Herr Professor van Creveld, war die Wehrmacht, wie viele Kriegsteilnehmer meinen, die beste Armee der Welt?
van Creveld: In Sachen Organisation, Training, Lehre, Taktik und
Operationskunst mag das stimmen. Die Wehrmacht hat dem Gegner stets
größere Verluste zugefügt, als sie selbst erlitt. Die Feldzüge der Jahre
1940—41 sind nahezu legendär geworden, nicht umsonst haben Offiziere
auf der ganzen Welt sie studiert. Aber der Krieg ist nicht auf der
operativen, sondern auf der strategischen Ebene entschieden worden. Hier
liegt das Versagen der Wehrmacht auf der Hand.
Weil sie
niemals, wie Sie in einem Aufsatz schreiben, im Stande war, einen
Offizier hervorzubringen, der das gesamte Spektrum des Krieges
überblicken konnte?
van Creveld: Ja, im Gegensatz etwa zu
den besten amerikanischen Kommandeuren, die im globalen Maßstab denken
und politische Faktoren so gut wie militärische bewerten konnten. Das
war übrigens ein Grund, warum Hitler den Bogen immer weiter spannen und
Deutschland schließlich in eine katastrophale Niederlage führen konnte.
Hätte
die Wehrmachtsführung strategisch gedacht, hätte sie sich auf diesen
Krieg doch nie einlassen dürfen, oder? Dann ist Hitlers Größenwahn in
gewissem Sinn die Ursache für die Leistung der Wehrmacht ...
van Creveld: Hätte Hitler Deutschland nicht in diesen Krieg geführt,
niemand hätte erfahren, was für eine glanzvolle Kampfmaschine die
Wehrmacht war, wohl wahr. Im Ernst: Das Prestige, das die deutschen
Generäle genossen, war so hoch, dass sie es beinahe als Belästigung
empfunden haben würden, über irgendetwas anderes nachzudenken als
darüber, Krieg zu führen. Die Wehrmacht besaß keine Schulen für
Offiziere oberhalb des Majorsrangs — das Produkt der Kriegsakademie war
ein Oberstleutnant, dafür qualifiziert, als Divisionsstabschef zu
dienen. Aus diesen Gründen war die oberste Ebene der Wehrmacht
möglicherweise nicht so gut wie die der Amerikaner oder der Sowjets.
Ende
der 90er-Jahre erschienen in einem deutschen Verlag zwei Bände mit
Kurzporträts von Hitlers militärischer Elite. Es gab wohl keinen
Beitrag, in dem der Begriff „Verbrechen“ nicht vorkam. War die Wehrmacht
eine verbrecherische Organisation?
van Creveld: Jeder
kann jeden einen Verbrecher nennen. In Nürnberg ist die Wehrmacht — im
Gegensatz zur SS und zu anderen Nazi-Organisationen — nicht als
kriminelle Organisation bezeichnet worden. Ohne Frage lieferte die
Wehrmacht den Einsatzgruppen, deren Job es war, Juden zu erschießen,
logistische Unterstützung. Ohne Frage waren zahllose
Wehrmachtsangehörige, von der Spitze bis ins Glied, informiert über die
Gräueltaten. Zu sagen, die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen
sei inhuman gewesen, wäre eine Untertreibung, und zahlreiche deutsche
Soldaten begingen im Partisanenkrieg Gräueltaten, indem sie die
Unterschiede zwischen Guerilla, Nichtkombattanten und Juden oft
ignorierten. Aber die Wehrmacht insgesamt als verbrecherisch zu
bezeichnen — ich würde zögern, das zu tun.
Ende 1941 befand
sich die Wehrmacht in der einzigartigen Situation, an der Ostfront mehr
Kriegsgefangene zu haben als Angehörige. Inwieweit war das
Massensterben in den Gefangenenlagern beabsichtigt und inwieweit Folge
dieser chaotischen Lage?
van Creveld: Beides. Die
gewaltige Zahl von Gefangenen war in der Tat ein großes Problem. Das
entschuldigt aber nicht, dass deutsche Wachen auf russische Zivilisten
schossen, die versuchten, den Gefangenen zu essen zu geben — und
ebensowenig die schrecklichen Bedingungen, die in den Lagern herrschten.
Nicht nur die Wehrmacht hat Kriegsgefangene umgebracht — das tat auch die Rote Armee...
van Creveld: Die Wehrmacht hat nicht nur sowjetische Kriegsgefangene
erschossen, sie ließ sie auch systematisch verhungern, sobald sie in
Deutschland interniert waren. Und es war nicht Stalin, der den
Kommissarbefehl* erteilt und zu seinen versammelten Generälen gesagt
hat, im kommenden Krieg gegen die Sowjetunion sollten sie ihre
altmodischen Ideen von Ritterlichkeit vergessen.
Das
verstand sich für Stalin von selbst. Hitler hat sich nicht an die Haager
Landkriegsordnung gehalten, aber die Sowjetunion hat sie gar nicht erst
beziehungsweise erst zwei Jahre nach Stalins Tod unterzeichnet. Welchen
Anteil hatte der Kreml-Chef an der Eskalation des Krieges?
van Creveld: Wenn Sie darauf hinauswollen, dass er ebenso erbarmungslos
war wie Hitler, stimme ich zu. In der gesamten Geschichte gab es keinen
Führer, der die harte Tour besser beherrschte als Stalin. Ich
bezweifle, dass er schon im Herbst 1941 angreifen wollte, wie manche
Autoren behaupten. Ich habe aber keinen Zweifel: Früher oder später,
wenn Deutschland in einen Krieg mit England und den USA verwickelt
gewesen wäre, hätte er sich genommen, was er wollte. Nach den
Ribbentrop-Molotow-Gesprächen im November 1940 zu urteilen, wären das
Rumänien, Bulgarien, der Zugang zur Nordsee, die Dardanellen und wohl
auch jene Teile Polens gewesen, die zu dieser Zeit unter deutscher
Herrschaft standen.
Inwieweit musste sich die Wehrmachtsführung vom sowjetischen Aufmarsch im Sommer 1941 bedroht fühlen?
van Creveld: Sehr. 1941 war die Rote Armee die größte der Welt. Stalin
mag, wie gesagt, nicht geplant haben, Deutschland im Herbst 1941
anzugreifen. Aber es wäre schwer zu glauben, dass er nicht die
Gelegenheit genutzt hätte, dem Reich irgendwann in den Rücken zu fallen.
Was hätte die Wehrmacht im Sommer 1941 also tun sollen, außer anzugreifen?
van Creveld: Gute Frage. Ich sehe die Sache so: Zuerst hat Hitler Polen
attackiert, weil er befürchtete, wenn er zu lange wartete, werde sich
Deutschlands militärische und politische Situation verschlechtern. Als
Nächstes attackierte er Dänemark und Norwegen, weil er dachte, die
Westmächte würden es sonst vor ihm tun; dann die Benelux-Staaten,
Frankreich und England, weil er glaubte, sie würden Deutschland sonst in
einem langen Krieg zermürben; danach die Sowjetunion, weil er
fürchtete, Stalin werde ihm früher oder später in den Rücken fallen, und
am Ende die USA, weil sonst niemand mehr übrig war. Hätte er im
Raumfahrtzeitalter regiert, er hätte zweifellos versucht, den Mond zu
besetzen, um einer Attacke vom Mars zuvorzukommen. Und es würde eine
Menge von Generälen gegeben haben, die diese Befehle ausgeführt hätten.
Es
gibt eine Theorie, wonach große Reiche weniger aus Expansionsgier denn
aus Angst entstehen. Rom etwa ist nach diesem Modell groß geworden, weil
es einen Nachbarn nach dem anderen angriff, von dem es sich bedroht
fühlte — was im Falle Karthagos oder Germaniens ja nicht aus der Luft
gegriffen war. Auf Hitler gedreht: War die Bedrohung, die er empfand,
irgendwo real?
van Creveld: Hitlers Grundidee war:
Deutschland wird entweder eine Großmacht oder — angesichts der
erstaunlich an Wachstum zulegenden Sowjetunion auf der einen und der USA
auf der anderen Seite — überhaupt keine Macht. Das war keine schlechte
Prognose. Zu seinen Generälen sagte er im November 1937, der Krieg werde
zwischen 1943 und 45 beginnen oder die neue Ausrüstung der Wehrmacht
werde veraltet sein. Auch das war keine schlechte Prognose. Zuletzt
haben wir bereits festgestellt: Hätte Hitler Stalin nicht angegriffen,
hätte Stalin nahezu sicher an irgendeinem Punkt Hitler angegriffen.
Möglicherweise ist die Lektion aus alledem einfach: Angst ist ein
schlechter Ratgeber.
Sie sagen, Stalin hätte angegriffen. Wissen Sie, dass in Deutschland eine solche Meinung als Verharmlosung Hitlers gilt?
van Creveld: Als Jude und Israeli, der Teile seiner Familie im
Holocaust verloren hat, darf ich wohl sagen, dass Hitler und das Dritte
Reich schreckliche Verbrechen gegen mein Volk begangen haben. Aber sie
taten noch anderes: Sie nagelten Generationen von Deutschen, die nach
ihnen kamen, an das Hakenkreuz, von dem herabzusteigen, wie ich fürchte,
sehr schwer sein wird. Mit anderen Worten: Was in Deutschland im
Kontext Ihrer Frage als angemessen gilt, ist nicht meine Sache. Es sind
die Deutschen, die das Hakenkreuz tragen müssen, nicht ich.
Wann
war der Krieg für die Wehrmacht nach Ihrer Meinung verloren? Nach
Dünkirchen? Mit dem Angriff auf die Sowjetunion? Vor Moskau?
van Creveld: Das sind die Wendepunkte, die man so nennt. Es gibt eine
Reihe von interessanten neuen Publikationen zu dieser Frage. Einige
meinen, wäre 1944 die Invasion der Normandie gescheitert, dann hätte
Deutschland den Krieg im Osten gewonnen, weil es eine Million Mann von
der Westfront dorthin hätte versetzen können. In diesem Fall wären
wahrscheinlich Heidelberg und Göttingen statt Hiroshima und Nagasaki von
den ersten Atombomben getroffen worden.
Die Entscheidung über den Kriegsausgang fiel in Los Alamos; Stalingrad und Kursk waren Marginalien?
van Creveld: Ich würde noch weiter gehen: Stalingrad, Kursk und der
Rest waren kleine Brötchen. Hiroshima markiert das Ende einer
tausendjährigen historischen Periode. Während dieser Zeit wurde der
Krieg größer und größer — bis zu jenem Zeitpunkt 1943, als die Wehrmacht
zusammen mit der Waffen-SS über neun Millionen Soldaten umfasste. Sie
war dafür geschaffen, konventionelle Kriege zu führen. Diese Art von
Krieg kann heute nur noch gegen kleine und unbedeutende Staaten geführt
werden, die selber keine Nuklearwaffen herstellen können — wie der Irak.
Die
Einführung der Atomwaffen hat die konventionell geführten Kriege zwar
eingeschränkt, aber keineswegs beendet. Inwieweit war die Wehrmacht nach
dem Zweiten Weltkrieg anderen Armeen ein Vorbild?
van
Creveld: Ich kann hier nicht annähernd darlegen, was alles nach 1945
über die Wehrmacht geschrieben worden ist. Während des Kalten Krieges
war der Westen eher geneigt, von ihr zu lernen, als der Osten. Der
Höhepunkt war um 1975 erreicht, als die USA den Vietnamkrieg verloren
hatten und nach einem Nachfolgemodell suchten. Die Suche endete 1991,
als ihr Sieg über Saddam Hussein die Amerikaner überzeugt hatte, dass
sie von niemandem mehr lernen müssen.
Und Israel?
van Creveld: In Sachen Strategie, Organisation, Doktrin und dem
Verhältnis zwischen den drei Waffengattungen ähnelte keine Armee des 20.
Jahrhunderts mehr der Wehrmacht als die israelische. Wir in Israel
können das jedoch nicht eingestehen. Als der Militärverlag Maarachot vor
etwa 30 Jahren eine Übersetzung der Memoiren von Dönitz herausbrachte,
gab es so starke Proteste, dass das Projekt gestoppt werden musste.
Nebenbei: Die Ausbildung israelischer Offiziere lässt sich nicht mit
jener der Wehrmacht vergleichen; das direkte Lernen gilt nur für
Situationen, wo ähnliche strategische Probleme zu ähnlichen
militärischen Lösungen führen.
In ihren Memoiren haben
verschiedene Wehrmachtsgeneräle geschrieben, durch die ständigen
Eingriffe Hitlers in den Kampfverlauf sei ihnen gewissermaßen ihr ganzer
Krieg vermasselt worden. Zu Recht?
van Creveld: Die
Generäle sahen sich selbst als die besten der Welt. Nachdem der Krieg
verloren war, hatten sie ein Problem. Warum also nicht die Niederlage
auf Hitler schieben, der sich nicht mehr verteidigen konnte? Die
Wahrheit ist wohl ein bisschen anders. Als Hauptverantwortlicher für die
Entfesselung und Führung des Krieges war Hitler ohne Frage auch der
Hauptverantwortliche für die Niederlage. Schaut man aber, was die
meisten Generäle während des Krieges von sich gaben, findet man, dass
selten einer Hitlers Führungsanspruch in Frage stellte. Dönitz etwa
notierte nach einem Treffen im Juli 1943: „Niemand kann das besser
machen als der Führer.“ Während der letzten Kriegsmonate kam es
wiederholt vor, dass Generäle mit dem Vorsatz zu Hitler gingen, ihm
endlich die Wahrheit über die Lage zu sagen. Beinahe ebenso regelmäßig
kamen sie begeistert zurück. Denn Hitler verglich die Situation mit
derjenigen Friedrichs des Großen, beschwor die politischen Differenzen
zwischen Deutschlands Feinden, oder er redete von den Wunderwaffen, die
bald eingesetzt werden würden. Und die Generäle ließen sich überzeugen.
Andererseits
haben alle drei Heeresgruppenchefs an der Ostfront gegen Hitlers
Kriegsführung protestiert, so dass er sie Ende 41/Anfang 42 ablöste, und
Erich von Manstein hat Hitler sogar mitunter bescheinigt, seine
operativen Ideen seien Unsinn ...
van Creveld: Mit
Ausnahme der UdSSR —mit Stalin streiten war zu gefährlich — gab es
solche Debatten in allen Krieg führenden Staaten. Im Speziellen ist es
nicht sicher, dass Hitlers „Keinen Schritt zurück“-Befehl Ende 1941 ein
Fehler war. Zu dieser Zeit waren keine Stellungen vorbereitet; wäre der
Rückzug genehmigt worden, wäre das Ergebnis möglicherweise die völlige
Auflösung gewesen. Ich stimme zu, dass es sehr schwer ist, nachträglich
die Verantwortung zuzuweisen. Dennoch würde ich die Argumente der
deutschen Generäle gegen Hitler nicht überbewerten.
Apropos Manstein: War der Mann ein Genie, ein Kriegsverbrecher, beides?
van Creveld: Er war gewiss ein Genie, obwohl er lediglich die
Gelegenheit besaß, es auf operativem Niveau zu zeigen. Ob er zu einem
großen Strategen hätte aufsteigen können, wissen wir nicht. Andererseits
ist Hitlers berüchtigter Kommissarbefehl in der Armee, die er
kommandierte, ausgeführt worden. In Mansteins Verantwortung fällt
außerdem — da stimme ich der Biografie meines Kollegen Marcel Stein zu —
die Tolerierung, wenn nicht aktive Unterstützung des Genozids auf der
Krim, solange dieses Gebiet unter seinem Befehl stand.
An
Mansteins 80. Geburtstag kam die Bundeswehr mit Brimborium zum
Gratulieren. Inzwischen hat sie jede Verbindung zur Wehrmacht gekappt.
Was finden Sie angebrachter?
van Creveld: Nach allem, was
wir über Manstein wissen, ist es ein Fehler, ihn zu feiern. Andererseits
muss man vorsichtig sein. Die menschliche Natur ist nicht so
beschaffen, dass jemand für die Erhöhung des staatlichen
Erziehungsbudgets um ein halbes Prozent sein Leben aufs Spiel setzen
möchte; nur große und kraftvolle Ideen können ihn dazu bringen. Eine
Organisation wie die Bundeswehr, die ihre Aufgabe nur erfüllen kann,
wenn Männer bereit sind, dem Tod ins Auge zu blicken, kann einfach ohne
Tradition nicht existieren. Michael Klonovsky
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