Zwölf Menschen sind beim Anschlag in Berlin getötet worden. Ihr Leben ist
vorbei. Wir anderen leben noch. Und das reicht nicht. Wollen wir den Opfern und
ihren Angehörigen unseren Respekt zollen, dann ist „am Leben sein“ nicht genug.
Pietätvolles Die-Schnauze-halten und vornehme Zurückhaltung ebenso wenig. Die
einzige Art, diesen Umstand in Dankbarkeit zu würdigen, ist, die Wunde nicht
verheilen zu lassen, sondern offen zu halten mit der Frage, wie wir dieses eine
Leben, das uns gegeben ist, leben wollen.
Obwohl von politischer und medialer Seite keine Antwort zu erwarten ist auf
eine Frage, die jeder nur für sich allein beantworten kann, sind die
Verlautbarungen unfreiwillig hilfreich, weil entlarvend. Da wird mit Worten und
Mienenspiel seelischer Erschütterung in „freiheitlichen Werten“
herumgestochert, mit Pathos die Salbe einer „freiheitlichen Gesellschaft“
draufgeklatscht und eine „liberale Gesellschaftsordnung“ angepappt. Nie jedoch,
nie ist die Rede von Freiheit. Man geht darüber hinweg: „C’est la guerre. N’en
parlons pas.“ (Das ist der Krieg. Reden wir nicht darüber.)
Der professionell vermittelte Eindruck von Ergriffenheit muss als Beweis für
Nützlichkeit und Wert jedweder Absichtserklärung und getroffenen Maßnahme
reichen. Und er tut es. Denn: Wir vertragen Freiheit nur noch in pürierter
Form. Als gemüsifiziertes, breiiges Wort ohne Würze oder Nährstoffgehalt. Gäbe
man uns rohe, harte, scharfe Freiheit zu kosten, würden wir uns fürchterliche
gesellschaftliche Stoffwechselnöte einhandeln. Und das meiste von dem, was sich
Politik nennt, würde verschwinden. Denn: Freiheit ist kein Spaß. Freiheit ist
vor allem anderen eine Frage, die wehtut. Sie lautet: Auf wessen Kosten? Das
ist der Kern aller Freiheit, und für den Freien kann es darauf nur eine Antwort
geben: Auf meine Kosten. Immer.
Davon sind wir heute weit entfernt. Was einst Freiheit war – treibende
Kraft, offener Raum und Bürde zugleich – wurde über Jahrzehnte aufs
sorgfältigste demontiert und auseinandergenommen, um die Teile anschließend zu
etwas Neuem zusammenzusetzen. Das Resultat, das Endprodukt staatlich
gewünschter Neukomposition ist der befreite Mensch: grenzen- und schamlos
ich-zentriert, Nachwuchs und Nächste verklappend, geschlechtsreisend, mäkelnd,
satt, von außen fordernd, sentimental, verängstigt, gefügig, politisch korrekt,
zwar kontinent, aber ansonsten leer. Oder um mit Nietzsche zu sprechen: „lauter
Vordergrund, alles überfüllt“ – dahinter Beklemmung, die ahnt und nicht
ahnen will.
Wen wundert‘s, dass jene, von denen wir uns „führen“ lassen, nicht darauf
hinweisen, dass, was bleibt und als „Leben“ herhalten muss, erkaltet,
ausgemessen, geordnet und verwaltet ist. Dass der befreite Mensch in Wahrheit
nur noch ein Aufriss des freien Menschen ist. Dass jede Befreiung, die von
dieser Seite kommt, das Gegenteil von Freiheit ist. Und dass sie nichts so sehr
fürchten wie die Stärke eines in Freiheit ganzen, ungeteilten und ungespaltenen
Menschen.
Denn: Wie aristokratisch, herrisch und kraftvoll ist gegen diese fade
staatliche Bewerbung angeblich Sicherheit gewährender Gemeinschafts-Schabracken
die Ansage der Freiheit: Wofür ich bezahle, gehört mir, und das, wovon ich
will, dass es meines ist, muss ich bezahlen.
Hart? Ja – aber wundervoll. Freiheit ist die größte Bejahung des Lebens
überhaupt. Sie ist der Kern. Das Eigentliche. Und sie hat nichts, aber auch gar
nichts, mit dem landläufigen „Gegen alles“ zu tun, als das jene, die nie auf
eigene Kosten handeln, sie heutzutage zu verunglimpfen versuchen. Freiheit ist
Lebensliebe und verbittet sich jeden billigen generellen Daseins-Hass, weil
Dinge, Werte, Taten oder Menschen, auf die man angeblich ein Recht zu haben
glaubt, nicht frei Haus geliefert werden. Freiheit hasst nur punktuell und nur
die Tyrannei.
Kein Wunder, dass diese zurückschlägt. Dass jedes mehr oder minder
exzentrische Widerstandsnest freiheitlicher Kompromisslosigkeit – allen
voran alternative Medien – ausgerottet werden muss. Gründlich. Da reichen
die gängigen Parolen und Bosheiten, die das Gros der Gefügigen einschüchtern
und verängstigen, nicht mehr. Da muss der große Hammer her. Häme, Hetze, Radau,
Krach, Bankrott, Sturz. Wer nicht berufliche oder soziale Suizidneigungen hegt,
schweigt oder besser noch: schlägt sich auf die „richtige“ Seite und lässt sich
einreden, einbilden, einpredigen und einlügen, dadurch zu kämpfen, dass er
nicht kämpft.
Aber es gibt auch die anderen – Partisanen der Freiheit. Und täglich
stoßen einige dazu, die sich das Wissenwollen auf die Fahne geschrieben haben,
auch wenn sie noch mit Angst zahlen. Menschen, die Freiheit als Symbol ihres
Menschseins schlechthin verstehen, sie zu Ende denken und zu Ende lieben und
sie zum Gesetz nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch des eigenen Sterbens
machen wollen. Die sich bewusst sind oder werden, dass diese Entscheidung einen
schmerzvollen Ausschluss zur Folge haben kann und dass sie in die Situation
geraten können, wo die Illegalität des Handelns der Legitimität des Wollens
gegenübersteht. Und dass sie täglich erneut werden entscheiden müssen.
Aber: „Kinder! – Nehmt euch selbst doch nicht so feierlich! Jeder hat
seinen Sparren.“ (Tucholsky) Was soll dieses Aufeinander-Rumgehacke, die
Verausgabung auf Nebenschauplätzen, wo wir doch alle dasselbe wollen? Was
schert es uns, dass der eine seine Kraft zu echter Freiheit im Jenseitigen
sucht und findet, während man selber eher diesseitsmäßig gebunden ist. Nicht
die Gebundenheit ist das Primäre – die Freiheit ist es! Wieviel Energie
wird hier verschwendet! Es war Clemenceau, der sinngemäß sagte, dass darin die
Kunst des Krieges bestehe, dass man alles in Rechnung stelle: die
Begriffsstutzigkeit der Menschen, die Langsamkeit des Durchdringens, die
Borniertheit der anderen, Dinge, die gar nicht oder nicht so laufen, wie man es
wünscht. Und dass man mit all dem den Sieg schaffen müsse.
In diesem Punkt hatte er recht. Uns streiten, verachten, im Disput
bekämpfen, konkurrieren, unterliegen, gewinnen, lieben, unterstützen, fördern,
bekehren, kurz: leben können wir nur, wenn diese eine Bedingung erfüllt ist:
Freiheit.
Das ist der Krieg. Reden wir darüber! Frank Jordan
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