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Sonntag, 3. Juli 2016

Gelbe Karte

Wenn in Deutschland Wahlen bevorstehen – und das ist ziemlich oft der Fall –, bitten uns die Parteien um unser Vertrauen, unsere Stimme, unsere Hilfe; am liebsten um Vertrauen. Ist die Wahl vorbei, pflegen sie sich für das ihnen entgegengebrachte Vertrauen wortreich zu bedanken. Sie tun das auch dann, wenn von Vertrauen keine Rede sein kann, weil die meisten Wähler zu Hause geblieben sind, ungültig gestimmt oder der Opposition den Vorzug gegeben haben.
Vertrauen ist zum Schlüsselwort der Politik geworden. Das ist vor allem deshalb so erstaunlich, weil die Demokratie ja nicht vom Vertrauen lebt, sondern von seinem Gegenteil, dem Mißtrauen. Beweise dafür finden sich in jeder Verfassung, auch im Grundgesetz, zuhauf. Der Grund dafür ist unschwer zu erkennen: Macht ist gefährlich. Macht, hat der englische liberale Historiker Lord Acton gesagt, korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.

Deshalb begegnet die europäische Verfassungslehre der Macht mit geballtem Mißtrauen. Sie verleiht Macht nur auf Zeit, unterstellt sie der Kontrolle durch unabhängige Gerichte, bindet ihren Gebrauch an die Zustimmung der Machtunterworfenen und hat, gewitzt durch die Erfahrung, daß Macht nur durch Gegenmacht gebändigt werden kann, die Macht geteilt. Tatsächlich dürfte der von Montesquieu im 18. Jahrhundert entwickelte Gedanke der Gewaltenteilung das wirkungsvollste Instrument zur Zügelung der Machtgier sein.

Thomas Jefferson, einer der großen US-Präsidenten, die es in jenem Land ja einmal gab, sprach aus Erfahrung, als er die Bürger seines Landes zum Mißtrauen gegen die Herrschenden aufrief. Er hatte Angst vor den gewählten Despoten, die den Ursprung der Macht, das Volk und seine Vertreter, verachten. Sollte das Volk, schrieb er an einen alten Freund, jemals aufhören, sich um die öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern, „werden wir alle, Sie und ich, der Kongreß, die Richter und die Gouverneure, wie wir da gehen und stehen, zu reißenden Wölfen werden“.
Oder zu falschen Schlangen, schlauen Füchsen, diebischen Elstern, faulen Hunden, dummen Gänsen und geilen Böcken, wäre nach den Erfahrungen zu ergänzen, die wir in Deutschland mit Politikern wie Volker Beck oder Sebastian Edathy, Dirk Niebel oder Ronald Pofalla, Annette Schavan oder Claudia Roth gesammelt haben. Sie und andere Mitglieder ihrer Klasse stellen auf der nach unten offenen Skala der politischen Erbärmlichkeit immer wieder neue Rekorde auf. Sie züchten das Mißtrauen, über das sie sich beklagen.

Die Abneigung, die ihnen aus der Wählerschaft entgegenschlägt, beantworten die Machthaber im gleichen Stil, mit kaum verhohlener Verachtung. Sie machen es wie SPD-Parteichef Sigmar Gabriel, der von „Pack“ spricht, wie Justizminister Heiko Maas, der von Mob und Gesindel redet, oder wie Wolfgang Schäuble, der seine Gegner eine Schande für Deutschland nennt. Das gründlichste Urteil stammt von einem christlich-demokratischen Spitzenpolitiker, dem sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich, der angesichts eines Straßenauflaufs zu der Erkenntnis kam, bei den Rädelsführern handle es sich um Verbrecher, „das sind keine Menschen“.

Die Personalisierung liegt im Zug der Zeit. Von den Medien gesteuert und ausgewalzt, treibt sie immer buntere Blüten, die schönsten davon in der Politik, wo die Sache hinter der Person längst verschwunden ist. Der jüngst verstorbene FDP-Politiker Guido Westerwelle hat diese Entwicklung mit dem Argument verteidigt, daß auch Personen ein Programm sein könnten; er dachte dabei offenbar an sich. Das mag so sein, macht die Sache aber nicht besser. Denn wer will schon Programme, die von solchen Personen verkörpert werden?

Zum Beispiel von Birgit Fischer. Eine Frau, die alles, was sie ist, der SPD verdankt, einer Partei, die sich programmatisch der sozial genannten Gerechtigkeit verbunden fühlt. Wie das aussieht, kann man in Bochum erkennen, einer hochverschuldeten Stadt, die aufs Geld sehen muß und deshalb bei den Kindergartengebühren bundesweit an der Spitze liegt. Mit dem, was dadurch reinkam, wurden Veranstaltungen bezahlt, bei denen sogenannte Spitzenpolitiker für ein paar Stunden Small talk ein Honorar von 25.000 Euro kassierten.
Hier, in Bochum, nahm Frau Fischers segensreiche Laufbahn zum Wohl der kleinen Leute ihren Anfang; sie begann als Gleichstellungsbeauftragte. Schon bald saß sie im Landtag, wurde parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion und irgendwann dann auch Ministerin, zuständig für das, was ihr Parteichef Gerhard Schröder „Gedöns“ zu nennen pflegte, also Familie, Jugend, Gesundheit und so weiter. So brachte es die sozialdemokratische Sozialpolitikerin Birgit Fischer zur Herrscherin im Weltreich des Sozialen.

Die im Ministeramt gesammelten Kenntnisse nutzte sie, um aus dem öffentlichen Dienst in die Versicherungsindustrie zu wechseln, zunächst als Stellvertreterin, danach als Vorstandsvorsitzende der Barmer Ersatzkasse.
Wenig später dann ein zweiter Wechsel, diesmal zur Gegenseite, als Hauptgeschäftsführerin zum Verband Forschender Arzneimittelhersteller. Manch einer sprach von einem verblüffenden Seitenwechsel – der aber keinen verblüfft haben kann, der die sagenhaften Gehälter kennt, die in der Pharmaindustrie üblich sind.
„Bereichert euch!“ hieß die Devise der französischen Bourgeoisie, die deutschen Sozialdemokraten schon immer lieb und teuer war; vor allem teuer.
Leute wie Walter Riester oder Birgit Fischer haben sich mit dem besten Gewissen der Welt bereichert; sie taten das in dem Bewußtsein, nicht ihren, sondern unseren Interessen zu dienen. Wenn sie sich der Versicherungswirtschaft, der Pharmaindustrie oder sonst einem Krösus in die Arme warfen, hatten sie nicht bloß Arbeit im Angebot, sondern akkumulierte Arbeit. Und daß die besser bezahlt werden muß als alles, was unsereiner anzubieten hat, wußte ja schon Karl Marx.
Karrieren wie die Birgit Fischers macht nicht jeder. Aber alle träumen davon, im Bundestag genauso wie in den großen Konzernen, wo die Chefs tatsächlich glauben, um so mehr wert zu sein, je besser sie sich bezahlen lassen.

Der frühere Juso-Vorsitzende Wolfgang Roth kannte die Stimmung im Parlament, als er davon sprach, daß ein Bundestagsmandat für einen Studienrat ein nettes Zubrot sei; für ihn aber nicht. Er, Wolfgang Roth, hatte längst Höheres im Blick: den Vizeposten bei der Europäischen Investitionsbank in Luxemburg.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Sturm-und-Drang-Zeit mit vielerlei Erfahrungen hinter sich, und er wußte sie zu nutzen. Daß er zusammen mit Heidemarie Wieczorek-Zeul („die rote Heidi“) einmal verlangt hatte, sämtliche Gehälter, vor allem die von Bankern, auf 5.000 D-Mark im Monat zu begrenzen – den Euro gab es damals noch nicht –, hatte er längst vergessen, die meisten anderen wahrscheinlich auch. Wer es noch nicht vergessen hatte, auch nicht vergessen konnte oder wollte, wandte sich ratlos, enttäuscht und angewidert von einem politischen Betrieb ab, der Leute wie Wolfgang Roth nach oben brachte.
Glaubwürdig werde ein Politiker durch Übereinstimmung von Wort und Tat, soll Hans-Jochen Vogel einmal gesagt haben. So anspruchsvoll, das zu verlangen, sind wir schon längst nicht mehr; die Übereinstimmung von Wort und Wort würde uns schon reichen. Aber auch damit ist es nicht weit her, wie jeder weiß, der den Parteibetrieb von innen kennt.

Helmut Kohl hatte die Richtung gewiesen, als er in Sachen Mitbestimmung gegen einen Antrag votierte, den er selbst eingebracht, begründet und verteidigt hatte. Und dafür bald danach mit dem Parteivorsitz belohnt wurde.
Damals, vor vierzig oder fünfzig Jahren, fiel so viel Wendigkeit noch auf. Inzwischen ist sie zur Regel geworden, nach der kein Hahn mehr kräht. Wir werden von Politikern regiert, die Willkür, Widerspruch und Chaos produzieren, Kritik am Chaos aber mit der Behauptung abtun, daß es zum Chaos keine Alternative gebe. Zur Lüge deshalb auch wohl nicht, weil die Lüge ein bewährtes Mittel ist, im Chaos zu überleben. Der Europapolitiker Jean-Claude Juncker sprach aus Erfahrung, als er sagte: „Wenn es ernst wird, muß man lügen.“ Das war die Wahrheit, die Wahrheit über die Lüge.
Die politische Klasse geriert sich als geschlossene Gesellschaft, die dem Bürger über den Mund fährt, wenn er es wagt, ihn zu öffnen. Als Antwort auf den Wunsch der Engländer, der Brüsseler Fremdherrschaft zu entkommen, ist den fremden Herren nichts anderes eingefallen als ein wütendes „Jetzt erst recht!“

Jetzt, in der Krise, die ihr Gelegenheit gäbe, die Bürger für sich einzunehmen, erweist sich die Gemeinschaft als jenes Projekt des höheren Irrsinns, als das der frühere Bundespräsident Roman Herzog sie beschrieben hat.
So kehrt das Mißtrauen in die Politik zurück – endlich! Mißtrauen aktiviert, Mißtrauen ist die Basis der Verfassung, Mißtrauen zeugt von dem Willen, die Rolle des Souveräns nicht bloß zu beanspruchen, sondern sie auch wahrzunehmen. Und denen in den Weg zu treten, die zur Begründung ihrer Politik nicht mehr zu sagen haben als „Wir schaffen das!“  Konrad Adam

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