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Donnerstag, 8. Dezember 2016

Alle Sprachen führen nach Akkad

Zwischen Island und Sri Lanka sprechen drei Milliarden Menschen eine der rund 400 indoeuropäischen Sprachen. Irgendwann sollte es demnach einmal ein Volk gegeben haben, von dem aus eine Urvariante all dieser Sprachen in die verschiedenen Winkel der Welt gelangte. Woher ihre Sprecher, also die Ur-Indoeuropäer stammten, ist seit langer Zeit heftig umstritten – verschiedene Argumente sprachen für einen Ursprung aller Sprachen in Anatolien, andere für einen in der heute ukrainisch-russische Steppe nördlich vom Schwarzen und Kaspischen Meer. Vertreter dieser zweiten Hypothese bekommen nun Unterstützung durch eine der bis dato umfangreichsten genetischen Untersuchungen an vor tausenden Jahren verstorbenen Europäern.

Großstudien wie diese – extrahiert, untersucht und analysiert wurden immerhin die DNA-Reste von knapp 100 vor 3000 bis 8000 Jahren begrabenen Menschen unterschiedlichster Kulturen – sind nur durch intensive internationale Zusammenarbeit möglich; beteiligt waren hier unter Federführung des aktuellen Doyen des Fachs, David Reich von der Harvard Medical School, auch Forscher des frisch gegründeten Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena. Experten und eine stetig wachsende Gemeinde von an der genetischen Vergangenheit Europas interessierten Laien warten auf jede auch kleinere Analyse alter DNA-Spuren: Denn bisher mussten sie sich mit zwar ausgefeilten, aber doch recht theoretischen Modellen über die mannigfaltigen Wanderungsbewegungen und Vermischungen der Völker Europas seit der Steinzeit zufriedengeben, die man aus den modernen Genen der heute in Europa lebenden Menschen zurückrechnet und herausdestilliert. Die Theorien über die Entwicklung europäischer Kulturen können aber nur durch den Vergleich alter Gene von damals Lebenden handfest abgesichert werden. Entsprechend großes Hallo erntete die neue Genstudie, als vor drei Wochen erste Ergebnisse auf einem Vortrag von David Reich durchsickerten und bald danach auf dem "Bioxiv"-Vorveröffentlichungsserver publiziert wurden.


Eine Vierfachbestattung von Vater, Mutter und zwei Söhnen bei Naumburg im Burgenlandkreis, Sachsen-Anhalt. Die Familie lebte in der Schnurkermischen Kultur, die von zirka 2659 bis 2501 v. Chr. in Mitteleuropa dominierte.
 
 
Ihre Kernaussage bestätigt eine geradezu umwälzende Wanderungsbewegung, bei der Menschen vor etwa 4500 Jahren typische Gensignaturen aus dem Osten in die Mitte Europas trugen. Dabei erscheint der Fortschritt dieser Gruppe spektakulär erfolgreich: Ihre Gene und offenbar irgendein technologischer oder kultureller Vorteil verdrängten ältere Siedlungspuren. Tat das auch die Sprache der Einwanderer? Und handelte es sich um das lange gesuchte Ur-Indoeuropäisch?
Gene aus alten Grabknochen verraten nicht viel darüber, welche Sprachen der Verstorbene einst beherrschte. Aber: Ungefähr zu der Zeit der nun auch genetisch festgezurrten Einwandererwelle vermuten einige Linguisten nach ihren sprachgeschichtlichen Analysen tatsächlich die Ausbreitung des Indoeuropäischen. Und Archäologen kennen aus vielen Funden ohnehin seit Langem auch eine zeitgleich am Ende des Neolithikums mit Macht vordrängende Kultur, die Schnurkeramiker. Die Vordenker dieser Schnurkeramiker und ihre Sprache könnten tatsächlich recht gut kupfersteinzeitliche Völker vom Nordrand des Schwarzen Meers gewesen sein: Rund drei Viertel der untersuchten Gensignaturen stimmen überein und belegen, dass in der Steppe im Umfeld verschiedener Grubengrabkulturen vor rund 5000 Jahren Vorfahren der später nach Europa vordringenden Menschen gelebt hatten. Dies stützt die modernen Varianten der lange umstrittenen, einst fast zu Tode diskutierten und zeitweise als überholt angesehenen "Kurgan-Hypothese".


Sie und ihre modernen, im Detail abweichenden Abwandlungen postulierten, dass sich einst die Steppenbesiedler aus ungeklärter Ursache (eine lokale Klimaveränderung?) in großer Zahl auf eine lange dauernde Bewegung gen Westen gemacht haben und ihre Sprache (Proto-Indoeuropäisch?) sowie ihre Lebensart (eine sehr hierarchisch-patriachische Organisation?) mit sich führten. Die sesshaften, waffentechnologisch womöglich unterlegenen Einheimischen schienen den aus Osten über den Balkan und die Flusstäler allmählich vordringenden Steppenbewohnern jedenfalls wenig entgegenzusetzen: Sie wurden zum Großteil absorbiert – was nun die modernen genetischen Untersuchungen tatsächlich belegen.

Denn bis tief nach Mitteleuropa haben die Schnurkeramikergene die genetische Landkarte Europas verändert: Heute finden sich nur noch wenige Spuren der früheren europäischen Siedler, die in der Jungsteinzeit von Spanien bis Ungarn mit einer einheitlichen Genlandschaft dominiert hatten.
Ihre Vorfahren waren zu Beginn der neolithischen Revolution – also Jahrtausende vor den Steppenkeramikern – in der ersten spektakulären Einwanderungswelle aus dem Nahen Osten heraus nach Europa geströmt und hatten damals die noch aus der Eiszeit übrig gebliebenen Jäger und Sammler an den Rand gedrängt.
Spätestens die Schnurkeramiker mit Steppenmigrationshintergrund aus dem Osten, vielleicht auch die Konkurrenzkultur der ebenfalls spektakulär erfolgreichen Glockenbechermenschen aus Südwesten oder sogar schon früher ein Comeback der alten mesolithischen Jäger- und Sammlergene aus der europäischen Peripherie haben jedenfalls die Gensignaturen der einst so weit verbreiteten neolithischen Einwandererschicht ausgestochen.

Mit den alten, verschwundenen ersten Bauern aus dem Neolithikum verbindet sich aber auch die Alternativhypothese zur nun gestützten Steppen-Theorie der Indoeuropäer-Herkunft: die Anatolien-Hypothese, wonach das Indoeuropäische mitsamt den ersten Neolithikern aus dem Nahen Ostern und Anatolien gen Europa vorgedrungen ist.
Das Indoeuropäische wäre demnach älter und vor 7000 bis 8000 Jahren nach Europa importiert worden – wohl aus einem alten Schmelztiegel der Sprachen in Anatolien und Armenien heraus, den einige Linguisten heute noch auszumachen glauben. Zudem ist unter Linguisten heftig umstritten, wie alt das Indogermaische tatsächlich ist: Verschiedene Gruppen meinten, es sei durchaus schon alt genug, um mit der neolithischen Revolution aus Anatolien gekommen zu sein. Allerdings könnte es natürlich auch lange schon in der Steppe existiert haben, bevor die Menschen von dort aufbrachen.
Die neuen Genanalysen widerlegen die Anatolien-Hypothese jedenfalls nicht definitiv – Knochen und Gene kennen ja keine Sprache –, sie passen aber wohl doch eher zur Steppen-Theorie. Denn wenn die alten Neolithiker verdrängt wurden – warum sollten die neuen dynamischen Herren deren alte Sprache übernehmen? Und verdrängt wurden die einst so erfolgreichen Jungsteinzeitmenschen eindeutig, wie sich erneut bestätigt hat. Man erkennt das auch daran, dass die ersten Bauern Europas noch keine genetische Spur jener sehr alten Menschengruppe aus dem Fernen Osten aufweisen, die in modernen Europäern noch heute zu finden ist – einer Gensignatur, die erst mit den Schnurkeramikern nach Europa gelangte. Aus dem Pool dieser noch zum Gutteil mysteriösen, alten östlichen Menschengruppe speist sich auch eine merkwürdige "europäische" Gensignatur, die ebenso in den Indianern Nordamerikas zu erkennen ist: Die aus Sibirien kommenden Besiedler Amerikas haben sie viele Jahrtausende vor Kolumbus in die Neue Welt getragen. Das Indoeuropäische konnten sie nicht mitnehmen: Es entstand erst einige Jahrtausende nach dem Aufbruch der eurosibirischen Protoindianer – wahrscheinlich in der eurasischen Steppe.   Spektrum


Der Brite William Jones (1746–1794) war zweifellos ein Sprachgenie. Bereits als Jugendlicher lernte er Altgriechisch, Latein, Persisch und Arabisch. 1786 hielt er vor der von ihm gegründeten Asiatic Society of Bengal einen Vortrag, der die Sprachwissenschaft revolutionierte: Die indische Sanskritsprache, Latein und Griechisch, so Jones, seien „irgendeiner gemeinsamen Quelle entsprungen“. Mehr noch: „Sowohl das Gotische als auch das Keltische“ seien „trotz unterschiedlicher Sprachformen gleichen Ursprungs wie das Sanskrit“.
Nachfolger bestätigten Jones’ These und nannten die Sprachfamilie, zumal in Deutschland, „indogermanisch“. Auch um sich von den rassisch-völkischen Verirrungen abzugrenzen, spricht man heute zunehmend von „indoeuropäisch“.

[Es gab im 19. Jahrhundert ungefähr 20 verschiedene Bezeichnungen, die durcheinander verwendet und schon damals immer wieder diskutiert wurden, ohne dass man sich einigen konnte, welche am geeignetsten sein könnte. Schon damals wurden in aller Unschuld die Wörter „arisch“ und „indogermanisch“ verwendet. Letzteres um auf die äußerste geographische Ausdehnung Bezug zu nehmen, insofern Isländisch als germanische Sprache im äußersten Nordwesten galt.]

Zwei Drittel der Weltbevölkerung bedienen sich als Primär-, Zweit- oder Verkehrssprache eines ihrer Idiome. Dabei reicht das Spektrum von Hindi mit 550 Millionen Sprechern bis zu Veddah im Bergland Sri Lankas mit 300 Sprechern.
Die Karriere dieser Sprachfamilie ist das große Thema von Harald Haarmann. Der international bekannte Sprachforscher mit Wohnsitz in Finnland hat in zahlreichen Standardwerken die Sprachen der Welt beschrieben. „Auf den Spuren der Indoeuropäer“ heißt sein neues Buch. Darin verknüpft er die neuesten Erkenntnisse der Archäologie, Genetik und Geschichtswissenschaft mit seiner eigenen Disziplin und rekonstruiert in einem faszinierenden Indizienprozess die Urheimat des Indoeuropäischen und folgt seiner Aufsplitterung in den Hochkulturen des alten Orients und der mediterranen Antike.
Eine methodische Mahnung steht am Anfang: Es geht um eine Sprache und nicht um ein Volk. Die Annahme, die Sprecher des Ur- oder Protoindoeuropäischen seien als Eroberer durch Europa und Asien gezogen, verführte beizeiten zahlreiche Autoren und Politiker dazu, daraus Legitimationen für ihre Gegenwart abzuleiten. Hitlers „Arier“-Wahn ist nur ein extremes Beispiel. Wir müssen uns dagegen die Protoindoeuropäer als lose verbundene Klans vorstellen, die zur gleichen Zeit in einem Gebiet lebten, wo sie unter ähnlichen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ihre Sprache entwickelten. Ein „Volk“ oder gar „Reich“ der Indoeuropäer hat es nie gegeben.

[Das hat ja auch nie jemand behauptet]

In den vergangenen Jahren haben sich zwei unterschiedliche Ansichten über die Urheimat der Protoindoeuropäer herausgeschält. Die einen lokalisieren sie im neolithischen Anatolien, die anderen in der südrussischen Steppe zwischen Don, Wolga und Schwarzem Meer.

Forscher, die die anatolische Herkunft vertreten, können dabei auf den Siegeszug einer anderen kulturellen Errungenschaft verweisen. Es gilt als sicher, dass Homo sapiens im Osten Kleinasiens erstmals der Übergang zur bäuerlichen Produktionsweise gelang. Diese „neolithische Revolution“ breitete sich seit etwa 7000 v. Chr. über den Balkan auch in Europa aus. Mit der Technik des Ackerbaus sei auch das Protoindoeuropäische über den Kontinent gekommen, so die Hypothese.
Haarmann zählt sich zu der anderen Fraktion. Für ihn waren Viehnomaden die ersten Sprecher des Indoeuropäischen. Dieser Ansatz hat allerdings einen entscheidenden Haken. Viehnomadismus setzt die Domestikation von Ziege und Schaf, bald auch Pferd und Rind voraus. Diese Kulturleistung wird aber dem sogenannten „neolithischen Bündel“ zugerechnet, mit dem die frühen Bauern in die Welt zogen.

Haarmann argumentiert dagegen mit neuesten archäologischen Forschungen über die Nomadenkulturen Eurasiens. Danach gelang den Jägern und Sammlern die Domestikation von Wildziege und -schaf parallel aber unabhängig vom Ackerbau, der sich unter den ökologischen Bedingungen der heimatlichen Waldsteppe und Steppe nicht entfalten konnte.
Als zunehmende Austrocknung das Wild reduzierte, konzentrierten sich die Menschen dort auf das einzige größere Tier, das in der Steppe verblieb, das Wildpferd. Mit ihm war es möglich, große Herden an Schafen und Ziegen zu halten und mit ihnen über weite Entfernungen das kärgliche Futterangebot zu nutzen. Da der Viehnomadismus in den kasachischen Steppen östlich des Uralgebirges erst im 4. Jahrtausend v. Chr. fassbar wird, muss sein Ursprung im südlichen Russland angenommen werden.

Die zentrale Bedeutung des Pferdes hat sich tief in den Wortschatz der Hirtennomaden eingegraben. „Auch während der Periode der Expansion indoeuropäischer Populationen, ihrer Sprachen und Kulturen, verliert sich die traditionsreiche Bedeutung des Pferdes nicht“, schreibt Haarmann und untermauert dieses Fazit mit spezifischen Wortstammbäumen. So haben Sprachwissenschaftler das Wort „hékuos“ für Pferd im Protoindoeuropäischen rekonstruiert. Im Lateinischen wurde daraus „equus“, im Griechischen „hippos“, im Altpersischen „asa-“ und im Altindischen Sanskrit „ásva-“.
Auch weitere wichtige Begriffe aus der Lebenswelt der Steppennomaden wie die Wörter für Ziege, Schaf, offenes Weideland oder Herde lassen sich bis ins Protoindoeuropäische zurückverfolgen. Das gilt auch für die Familie um das Wort „meksi“ (Honigbiene) und die gesamte Spezialterminologie für das Honigsammeln. Auch diese Kulturleistung geht auf die Bewohner der Waldsteppenzone Eurasiens zurück. Von dort übernahmen sie als erste ihre nördlichen Nachbarn, die Uralier, aus deren Idiom sich über Jahrtausende hinweg das Finnische entwickelte. Das uralische Wort „mesi“ für Biene zeigt, auf welch’ frühem lautgeschichtlichem Status des Protoindoeuropäischen diese Entlehnung erfolgte.

Allerdings räumt Haarmann ein, dass die Rekonstruktion des Protoindoeuropäischen ein „theoretisches Konstrukt ohne historische Dokumentation“ ist, das die Wissenschaft anhand von Reihenvergleichen zu den lautlichen, grammatischen und lexikalischen Strukturen indoeuropäischer Einzelsprachen entwickelt hat.* Die ersten schriftlichen Zeugnisse einer indoeuropäischen Sprache stammen mit dem Hethitischen und dem mykenischen Griechisch aus dem 17./16. Jahrhundert v. Chr.
Die Sprache der Hethiter, die im 2. Jahrtausend v. Chr. von Kleinasien aus ein Großreich errichteten, liefert Argumente gegen die These, Anatolien sei die Wiege des Indoeuropäischen gewesen. Spuren von Idiomen früherer Bewohner Kleinasiens, die ins Hethitische gelangten, sind nicht indoeuropäisch. Auch passt die herausragende Rolle des Pferdes nicht nach Anatolien. In größerer Zahl scheint es erst von den Hethitern in ihren Streitwagenheeren eingesetzt worden zu sein.
Am Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. sind die Hethiter nach Kleinasien eingewandert. Dort entwickelte sich ihre Sprache unter dem Einfluss von Idiomen weiter, die mit dem Indoeuropäischen nicht verwandt waren. In ihrem Wort für Honig – „militt-“ – trugen sie eine Erinnerung an ihren sprachlichen Ursprung mit sich.  WeLT


* wahrscheinlich hat sowieso Giovanni Semerano recht und die indoeuropäischen Sprachen sind nur ein Mythos des 19. Jahrhunderts: Nachdem man über 1000 Jahre lang die Verwandtschaft der europäischen Sprachen untereinander nicht bemerkt hatte, begann man nun ihre Verwandtschaft mit den semitischen Sprachen zu übersehen. In Wirklichkeit gehen sie alle aufs Akkadische zurück.

Giovanni Semerano

Le origini della cultura europea

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