sils von See zu See laufen. Die Seenplatte wird vom Inn ge­speist, der unweit von hier entspringt und der hier En heißt. Das Engadin ist denn auch der rätoromanische Name für den „Garten des En“.
Bei einer der Wanderungen in seinem „Garten“ entdeckte Nietzsche am Ufer des glasklaren Silvaplanasees einen pyramidenförmigen Fels, der ihn auf den Grundgedanken zu „Also sprach Zarathustra“ brachte. Heute ist eine Inschrift in diesen „Nietzsche-Stein“ eingefasst mit dem Satz des Denkers: „Bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block bei Surlej macht ich Halt. Da kam mir der Gedanke.“
Lieblingsziel seiner Wanderungen aber war die kleine Halbinsel Chasté am Silsersee, die sich gemütlich umrunden lässt. An der Spitze der Landzunge befindet sich ein weiterer Felsblock mit einer Nietzsche-Inschrift: Es handelt sich um das „Zarathustra“-Gedicht „Oh Mensch! Gieb Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht?“, das durch Gustav Mahlers Vertonung in seiner Sinfonie Nr. 3 be­rühmt wurde.
Nach den Wanderungen knurrte dem Denker der Magen. Zurück vom Silsersee lief er an dem Hang entlang, auf dem heute das Hotel Waldhaus thront, spazierte ins Dorf und ließ sich im Hotel Alpenrose, meistens aber im gleich direkt neben dem Nietzsche-Haus gelegenen Hotel Edelweiß einen Rostbraten mit Omelette für 2,25 Franken servieren. Im Hotel Edelweiß kann man noch heute etwas Nietzsche-Flair im prächtig erhaltenen Jugendstilsaal erleben. Thomas Mann, Ril­ke, Hesse, Marc Chagall – sie alle speisten oder wohnten in diesem Hotel, wo heute jedermann im ehrwürdigen Festsaal jeden Donnerstagabend bei einem „Konzert-Dîner“ mit Live-Musik und einem Fünf-Gänge-Menü etwas von dem früheren Grand-Hotel-Charme nachempfinden kann.
Hätte der halbblinde Nietzsche Panoramablicke genießen können, dann hätte er wohl auch Ausflüge in die Umgebung unternommen. Ins steil ansteigende Fextal bringen heute wie zur Nietzsche-Zeit Pferdekutschen die Touristen zu Wanderexkursionen. Der frühere Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado, besaß in dieser Bergidylle ein Chalet. Nach seinem Tod im Jahr 2014 ist er hier oben nahe des feinen Hotel-Restaurants „Sonne“ bei einer kleinen Kapelle in einem Urnengrab beigesetzt.
Nietzsche hat die höchsten Gipfel philosophischer Erkenntnis er­reicht, aber auf dem Gipfel des Corvatsch, der mit seinen 3300 Metern Höhe die östliche Talseite überragt, war er nie gewesen. Heute wird das Gebiet unterhalb der Spitze von Bergwanderern im Sommer und Skifahrern im Winter beherrscht. Am 19. No­vember wird hier eine ultramoderne Sesselbahn im Porsche-Design in Be­trieb genommen, die als über zwei Kilometer lange Querverbindung zwischen dem Corvatsch und Sils-Furtschellas zwei Skigebiete umschließt.
Weil Nietzsche die Gegend so sehr liebte, schrieb er an seine Mutter: „Bitte halte Freunde und Bekannte von Sils fern. Ich will keine Besuche.“ Jede Ruhestörung war ihm unwillkommen. Bis heute ist Sils eine Oase der Ruhe geblieben. Anders als das benachbarte mondäne St. Moritz mit seinem Trubel durch die Schönen und Reichen ist Sils nicht verbaut und hat seinen alpenländischen Charme bewahrt. Nur das Wetter sorgt durch die berüchtigte „Ma­loja-Schlange“, die sich mit kühlen Winden durchs Tal schlängelt und es auch mal im Sommer schneien lässt, manchmal für Un­behagen. 2014 entstand hier ein Film mit Kinostar Juliette Bi­noche, der den vielsagenden Titel „Die Wolken von Sils Maria“ trägt.
Solche Unwetter waren es auch, die Nietzsche letztlich aus Sils vertrieben haben: „Der Sommer war ein Skandal“, schrieb er 1888 einem Freund. Inzwischen wäre es ein Skandal, nicht wenigstens einmal im Leben ins herrliche En­gadin zu reisen. Harald Tews

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