Wenn
in Deutschland Wahlen bevorstehen – und das ist ziemlich oft der Fall
–, bitten uns die Parteien um unser Vertrauen, unsere Stimme, unsere
Hilfe; am liebsten um Vertrauen. Ist die Wahl vorbei, pflegen sie sich
für das ihnen entgegengebrachte Vertrauen wortreich zu bedanken. Sie tun
das auch dann, wenn von Vertrauen keine Rede sein kann, weil die
meisten Wähler zu Hause geblieben sind, ungültig gestimmt oder der
Opposition den Vorzug gegeben haben.
Vertrauen ist zum Schlüsselwort der Politik geworden. Das ist vor
allem deshalb so erstaunlich, weil die Demokratie ja nicht vom Vertrauen
lebt, sondern von seinem Gegenteil, dem Mißtrauen. Beweise dafür finden
sich in jeder Verfassung, auch im Grundgesetz, zuhauf. Der Grund dafür
ist unschwer zu erkennen: Macht ist gefährlich. Macht, hat der englische
liberale Historiker Lord Acton gesagt, korrumpiert, und absolute Macht
korrumpiert absolut.
Deshalb begegnet die europäische Verfassungslehre der Macht mit
geballtem Mißtrauen. Sie verleiht Macht nur auf Zeit, unterstellt sie
der Kontrolle durch unabhängige Gerichte, bindet ihren Gebrauch an die
Zustimmung der Machtunterworfenen und hat, gewitzt durch die Erfahrung,
daß Macht nur durch Gegenmacht gebändigt werden kann, die Macht geteilt.
Tatsächlich dürfte der von Montesquieu im 18. Jahrhundert entwickelte
Gedanke der Gewaltenteilung das wirkungsvollste Instrument zur Zügelung
der Machtgier sein.
Thomas Jefferson, einer der großen US-Präsidenten, die es in jenem
Land ja einmal gab, sprach aus Erfahrung, als er die Bürger seines
Landes zum Mißtrauen gegen die Herrschenden aufrief. Er hatte Angst vor
den gewählten Despoten, die den Ursprung der Macht, das Volk und seine
Vertreter, verachten. Sollte das Volk, schrieb er an einen alten Freund,
jemals aufhören, sich um die öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern,
„werden wir alle, Sie und ich, der Kongreß, die Richter und die
Gouverneure, wie wir da gehen und stehen, zu reißenden Wölfen werden“.
Oder zu falschen Schlangen, schlauen Füchsen, diebischen Elstern,
faulen Hunden, dummen Gänsen und geilen Böcken, wäre nach den
Erfahrungen zu ergänzen, die wir in Deutschland mit Politikern wie
Volker Beck oder Sebastian Edathy, Dirk Niebel oder Ronald Pofalla,
Annette Schavan oder Claudia Roth gesammelt haben. Sie und andere
Mitglieder ihrer Klasse stellen auf der nach unten offenen Skala der
politischen Erbärmlichkeit immer wieder neue Rekorde auf. Sie züchten
das Mißtrauen, über das sie sich beklagen.
Die Abneigung, die ihnen aus der Wählerschaft entgegenschlägt,
beantworten die Machthaber im gleichen Stil, mit kaum verhohlener
Verachtung. Sie machen es wie SPD-Parteichef Sigmar Gabriel, der von
„Pack“ spricht, wie Justizminister Heiko Maas, der von Mob und Gesindel
redet, oder wie Wolfgang Schäuble, der seine Gegner eine Schande für
Deutschland nennt. Das gründlichste Urteil stammt von einem
christlich-demokratischen Spitzenpolitiker, dem sächsischen
Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich, der angesichts eines
Straßenauflaufs zu der Erkenntnis kam, bei den Rädelsführern handle es
sich um Verbrecher, „das sind keine Menschen“.
Die Personalisierung liegt im Zug der Zeit. Von den Medien gesteuert
und ausgewalzt, treibt sie immer buntere Blüten, die schönsten davon in
der Politik, wo die Sache hinter der Person längst verschwunden ist. Der
jüngst verstorbene FDP-Politiker Guido Westerwelle hat diese
Entwicklung mit dem Argument verteidigt, daß auch Personen ein Programm
sein könnten; er dachte dabei offenbar an sich. Das mag so sein, macht
die Sache aber nicht besser. Denn wer will schon Programme, die von
solchen Personen verkörpert werden?
Zum Beispiel von Birgit Fischer. Eine Frau, die alles, was sie ist,
der SPD verdankt, einer Partei, die sich programmatisch der sozial
genannten Gerechtigkeit verbunden fühlt. Wie das aussieht, kann man in
Bochum erkennen, einer hochverschuldeten Stadt, die aufs Geld sehen muß
und deshalb bei den Kindergartengebühren bundesweit an der Spitze liegt.
Mit dem, was dadurch reinkam, wurden Veranstaltungen bezahlt, bei denen
sogenannte Spitzenpolitiker für ein paar Stunden Small talk ein Honorar
von 25.000 Euro kassierten.
Hier, in Bochum, nahm Frau Fischers segensreiche Laufbahn zum Wohl
der kleinen Leute ihren Anfang; sie begann als
Gleichstellungsbeauftragte. Schon bald saß sie im Landtag, wurde
parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion und irgendwann dann
auch Ministerin, zuständig für das, was ihr Parteichef Gerhard Schröder
„Gedöns“ zu nennen pflegte, also Familie, Jugend, Gesundheit und so
weiter. So brachte es die sozialdemokratische Sozialpolitikerin Birgit
Fischer zur Herrscherin im Weltreich des Sozialen.
Die im Ministeramt gesammelten Kenntnisse nutzte sie, um aus dem
öffentlichen Dienst in die Versicherungsindustrie zu wechseln, zunächst
als Stellvertreterin, danach als Vorstandsvorsitzende der Barmer
Ersatzkasse.
Wenig später dann ein zweiter Wechsel, diesmal zur
Gegenseite, als Hauptgeschäftsführerin zum Verband Forschender
Arzneimittelhersteller. Manch einer sprach von einem verblüffenden
Seitenwechsel – der aber keinen verblüfft haben kann, der die
sagenhaften Gehälter kennt, die in der Pharmaindustrie üblich sind.
„Bereichert euch!“ hieß die Devise der französischen Bourgeoisie, die
deutschen Sozialdemokraten schon immer lieb und teuer war; vor allem
teuer.
Leute wie Walter Riester oder Birgit Fischer haben sich mit dem
besten Gewissen der Welt bereichert; sie taten das in dem Bewußtsein,
nicht ihren, sondern unseren Interessen zu dienen. Wenn sie sich der Versicherungswirtschaft, der Pharmaindustrie oder sonst einem Krösus in
die Arme warfen, hatten sie nicht bloß Arbeit im Angebot, sondern
akkumulierte Arbeit. Und daß die besser bezahlt werden muß als alles,
was unsereiner anzubieten hat, wußte ja schon Karl Marx.
Karrieren wie die Birgit Fischers macht nicht jeder. Aber alle
träumen davon, im Bundestag genauso wie in den großen Konzernen, wo die
Chefs tatsächlich glauben, um so mehr wert zu sein, je besser sie sich
bezahlen lassen.
Der frühere Juso-Vorsitzende Wolfgang Roth kannte die
Stimmung im Parlament, als er davon sprach, daß ein Bundestagsmandat für
einen Studienrat ein nettes Zubrot sei; für ihn aber nicht. Er,
Wolfgang Roth, hatte längst Höheres im Blick: den Vizeposten bei der
Europäischen Investitionsbank in Luxemburg.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Sturm-und-Drang-Zeit mit vielerlei
Erfahrungen hinter sich, und er wußte sie zu nutzen. Daß er zusammen
mit Heidemarie Wieczorek-Zeul („die rote Heidi“) einmal verlangt hatte,
sämtliche Gehälter, vor allem die von Bankern, auf 5.000 D-Mark im Monat
zu begrenzen – den Euro gab es damals noch nicht –, hatte er längst
vergessen, die meisten anderen wahrscheinlich auch. Wer es noch nicht
vergessen hatte, auch nicht vergessen konnte oder wollte, wandte sich
ratlos, enttäuscht und angewidert von einem politischen Betrieb ab, der
Leute wie Wolfgang Roth nach oben brachte.
Glaubwürdig werde ein Politiker durch Übereinstimmung von Wort und
Tat, soll Hans-Jochen Vogel einmal gesagt haben. So anspruchsvoll, das
zu verlangen, sind wir schon längst nicht mehr; die Übereinstimmung von
Wort und Wort würde uns schon reichen. Aber auch damit ist es nicht weit
her, wie jeder weiß, der den Parteibetrieb von innen kennt.
Helmut Kohl
hatte die Richtung gewiesen, als er in Sachen Mitbestimmung gegen einen
Antrag votierte, den er selbst eingebracht, begründet und verteidigt
hatte. Und dafür bald danach mit dem Parteivorsitz belohnt wurde.
Damals, vor vierzig oder fünfzig Jahren, fiel so viel Wendigkeit noch
auf. Inzwischen ist sie zur Regel geworden, nach der kein Hahn mehr
kräht. Wir werden von Politikern regiert, die Willkür, Widerspruch und
Chaos produzieren, Kritik am Chaos aber mit der Behauptung abtun, daß es
zum Chaos keine Alternative gebe. Zur Lüge deshalb auch wohl nicht,
weil die Lüge ein bewährtes Mittel ist, im Chaos zu überleben. Der
Europapolitiker Jean-Claude Juncker sprach aus Erfahrung, als er sagte:
„Wenn es ernst wird, muß man lügen.“ Das war die Wahrheit, die Wahrheit
über die Lüge.
Die politische Klasse geriert sich als geschlossene Gesellschaft, die
dem Bürger über den Mund fährt, wenn er es wagt, ihn zu öffnen. Als
Antwort auf den Wunsch der Engländer, der Brüsseler Fremdherrschaft zu
entkommen, ist den fremden Herren nichts anderes eingefallen als ein
wütendes „Jetzt erst recht!“
Jetzt, in der Krise, die ihr Gelegenheit
gäbe, die Bürger für sich einzunehmen, erweist sich die Gemeinschaft als
jenes Projekt des höheren Irrsinns, als das der frühere Bundespräsident
Roman Herzog sie beschrieben hat.
So kehrt das Mißtrauen in die Politik zurück – endlich! Mißtrauen
aktiviert, Mißtrauen ist die Basis der Verfassung, Mißtrauen zeugt von
dem Willen, die Rolle des Souveräns nicht bloß zu beanspruchen, sondern
sie auch wahrzunehmen. Und denen in den Weg zu treten, die zur
Begründung ihrer Politik nicht mehr zu sagen haben als „Wir schaffen
das!“ Konrad Adam
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