In der Demokratie geht es nicht um die Wahrheit,
sondern um gefühltes Wissen. Oder gleich um Ideologie. Das war bei den
alten Athenern so, das ist in den modernen Massendemokratien nicht
anders.
Das Gerede von den postfaktischen Zeiten, populär geworden ausgerechnet durch die Bundeskanzlerin und vergangene Woche durch die Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres nobilitiert, ist also Unfug. Denn wann bitte, haben wir jemals in faktischen Zeiten gelebt?
Es ist ein populärpolitologischer Grundirrtum, anzunehmen, Demokratien seien in irgendeiner Form wahrheitsaffiner als andere Staatsformen. Das sind sie natürlich nicht. In der Demokratie geht es darum, Mehrheiten zu organisieren. Entsprechend lebt sie von der Überredung, von der Rhetorik und nicht von der Wahrheitsfindung.Ginge es wirklich darum, eine möglichst faktenorientierte, so weit es geht den Tatsachen verpflichtete Regierungsform zu organisieren, würde man – bei allen prinzipiellen Vorbehalten gegen ein solches Unterfangen – vermutlich zu einer Expertokratie greifen, sicher aber nicht zu einer Massendemokratie.
Hinzu kommt, dass ein Großteil der von einem Gesetzgeber zu fällenden Entscheidungen mit Faktenwissen, Tatsachen oder gar Wahrheiten wenig bis gar nichts zu tun haben. Sie betreffen zumeist normative Fragen von Recht und Gerechtigkeit und unterliegen damit dem moralischen Geschmack. Von Fakten und Tatsachenentscheidungen kann also keine Rede sein.
Und auch dort, wo Entscheidungen auf empirischen, wissenschaftlichen Tatsachen beruhen sollten, haben Demokratien die starke Neigung, diese zu entsachlichen und dafür moralisch aufzuladen. Das liegt in ihrer Logik. Denn nur über diskutierbare Sachverhalte lässt sich auch demokratisch abstimmen. Ergebnis: Gesetze der Mathematik werden im Namen der Gerechtigkeit gebeugt (Staatshaushalt) oder einfache Regeln der Physik unter dem Stichwort Verantwortung (Energiepolitik) ignoriert.
Demokratien sind somit normativ expansiv. Sie verwandeln die Welt der Tatsachen in eine Welt der Konventionen. Denn nur Konventionen lassen sich ändern und sind somit demokratisch. Tatsachen sind dieser Logik nach totalitär. Demokratien mögen keine Tatsachen.
So gesehen, ist Demokratie die kontrafaktische Staatsform schlechthin.
Wer behauptet, die Demokratie sei in den letzten Jahren in eine postfaktische Phase eingetreten, übersieht ihren Grundcharakter – oder leugnet ihn absichtsvoll.
Keiner hat das so klar gesehen wie Edward Bernays. Der war Neffe von Sigmund Freud, wuchs in den USA auf und wurde dort zum Begründer der modernen Public Relation. 1928 veröffentlichte er eines der wichtigsten (aber leider wenig bekannten) Bücher des 20. Jahrhunderts: „Propaganda“.
Darin umreißt er die Bedeutung der Public Relation für moderne Gesellschaften. Gleich der erste Satz lautet unmissverständlich: „Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltenweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften.“
Für Bernays ist das wohlgemerkt kein Manko. Im Gegenteil, es ist eine schlichte Notwendigkeit. Der Grund: „Je komplexer unsere Zivilisation wird und je deutlicher sich zeigt, wie nötig die im Hintergrund arbeitenden Führungsinstanzen sind, desto konsequenter werden die technischen Mittel zur Steuerung der öffentlichen Meinung entwickelt und eingesetzt.“
Meinungsmanipulation ist für Bernays also die einzige Möglichkeit, komplexe und pluralistische demokratische Gesellschaften funktional zu halten. Für Träumer klingt das bitter, aber manches spricht dafür, dass Bernays Recht hat.
Nicht um Fakten geht es also in einer Demokratie, sondern um deren Interpretation, deren Darstellung, deren rhetorische Präsentation. Der demokratische Wettbewerb selbst sorgt mit der ihm eigenen Logik dafür, dass Meinungen als Tatsachen dargestellt und Tatsachen entsachlicht werden.
Das bedeutet im Übrigen nicht, dass in Demokratien systembedingt gelogen wird. Lügen müssen Diktaturen. In Demokratien hingegen geht es um Deutungen und die Erringung der Deutungshoheit. Interpretationen jedoch sind weder wahr noch falsch.
Wer behauptet, wir lebten in postfaktischen Zeiten, verklärt nicht nur die Vergangenheit, sondern verfälscht absichtsvoll das Wesen des demokratischen Wettstreits – so als habe er allein die Wahrheit gepachtet. Demokratie lebt nicht von der einen Wahrheit, sondern vom Wahrheitspluralismus. Das ist anstrengend, ohne Zweifel. Aber alle denkbaren Alternativen sind noch unerfreulicher. Denn das Gegenteil von postfaktisch wäre totalitär. Alexander Grau
Siehe auch der Kommentar von Josef Bordat
Das Gerede von den postfaktischen Zeiten, populär geworden ausgerechnet durch die Bundeskanzlerin und vergangene Woche durch die Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres nobilitiert, ist also Unfug. Denn wann bitte, haben wir jemals in faktischen Zeiten gelebt?
Es ist ein populärpolitologischer Grundirrtum, anzunehmen, Demokratien seien in irgendeiner Form wahrheitsaffiner als andere Staatsformen. Das sind sie natürlich nicht. In der Demokratie geht es darum, Mehrheiten zu organisieren. Entsprechend lebt sie von der Überredung, von der Rhetorik und nicht von der Wahrheitsfindung.Ginge es wirklich darum, eine möglichst faktenorientierte, so weit es geht den Tatsachen verpflichtete Regierungsform zu organisieren, würde man – bei allen prinzipiellen Vorbehalten gegen ein solches Unterfangen – vermutlich zu einer Expertokratie greifen, sicher aber nicht zu einer Massendemokratie.
Hinzu kommt, dass ein Großteil der von einem Gesetzgeber zu fällenden Entscheidungen mit Faktenwissen, Tatsachen oder gar Wahrheiten wenig bis gar nichts zu tun haben. Sie betreffen zumeist normative Fragen von Recht und Gerechtigkeit und unterliegen damit dem moralischen Geschmack. Von Fakten und Tatsachenentscheidungen kann also keine Rede sein.
Und auch dort, wo Entscheidungen auf empirischen, wissenschaftlichen Tatsachen beruhen sollten, haben Demokratien die starke Neigung, diese zu entsachlichen und dafür moralisch aufzuladen. Das liegt in ihrer Logik. Denn nur über diskutierbare Sachverhalte lässt sich auch demokratisch abstimmen. Ergebnis: Gesetze der Mathematik werden im Namen der Gerechtigkeit gebeugt (Staatshaushalt) oder einfache Regeln der Physik unter dem Stichwort Verantwortung (Energiepolitik) ignoriert.
Demokratien sind somit normativ expansiv. Sie verwandeln die Welt der Tatsachen in eine Welt der Konventionen. Denn nur Konventionen lassen sich ändern und sind somit demokratisch. Tatsachen sind dieser Logik nach totalitär. Demokratien mögen keine Tatsachen.
So gesehen, ist Demokratie die kontrafaktische Staatsform schlechthin.
Wer behauptet, die Demokratie sei in den letzten Jahren in eine postfaktische Phase eingetreten, übersieht ihren Grundcharakter – oder leugnet ihn absichtsvoll.
Keiner hat das so klar gesehen wie Edward Bernays. Der war Neffe von Sigmund Freud, wuchs in den USA auf und wurde dort zum Begründer der modernen Public Relation. 1928 veröffentlichte er eines der wichtigsten (aber leider wenig bekannten) Bücher des 20. Jahrhunderts: „Propaganda“.
Darin umreißt er die Bedeutung der Public Relation für moderne Gesellschaften. Gleich der erste Satz lautet unmissverständlich: „Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltenweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften.“
Für Bernays ist das wohlgemerkt kein Manko. Im Gegenteil, es ist eine schlichte Notwendigkeit. Der Grund: „Je komplexer unsere Zivilisation wird und je deutlicher sich zeigt, wie nötig die im Hintergrund arbeitenden Führungsinstanzen sind, desto konsequenter werden die technischen Mittel zur Steuerung der öffentlichen Meinung entwickelt und eingesetzt.“
Meinungsmanipulation ist für Bernays also die einzige Möglichkeit, komplexe und pluralistische demokratische Gesellschaften funktional zu halten. Für Träumer klingt das bitter, aber manches spricht dafür, dass Bernays Recht hat.
Nicht um Fakten geht es also in einer Demokratie, sondern um deren Interpretation, deren Darstellung, deren rhetorische Präsentation. Der demokratische Wettbewerb selbst sorgt mit der ihm eigenen Logik dafür, dass Meinungen als Tatsachen dargestellt und Tatsachen entsachlicht werden.
Das bedeutet im Übrigen nicht, dass in Demokratien systembedingt gelogen wird. Lügen müssen Diktaturen. In Demokratien hingegen geht es um Deutungen und die Erringung der Deutungshoheit. Interpretationen jedoch sind weder wahr noch falsch.
Wer behauptet, wir lebten in postfaktischen Zeiten, verklärt nicht nur die Vergangenheit, sondern verfälscht absichtsvoll das Wesen des demokratischen Wettstreits – so als habe er allein die Wahrheit gepachtet. Demokratie lebt nicht von der einen Wahrheit, sondern vom Wahrheitspluralismus. Das ist anstrengend, ohne Zweifel. Aber alle denkbaren Alternativen sind noch unerfreulicher. Denn das Gegenteil von postfaktisch wäre totalitär. Alexander Grau
Siehe auch der Kommentar von Josef Bordat
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