Vor kurzem bin ich auf Bild.de auf das Foto eines sympathischen, geschätzt Mitte 30-jährigen Flüchtlings gestoßen. Als ich in der Bildunterschrift gelesen habe, dass Muhammad 18 Jahre alt sein soll, musste ich erst einmal lachen. Dann habe ich mir als angehende Medizinerin natürlich eine ganz naive Frage gestellt: Kann man das Alter von Flüchtlingen, die auffällige Altersangaben nicht mit Ausweisdokumenten belegen können, nicht einfach medizinisch bestimmen? Antwort: Ja, man kann – jedenfalls wenn man darf.
Im Januar 2016 gab es nach Angaben des Bundesfachverbands unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e. V. etwa 60.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) in Deutschland. Da UMF eine besondere Betreuung zukommt und sie seltener abgeschoben werden, ist es grundsätzlich denkbar, dass sich Flüchtlinge ohne Ausweisdokumente bei der Einreise nach Deutschland als minderjährig ausgeben. Weil die Betreuung von sogenannten UMF erhebliche Kosten verursacht und Ressourcen in einem Sozialstaat gerecht verteilt werden sollten, stellt die Überprüfung verdächtiger Altersangaben von Flüchtlingen eine besondere gesellschaftliche Verpflichtung dar.
Welche Untersuchungen bei einer forensischen Altersbestimmung zum Einsatz kommen können, hängt, wie Rechtsmediziner der Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in einem Übersichtsartikel schreiben, von der Rechtsgrundlage zur Durchführung von Röntgenuntersuchungen ab. Diese sind für eine zuverlässige Altersdiagnostik notwendig. Allerdings bedarf der Einsatz von Röntgenstrahlung am Menschen nach der sogenannten „Verordnung über den Schutz vor Schäden durch Röntgenstrahlen (Röntgenverordnung - RöV)" entweder einer medizinischen Indikation oder einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage.
Die Rechtsmediziner der AGFAD geben an, dass es zwar verschiedene Ermächtigungsgrundlagen für Röntgenuntersuchungen zur Altersdiagnostik ohne medizinische Indikation gibt, dass allerdings die Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Röntgenuntersuchungen außerhalb von Strafverfahren uneinheitlich ist.
Hauptargument gegen Röntgenuntersuchungen zum Zweck der Altersschätzung im Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes ist die Strahlenbelastung. Aus juristischer Sicht muss gewährleistet sein, dass die untersuchte Person gesundheitlich nicht gefährdet wird. Die Rechtsmediziner sehen durch eine einzelne Röntgenuntersuchung keine unverhältnismäßige Gesundheitsgefährdung. Die effektiven Strahlendosen der zur Altersdiagnostik eingesetzten Röntgenverfahren liegen nämlich mit 0,0001 bis 0,4 mSv weit unterhalb der natürlichen effektiven Dosis in Deutschland von durchschnittlich 2,1 mSv pro Jahr. Damit, so die Autoren, liegt die Risikozunahme durch die Röntgenuntersuchung zur Altersdiagnostik im Bereich anderer Alltagsrisiken, zum Beispiel der Teilnahme am Straßenverkehr; damit ist eine besondere Gesundheitsgefährdung nicht anzunehmen.
Liegt eine Rechtsgrundlage für Röntgenuntersuchungen ohne medizinische Indikation vor - also wenn man darf - empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft folgende Methoden zur Altersbestimmung:
- eine körperliche Untersuchung,
- eine Röntgenuntersuchung der Hand und
- eine zahnärztliche Untersuchung inklusive einer Röntgenaufnahme der Kieferregion.
Bei der körperlichen Untersuchung wird die körperliche Entwicklung u. a. anhand der Geschlechtsteile beurteilt. Entwicklungsstörungen, speziell auch hormonelle Störungen, die zu einer beschleunigten Skelettreifung führen, sowie die Einnahme von Medikamenten, die das Wachstum beeinflussen, müssen im Rahmen der Untersuchung ausgeschlossen werden.
Die Aussagekraft der forensischen Altersdiagnostik ist nach Meinung der Rechtsmediziner groß, weil die Ärzte sich auf Referenzstudien stützen können, in denen alterstypische Varianten der Entwicklung der untersuchten Merkmale gelistet sind. Dadurch lässt sich ein Mindestalter bestimmen:
„Das Mindestalter ist das Alter der jüngsten Person der Referenzpopulation, die die jeweilige Merkmalsausprägung aufweist. Bei der Untersuchung mehrerer Merkmalssysteme ist das höchste festgestellte Mindestalter maßgeblich. Die Anwendung des Mindestalterkonzepts stellt sicher, dass das forensische Alter der begutachteten Person keinesfalls zu hoch angegeben wird, sondern praktisch immer unter dem tatsächlichen Alter liegt. Liegt das ermittelte Mindestalter oberhalb der juristisch relevanten Altersgrenze, ist das Überschreiten dieser Altersgrenze mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen. Liegt das ermittelte Mindestalter oberhalb des von der untersuchten Person mitgeteilten Alters, kann dieses praktisch ausgeschlossen werden. Liegt das mitgeteilte Alter oberhalb des ermittelten Mindestalters, ist das mitgeteilte Alter mit den erhobenen Befunden vereinbar.“
In der Publikation präsentieren die Rechtsmediziner das Fallbeispiel eines Somaliers, der angibt 17,5 Jahre alt zu sein und dessen Mindestalter anhand der medizinischen Befunde auf 17,3 geschätzt wird. Sein Maximalalter wird auf 22 und sein wahrscheinliches Alter auf 19 geschätzt. Da das geschätzte Mindestalter unter 18 liegt, es also Personen in einer Vergleichsgruppe gab, die die Merkmalsausprägung des Somaliers in einem Alter von unter 18 noch gezeigt haben, wurde er nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ als minderjährig anerkannt.
Die Arbeitsgemeinschaft erklärt überzeugend, dass durch die forensische Altersdiagnostik das Mindestalter einer Person tendenziell zu niedrig geschätzt wird und so Fälle, in denen minderjährige Flüchtlinge fälschlicherweise als nicht minderjährig geschätzt werden, praktisch ausgeschlossen sind. Lässt sich zum Beispiel nicht mit Sicherheit feststellen, ob jemand 17 oder 18 ist, wird im Interesse des Flüchtlings entschieden. Die Mindestalterbestimmung eignet sich vor allem dafür, Personen zu identifizieren, die schon einige Jahre älter als 18 sind.
Die Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik konzentriert sich auf rechtliche und medizinische Aspekten der forensischen Altersdiagnostik. In einer aktuellen Stellungnahme bespricht die Ethikkommission der Bundesärztekammer differenziert und gründlich wichtige ethische Aspekte einer Altersbestimmung. Dazu zählen u. a. Fragen der körperlichen Unversehrtheit, der informierten Einwilligung, der Wahrung der Intimsphäre und der potenziellen Verletzung religiöser Gefühle. Etwas abrupt kommt die Ethikkommission danach zu dem Schluss, dass Röntgen- und Genitaluntersuchungen zum Zweck der Altersdiagnostik – also genau die Untersuchungen, mit denen sich das Alter überhaupt medizinisch bestimmen lässt - abzulehnen sind:
„Aufgrund der gesundheitlichen Risiken bestimmter Verfahren der medizinischen Altersschätzung sind besondere Anforderungen an die wissenschaftlichen Grundlagen der Verfahren zu stellen. Die Verfahren der medizinischen Altersschätzung sollten systematisch evaluiert werden. Soweit möglich sollten auf dieser Basis interdisziplinäre Standards entwickelt werden, die ethische und rechtliche Aspekte angemessen berücksichtigen. Solange solche Standards nicht vorliegen, kann sich die medizinische Altersschätzung im Asylverfahren an den 2004 publizierten Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik (AGFAD) außerhalb von Strafverfahren orientieren. Danach sind Röntgenuntersuchungen ausgeschlossen. Darüber hinaus sind Genitaluntersuchungen zum Zwecke der Altersschätzung abzulehnen.“
Stattdessen empfehlen die Medizinethiker sozialpädagogische Tests zur Feststellung der psychischen Reife der Flüchtlinge und schreiben: „Eine medizinische Untersuchung sollte nur in besonderen Ausnahmefällen auf Antrag des Flüchtlings oder – bei Verdacht auf Missbrauch – auf gerichtliche Anordnung vorgenommen werden.“
Ideologisch beeinflusste Kritik an der forensischen Altersdiagnostik
Wer die Website der Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik studiert, wundert sich nicht, dass die Bundesärztekammer mit solch „vorsichtigen“ Aussagen in die Öffentlichkeit tritt. Die AGFAD steht wegen der angeblich fehlenden Aussagekraft der forensischen Altersdiagnostik schon seit längerer Zeit in der öffentlichen Kritik. So hat etwa das ZDF in einer Reportage die Methoden der forensischen Altersdiagnostik kritisiert. Die Rechtsmediziner haben sich in einer ausführlichen Stellungnahme gegen die dabei getroffenen Aussagen gewehrt. Darin heißt es:„Seit Jahren agitiert eine bestimmte, ideologisch motivierte Interessengruppe gegen die amtswegige Sachverhaltserhebung zur Altersbeurteilung fraglich unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge inklusive der Beauftragung eines medizinischen Sachverständigenbeweises. Mittels unzutreffender Behauptungen und einer diskreditierenden Wortwahl wird versucht, öffentlichen Druck auf politische Entscheidungsträger, die Rechtsprechung, die ärztliche Standesvertretung und auch auf Gutachter auszuüben. Ämtern und Behörden wird unterstellt, die forensische Altersdiagnostik als Abwehrstrategie gegen ‚Kinderflüchtlinge‘ zu missbrauchen. Sachverständige werden aufgefordert, sich nicht als „Erfüllungsgehilfen ordnungspolitischer Maßnahmen“ zu betätigen und sich entsprechenden behördlichen Gutachtensaufträgen zu verweigern, andernfalls solle die Bundesärztekammer „berufsrechtlich“ gegen sie vorgehen. Für diese Zwecke wurde zuletzt eine ZDF-Sendereihe instrumentalisiert, was zum Anlass genommen wird, wiederholt gemachte Aussagen dieser Lobby zu kommentieren und ihnen die tatsächlich bestehende Faktenlage gegenüberzustellen.“
Auch auf einer Fachkonferenz "Best Practice for Young Refugees" haben die Wissenschaftler ihre Methoden gegen vermeintliche Kritiker verteidigt. Ebenso mussten sie sich gegen Falschbehauptungen der Caritas wehren.
Forensische Altersdiagnostik wird in der Öffentlichkeit mit fragwürdigen Behauptungen als „flüchtlingsfeindlich“ diffamiert: sie sei ein unzumutbarer Eingriff in die Privatsphäre und die religiösen Gefühle der Flüchtlinge, eine unzumutbare Gesundheitsschädigung – und vor allem aber ein hinterlistiges Mittel, um minderjährige Flüchtlinge älter zu machen, als sie sind, um ihnen Leistungen zu verweigern, die ihnen eigentlich zustünden.
Die Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit durch die forensische Altersdiagnostik wird in meinen Augen aufgrund einer falschen political correctness überinterpretiert, die Aussagekraft der Untersuchungen in ein schlechtes Licht gerückt (obwohl die Untersuchungen das Alter tendenziell zu niedrig, also im Sinne des Flüchtlings, feststellen) – alles um bloß nicht als ein „Flüchtlingsfeind“ zu gelten.
Forensische Altersuntersuchungen sollten selbstverständlich nach medizinethischen Grundsätzen nur nach einer ausführlichen Information über die möglichen Konsequenzen und nur durch einen Dolmetscher erfolgen und medizinisch sorgfältig und sensibel (gerade wenn es um Genitaluntersuchungen geht) durchgeführt werden. Ist es aus ethischer Sicht vertretbar, einen Flüchtling, der verdächtige Altersangaben macht, aufzufordern, eine Röntgenuntersuchung seiner Hand und seines Kiefers anfertigen zu lassen, wenn davon keine akute Gesundheitsgefährdung ausgeht? Wenn die Altersbestimmung dem höheren Ziel der gerechten Ressourcenverteilung unter Flüchtlingen dient? Und wenn das System der Mindestalterbestimmung nicht die Gefahr birgt, dass der Flüchtling fälschlicherweise als zu alt geschätzt wird? Würden Sie in dieser Situation eine solche Untersuchung an sich vornehmen lassen? Wenn Sie mich fragen: Ich halte das für ethisch vertretbar und würde es tun.
Marisa Kurz, geboren 1988, hat zwar im Doppelstudium Biochemie und Philosophie studiert und abgeschlossen, will aber Ärztin werden. Deshalb studiert sie seit 2014 Humanmedizin in München und promoviert in Medizinethik. Ihr vollintegrierter bosnischer Straßenhund hat seit kurzem einen EU-Haustierausweis. Marisa schreibt nebenbei Texte und versucht sie bei namhaften Blättern zu veröffentlichen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.