Stationen

Samstag, 1. Oktober 2016

40 Jahre Vergangenheitsbewältigung haben am Ende nur die Verblödung zeittypisch aktualisiert

Da konnten wir endlich aufatmen. Teufel Trump hat seine erste Fernsehschlacht gegen Himmelreich Clinton verloren, sagen die Umfragen. Die Guten liegen wieder um eine Lügennasenlänge vorn.

Doch es ist noch nicht geschafft. Es folgen weitere TV-Duelle, die Wahl ist Wochen hin.
Wie kann es eigentlich angehen, dass rund die Hälfte eines Volkes von 320 Millionen Menschen diesen blonden Satan ins Weiße Haus wünscht? Ja, wie bloß? Eines machen unsere Meinungsfürsten bei jeder Gelegenheit als erstes klar: Mit echter, sachbezogener Unzufriedenheit mit der Entwicklung der USA und dem Wirken der politischen Klasse dort hat das alles natürlich nichts zu tun. Es ist die „Wut der Abgehängten“, die „diffuse Abstiegsangst der Mittelschicht“, welche die US-Amerikaner in die Pranken des „Rattenfängers mit den einfachen Antworten treibt“, der „rassistische Vorurteile schürt“.

Kurz gesagt: Um sich mit möglichen Argumenten der Clinton-Kritiker gar nicht erst auseinandersetzen zu müssen, spielt man mal den Therapeuten, mal den Moralisten: Trump ist böse, und wer ihm folgt, ist entweder selber böse oder von Ängsten getrieben, wenn nicht geistig gestört oder einfach bloß dumm.

Wer noch leise Zweifel hatte, dass die deutschen Staats- und Konzernmedien ein „Kartell“ gebildet haben, welches nur eine Meinung zulässt, der verfolge deren Aufbereitung des US-Wahlkampfs. Es scheint, als guckten und läsen wir ausschließlich die Partei-Organe von Clintons Demokraten.

Einseitigkeit ist zu deren Glück viel schwerer zu durchschauen, wenn ein Ozean und eine Sprachbarriere zwischen uns und der Wirklichkeit liegen. Da können uns die Medienleute eine Realität zusammenpinseln, wie sie ihnen gefällt, ohne dass wir das nachprüfen oder durch eigene Erfahrung korrigieren könnten. Diese Möglichkeit nutzen sie weidlich aus.
In der Berichterstattung über die deutschen Zustände fällt ihnen das nicht so leicht, auch wenn sie es Tag für Tag aufs Neue versuchen.

Neulich hat sich der „Tagesspiegel“ die „Identitäre Bewegung“ zur Brust genommen. Als besonders abstoßend hob das Blatt hervor, dass diese neue Jugendbewegung in der „Wahnvorstellung“ lebe, es gehe ein „großer Austausch“ der Bevölkerung Deutschlands mittels Massenzuwanderung vor sich.
Dies in einem Blatt zu lesen, das in der Metropole Berlin gemacht wird, ist schon bemerkenswert.

Die Kollegen gelangen vermutlich morgens durch einen tiefen Tunnel in ihre fensterlose Redaktion. Nur so kann es ihnen gelungen sein, sich vor den Wahnvorstellungen zu schützen, die in jenen Deutschen aufsteigen, die die Straßen benutzen, wo sie die sprunghafte Veränderung ihrer Heimat bei Tageslicht betrachten müssen.
Aber die Erfahrung dieser Normaldeutschen zählt ja nicht. Deshalb erinnern wir lieber an die Auslassung eines Journalisten, der bei einem Qualitätsmedium arbeitet und diesen Sommer etwas Erhellendes getwittert hat. AfD-Gauland hatte geseufzt: „Heute sind wir tolerant, morgen fremd im eigenen Land.“ Darauf knallte ihm Hasnain Kazim, „Spiegel“-Korrespondent in Wien, vor den Latz: „Gewöhn dich dran: Wir sind hier, werden immer mehr und beanspruchen Deutschland für uns. Ob du willst oder nicht.“
Der Deutsche Gauland soll sich also daran gewöhnen, bald ein Fremder im eigenen Land zu sein, denn es gibt eine andere Völkerschaft (von Kazim kurz „wir“ genannt), die Deutschland für sich „beansprucht“ und diesen „Anspruch“ gegen widerspenstige Eingeborene durchzusetzen beabsichtigt („Ob du willst oder nicht“).

Den Ausdruck „beanspruchen“ kennen wir aus der Sprache von Kolonial-Eroberern: Die US-amerikanischen Siedler „beanspruchten“ das Land der Indianer für sich.
Da sie oftmals zunächst eine unterlegene Minderheit waren, mussten die Siedler dabei geschickt vorgehen. So redeten sie den Indianern ein, dass ihnen nichts weggenommen würde, im Gegenteil: Die Urbevölkerung würde durch die europäische Kultur ihrer neuen Mitbürger sogar noch bereichert! Allerdings kam es immer wieder zu Zwischenfällen. Etwa, wenn rüpelhafte Siedler die Indianer als „ungläubige“ Heiden verhöhnten, sie angriffen oder gar niedermetzelten. Da musste schnell aufgeklärt werden, dass es sich hier um bedauerliche Einzelfälle handele, was auch stimmte, denn der normale Siedler war anständig und wollte bloß in Frieden leben.
Wenn die Indianer sich hingegen dem „Anspruch“ der Siedler widersetzten und sie nicht rein ließen in ihr Land, dann war Strafe unumgänglich. Wenn die „roten Teufel“ nach weißen Übergriffen gar zur Gegenat­tacke überzugehen wagten, durfte keine Gnade gegeben werden.


Wichtig ist dabei, dass jeder weiß, wer im Zweifel die Schuldigen sind: immer die Eingeborenen. Das war damals ziemlich einfach, weil es noch keine Statistiken gab, in denen alle Übergriffe samt Opfer und Urheber fein säuberlich aufgelistet sind.
Das ist heute ganz anders. Oder? Nun ja: Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke ließ gerade verlauten, dass alle Übergriffe, bei denen nicht nachgewiesen werden kann, dass sie nicht rechtsextrem motiviert sind, automatisch als rechtsextreme Straftaten in die Statistik eingingen. Heißt: Immer wenn unklar ist, wer’s war, war’s ein Rechtsextremer. Das ist wohl kaum „fein“ zu nennen, und „säuberlich“ schon mal gar nicht.
Nebenbei hat Woidke hier eine europäische Tradition der Rechtsfindung abgeräumt, die seit der Antike gilt. Ob im Römischen Imperium, auf germanischen Thingversammlungen oder vor mittelalterlichen Gerichten – ein Grundsatz war immer unumstößlich: Erst, wenn die Urheberschaft einer Person oder Gruppe bewiesen werden konnte, durfte eine Tat zugeordnet werden. Egal, wie merkwürdig uns die Methoden der Wahrheitsfindung („Gottesurteil“ per Los etwa) heute erscheinen, diese Grundregel stand nie in Zweifel. Bis Woidke kam.

Wenigstens wissen wir dank seiner Offenheit ab jetzt, wie wir Statistiken zu werten haben. Wenn beim nächsten Wahlkampf wieder reihenweise AfD-Plakate von Linksextremen mit Hakenkreuzen beschmiert werden, lesen wir in den Zeitungen vermutlich von einer „Serie rechtsextrem motivierter Propaganda-Delikte im Raum ...“
Mit solchermaßen gehäkelten „Amtlichen Statistiken“ in der geballten Faust kann die Politik richtig loslegen. Die Bundesregierung lässt wissen, dass die fremdenfeindlichen Übergriffe in den neuen Bundesländern eine „besorgniserregende Entwicklung“ seien, die nicht allein den „gesellschaftlichen Frieden“ dort gefährde, sondern auch die „wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder“.
Eine große Tageszeitung titelt daraufhin: „Fremdenhass ruiniert die ostdeutsche Wirtschaft.“ Die Ansage ist unüberhörbar. Wählt, ihr dumpfen Ossis: entweder bedingungslose Kapitula ... ich meine: entweder uneingeschränkte Willkommenskultur oder bitterste Armut!
Ärgerlich ist bloß, dass der Macher der reißerischen Überschrift den eigenen Text nicht gelesen hat. Dort wird nämlich die Wirtschaftsförderung Sachsen GmbH mit den Worten zitiert: „Uns ist kein konkreter Fall bekannt, in dem ein Unternehmen durch ,zunehmende Fremdenfeindlichkeit im Osten‘ (die setzen das offenbar bewusst in Anführungszeichen) einen wirtschaftlichen Nachteil oder bezifferbaren Schaden davongetragen hat.“ Mehr noch: Bei ausländischen Touristen habe Dresden (trotz Pegida – oder etwa wegen?) sogar zugelegt, heißt es in dem Artikel.
Tja, solche Überschriften „ruinieren“ vermutlich weniger die neuen Bundesländer als – auf lange Sicht – gewisse Zeitungen.
Aber was heißt schon „nicht bezifferbar“? Lasst da mal Woidkes Statistiker ran. Die „beziffern“ euch alles, was ihr lesen wollt.   Hans Heckel

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