Stationen

Donnerstag, 8. September 2016

Der Vater aller Dinge

Herr Professor van Creveld, war die Wehrmacht, wie viele Kriegsteilnehmer meinen, die beste Armee der Welt?

van Creveld: In Sachen Organisation, Training, Lehre, Taktik und Operationskunst mag das stimmen. Die Wehrmacht hat dem Gegner stets größere Verluste zugefügt, als sie selbst erlitt. Die Feldzüge der Jahre 1940—41 sind nahezu legendär geworden, nicht umsonst haben Offiziere auf der ganzen Welt sie studiert. Aber der Krieg ist nicht auf der operativen, sondern auf der strategischen Ebene entschieden worden. Hier liegt das Versagen der Wehrmacht auf der Hand.

Weil sie niemals, wie Sie in einem Aufsatz schreiben, im Stande war, einen Offizier hervorzubringen, der das gesamte Spektrum des Krieges überblicken konnte?

van Creveld: Ja, im Gegensatz etwa zu den besten amerikanischen Kommandeuren, die im globalen Maßstab denken und politische Faktoren so gut wie militärische bewerten konnten. Das war übrigens ein Grund, warum Hitler den Bogen immer weiter spannen und Deutschland schließlich in eine katastrophale Niederlage führen konnte.

Hätte die Wehrmachtsführung strategisch gedacht, hätte sie sich auf diesen Krieg doch nie einlassen dürfen, oder? Dann ist Hitlers Größenwahn in gewissem Sinn die Ursache für die Leistung der Wehrmacht ...

van Creveld: Hätte Hitler Deutschland nicht in diesen Krieg geführt, niemand hätte erfahren, was für eine glanzvolle Kampfmaschine die Wehrmacht war, wohl wahr. Im Ernst: Das Prestige, das die deutschen Generäle genossen, war so hoch, dass sie es beinahe als Belästigung empfunden haben würden, über irgendetwas anderes nachzudenken als darüber, Krieg zu führen. Die Wehrmacht besaß keine Schulen für Offiziere oberhalb des Majorsrangs — das Produkt der Kriegsakademie war ein Oberstleutnant, dafür qualifiziert, als Divisionsstabschef zu dienen. Aus diesen Gründen war die oberste Ebene der Wehrmacht möglicherweise nicht so gut wie die der Amerikaner oder der Sowjets.

Ende der 90er-Jahre erschienen in einem deutschen Verlag zwei Bände mit Kurzporträts von Hitlers militärischer Elite. Es gab wohl keinen Beitrag, in dem der Begriff „Verbrechen“ nicht vorkam. War die Wehrmacht eine verbrecherische Organisation?

van Creveld: Jeder kann jeden einen Verbrecher nennen. In Nürnberg ist die Wehrmacht — im Gegensatz zur SS und zu anderen Nazi-Organisationen — nicht als kriminelle Organisation bezeichnet worden. Ohne Frage lieferte die Wehrmacht den Einsatzgruppen, deren Job es war, Juden zu erschießen, logistische Unterstützung. Ohne Frage waren zahllose Wehrmachtsangehörige, von der Spitze bis ins Glied, informiert über die Gräueltaten. Zu sagen, die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen sei inhuman gewesen, wäre eine Untertreibung, und zahlreiche deutsche Soldaten begingen im Partisanenkrieg Gräueltaten, indem sie die Unterschiede zwischen Guerilla, Nichtkombattanten und Juden oft ignorierten. Aber die Wehrmacht insgesamt als verbrecherisch zu bezeichnen — ich würde zögern, das zu tun.

Ende 1941 befand sich die Wehrmacht in der einzigartigen Situation, an der Ostfront mehr Kriegsgefangene zu haben als Angehörige. Inwieweit war das Massensterben in den Gefangenenlagern beabsichtigt und inwieweit Folge dieser chaotischen Lage?

van Creveld: Beides. Die gewaltige Zahl von Gefangenen war in der Tat ein großes Problem. Das entschuldigt aber nicht, dass deutsche Wachen auf russische Zivilisten schossen, die versuchten, den Gefangenen zu essen zu geben — und ebensowenig die schrecklichen Bedingungen, die in den Lagern herrschten.

Nicht nur die Wehrmacht hat Kriegsgefangene umgebracht — das tat auch die Rote Armee...

van Creveld: Die Wehrmacht hat nicht nur sowjetische Kriegsgefangene erschossen, sie ließ sie auch systematisch verhungern, sobald sie in Deutschland interniert waren. Und es war nicht Stalin, der den Kommissarbefehl* erteilt und zu seinen versammelten Generälen gesagt hat, im kommenden Krieg gegen die Sowjetunion sollten sie ihre altmodischen Ideen von Ritterlichkeit vergessen.

Das verstand sich für Stalin von selbst. Hitler hat sich nicht an die Haager Landkriegsordnung gehalten, aber die Sowjetunion hat sie gar nicht erst beziehungsweise erst zwei Jahre nach Stalins Tod unterzeichnet. Welchen Anteil hatte der Kreml-Chef an der Eskalation des Krieges?

van Creveld: Wenn Sie darauf hinauswollen, dass er ebenso erbarmungslos war wie Hitler, stimme ich zu. In der gesamten Geschichte gab es keinen Führer, der die harte Tour besser beherrschte als Stalin. Ich bezweifle, dass er schon im Herbst 1941 angreifen wollte, wie manche Autoren behaupten. Ich habe aber keinen Zweifel: Früher oder später, wenn Deutschland in einen Krieg mit England und den USA verwickelt gewesen wäre, hätte er sich genommen, was er wollte. Nach den Ribbentrop-Molotow-Gesprächen im November 1940 zu urteilen, wären das Rumänien, Bulgarien, der Zugang zur Nordsee, die Dardanellen und wohl auch jene Teile Polens gewesen, die zu dieser Zeit unter deutscher Herrschaft standen.

Inwieweit musste sich die Wehrmachtsführung vom sowjetischen Aufmarsch im Sommer 1941 bedroht fühlen?

van Creveld: Sehr. 1941 war die Rote Armee die größte der Welt. Stalin mag, wie gesagt, nicht geplant haben, Deutschland im Herbst 1941 anzugreifen. Aber es wäre schwer zu glauben, dass er nicht die Gelegenheit genutzt hätte, dem Reich irgendwann in den Rücken zu fallen.

Was hätte die Wehrmacht im Sommer 1941 also tun sollen, außer anzugreifen?

van Creveld: Gute Frage. Ich sehe die Sache so: Zuerst hat Hitler Polen attackiert, weil er befürchtete, wenn er zu lange wartete, werde sich Deutschlands militärische und politische Situation verschlechtern. Als Nächstes attackierte er Dänemark und Norwegen, weil er dachte, die Westmächte würden es sonst vor ihm tun; dann die Benelux-Staaten, Frankreich und England, weil er glaubte, sie würden Deutschland sonst in einem langen Krieg zermürben; danach die Sowjetunion, weil er fürchtete, Stalin werde ihm früher oder später in den Rücken fallen, und am Ende die USA, weil sonst niemand mehr übrig war. Hätte er im Raumfahrtzeitalter regiert, er hätte zweifellos versucht, den Mond zu besetzen, um einer Attacke vom Mars zuvorzukommen. Und es würde eine Menge von Generälen gegeben haben, die diese Befehle ausgeführt hätten.

Es gibt eine Theorie, wonach große Reiche weniger aus Expansionsgier denn aus Angst entstehen. Rom etwa ist nach diesem Modell groß geworden, weil es einen Nachbarn nach dem anderen angriff, von dem es sich bedroht fühlte — was im Falle Karthagos oder Germaniens ja nicht aus der Luft gegriffen war. Auf Hitler gedreht: War die Bedrohung, die er empfand, irgendwo real?

van Creveld: Hitlers Grundidee war: Deutschland wird entweder eine Großmacht oder — angesichts der erstaunlich an Wachstum zulegenden Sowjetunion auf der einen und der USA auf der anderen Seite — überhaupt keine Macht. Das war keine schlechte Prognose. Zu seinen Generälen sagte er im November 1937, der Krieg werde zwischen 1943 und 45 beginnen oder die neue Ausrüstung der Wehrmacht werde veraltet sein. Auch das war keine schlechte Prognose. Zuletzt haben wir bereits festgestellt: Hätte Hitler Stalin nicht angegriffen, hätte Stalin nahezu sicher an irgendeinem Punkt Hitler angegriffen. Möglicherweise ist die Lektion aus alledem einfach: Angst ist ein schlechter Ratgeber.

Sie sagen, Stalin hätte angegriffen. Wissen Sie, dass in Deutschland eine solche Meinung als Verharmlosung Hitlers gilt?

van Creveld: Als Jude und Israeli, der Teile seiner Familie im Holocaust verloren hat, darf ich wohl sagen, dass Hitler und das Dritte Reich schreckliche Verbrechen gegen mein Volk begangen haben. Aber sie taten noch anderes: Sie nagelten Generationen von Deutschen, die nach ihnen kamen, an das Hakenkreuz, von dem herabzusteigen, wie ich fürchte, sehr schwer sein wird. Mit anderen Worten: Was in Deutschland im Kontext Ihrer Frage als angemessen gilt, ist nicht meine Sache. Es sind die Deutschen, die das Hakenkreuz tragen müssen, nicht ich.

Wann war der Krieg für die Wehrmacht nach Ihrer Meinung verloren? Nach Dünkirchen? Mit dem Angriff auf die Sowjetunion? Vor Moskau?

van Creveld: Das sind die Wendepunkte, die man so nennt. Es gibt eine Reihe von interessanten neuen Publikationen zu dieser Frage. Einige meinen, wäre 1944 die Invasion der Normandie gescheitert, dann hätte Deutschland den Krieg im Osten gewonnen, weil es eine Million Mann von der Westfront dorthin hätte versetzen können. In diesem Fall wären wahrscheinlich Heidelberg und Göttingen statt Hiroshima und Nagasaki von den ersten Atombomben getroffen worden.

Die Entscheidung über den Kriegsausgang fiel in Los Alamos; Stalingrad und Kursk waren Marginalien?

van Creveld: Ich würde noch weiter gehen: Stalingrad, Kursk und der Rest waren kleine Brötchen. Hiroshima markiert das Ende einer tausendjährigen historischen Periode. Während dieser Zeit wurde der Krieg größer und größer — bis zu jenem Zeitpunkt 1943, als die Wehrmacht zusammen mit der Waffen-SS über neun Millionen Soldaten umfasste. Sie war dafür geschaffen, konventionelle Kriege zu führen. Diese Art von Krieg kann heute nur noch gegen kleine und unbedeutende Staaten geführt werden, die selber keine Nuklearwaffen herstellen können — wie der Irak.

Die Einführung der Atomwaffen hat die konventionell geführten Kriege zwar eingeschränkt, aber keineswegs beendet. Inwieweit war die Wehrmacht nach dem Zweiten Weltkrieg anderen Armeen ein Vorbild?

van Creveld: Ich kann hier nicht annähernd darlegen, was alles nach 1945 über die Wehrmacht geschrieben worden ist. Während des Kalten Krieges war der Westen eher geneigt, von ihr zu lernen, als der Osten. Der Höhepunkt war um 1975 erreicht, als die USA den Vietnamkrieg verloren hatten und nach einem Nachfolgemodell suchten. Die Suche endete 1991, als ihr Sieg über Saddam Hussein die Amerikaner überzeugt hatte, dass sie von niemandem mehr lernen müssen.

Und Israel?

van Creveld: In Sachen Strategie, Organisation, Doktrin und dem Verhältnis zwischen den drei Waffengattungen ähnelte keine Armee des 20. Jahrhunderts mehr der Wehrmacht als die israelische. Wir in Israel können das jedoch nicht eingestehen. Als der Militärverlag Maarachot vor etwa 30 Jahren eine Übersetzung der Memoiren von Dönitz herausbrachte, gab es so starke Proteste, dass das Projekt gestoppt werden musste. Nebenbei: Die Ausbildung israelischer Offiziere lässt sich nicht mit jener der Wehrmacht vergleichen; das direkte Lernen gilt nur für Situationen, wo ähnliche strategische Probleme zu ähnlichen militärischen Lösungen führen.

In ihren Memoiren haben verschiedene Wehrmachtsgeneräle geschrieben, durch die ständigen Eingriffe Hitlers in den Kampfverlauf sei ihnen gewissermaßen ihr ganzer Krieg vermasselt worden. Zu Recht?

van Creveld: Die Generäle sahen sich selbst als die besten der Welt. Nachdem der Krieg verloren war, hatten sie ein Problem. Warum also nicht die Niederlage auf Hitler schieben, der sich nicht mehr verteidigen konnte? Die Wahrheit ist wohl ein bisschen anders. Als Hauptverantwortlicher für die Entfesselung und Führung des Krieges war Hitler ohne Frage auch der Hauptverantwortliche für die Niederlage. Schaut man aber, was die meisten Generäle während des Krieges von sich gaben, findet man, dass selten einer Hitlers Führungsanspruch in Frage stellte. Dönitz etwa notierte nach einem Treffen im Juli 1943: „Niemand kann das besser machen als der Führer.“ Während der letzten Kriegsmonate kam es wiederholt vor, dass Generäle mit dem Vorsatz zu Hitler gingen, ihm endlich die Wahrheit über die Lage zu sagen. Beinahe ebenso regelmäßig kamen sie begeistert zurück. Denn Hitler verglich die Situation mit derjenigen Friedrichs des Großen, beschwor die politischen Differenzen zwischen Deutschlands Feinden, oder er redete von den Wunderwaffen, die bald eingesetzt werden würden. Und die Generäle ließen sich überzeugen.

Andererseits haben alle drei Heeresgruppenchefs an der Ostfront gegen Hitlers Kriegsführung protestiert, so dass er sie Ende 41/Anfang 42 ablöste, und Erich von Manstein hat Hitler sogar mitunter bescheinigt, seine operativen Ideen seien Unsinn ...

van Creveld: Mit Ausnahme der UdSSR —mit Stalin streiten war zu gefährlich — gab es solche Debatten in allen Krieg führenden Staaten. Im Speziellen ist es nicht sicher, dass Hitlers „Keinen Schritt zurück“-Befehl Ende 1941 ein Fehler war. Zu dieser Zeit waren keine Stellungen vorbereitet; wäre der Rückzug genehmigt worden, wäre das Ergebnis möglicherweise die völlige Auflösung gewesen. Ich stimme zu, dass es sehr schwer ist, nachträglich die Verantwortung zuzuweisen. Dennoch würde ich die Argumente der deutschen Generäle gegen Hitler nicht überbewerten.

Apropos Manstein: War der Mann ein Genie, ein Kriegsverbrecher, beides?

van Creveld: Er war gewiss ein Genie, obwohl er lediglich die Gelegenheit besaß, es auf operativem Niveau zu zeigen. Ob er zu einem großen Strategen hätte aufsteigen können, wissen wir nicht. Andererseits ist Hitlers berüchtigter Kommissarbefehl in der Armee, die er kommandierte, ausgeführt worden. In Mansteins Verantwortung fällt außerdem — da stimme ich der Biografie meines Kollegen Marcel Stein zu — die Tolerierung, wenn nicht aktive Unterstützung des Genozids auf der Krim, solange dieses Gebiet unter seinem Befehl stand.

An Mansteins 80. Geburtstag kam die Bundeswehr mit Brimborium zum Gratulieren. Inzwischen hat sie jede Verbindung zur Wehrmacht gekappt. Was finden Sie angebrachter?

van Creveld: Nach allem, was wir über Manstein wissen, ist es ein Fehler, ihn zu feiern. Andererseits muss man vorsichtig sein. Die menschliche Natur ist nicht so beschaffen, dass jemand für die Erhöhung des staatlichen Erziehungsbudgets um ein halbes Prozent sein Leben aufs Spiel setzen möchte; nur große und kraftvolle Ideen können ihn dazu bringen. Eine Organisation wie die Bundeswehr, die ihre Aufgabe nur erfüllen kann, wenn Männer bereit sind, dem Tod ins Auge zu blicken, kann einfach ohne Tradition nicht existieren.  Michael Klonovsky

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