Gestern dirigierte ein Bekannter in der Philharmonie Beethovens Neunte,
und ich hörte seit langem das wunderliche Opus wieder einmal live. Ich
sage wunderlich, weil es mich jedes Mal in Erstaunen versetzt, wie auf
die drei ersten sinfonischen Sätze – das so rätselhaft demiurgisch
anhebende Allegro ma non troppo, un poco maestoso, das geniale
Scherzo (man muss es gewissermaßen mit Gefäßchirurgenfingern dirigieren)
und das ergreifende Adagio (speziell wenn Furtwängler
es schmerzlich zerdehnt als gewaltige Klage in einer Zeit vorträgt, in
der die Feldpost die Todesnachrichten säckeweise bringt) –, wie auf
diese grandiosen Sätze also der absonderliche Radau des Finales mit
Solisten und Chor folgt. Bei dem man unter anderem merkt, dass Beethoven
alles konnte, nur nicht für die menschliche Stimme komponieren (ich
kenne Sopranistinnen, die sagen, sie sängen lieber dreimal die Isolde
als einmal die Leonore).
Und während dieses Finalsatzes schoss es
mir denn durch den Kopf, dass ich gewissermaßen dem Gründungsdokument
der aktuellen "Willkommenskultur" lauschte. Die deutsche
Weltveredelungs-Hybris, der deutsche Marsch ins Ideal – tatsächlich: in
den Untergang –, hier wurde es erstmals Ereignis als ein orgiastisches
Kulturfest für die Masse. Schillers Hymnus ist ja sehr edel, hochherzig
und mitreißend, bis ins Hysterische ambitioniert, aber eben auch ohne
jedes Maß, vollkommen weltfremd und provinziell, was selbst diese
Hochsprache nicht kaschieren kann, mit einem Wort: sehr deutsch. "Dass
alle Menschen Brüder werden sollen, ist ein Traum von Einzelkindern",
spottete dagegen der weltgewandte Johannes Gross, und der philosophische
Grübler Frank Lisson sekundiert: "Schiller konnte sein ‚Seid
umschlungen, Millionen’ nur ausrufen, weil sie Jena und Weimar noch
nicht belagerten."
Beethoven hat Schillers Bacchanal des
Humanismus immerhin in eine Tonsprache gesetzt, die, bei allem forschen
D-Dur-Verbrüderungsgetöse, durchaus barbarisch und für den
Kulturmenschen befremdlich ist. "Diesen Kuß der ganzen Welt!" – das
kommt nicht aus der "Welt", sondern aus der Welt des Winkelrieds. Wer
die Welt kennt, will sie nicht küssen. Und das "Ihr stürzt nieder,
Millionen?/Ahnest du den Schöpfer, Welt?" schmeckt heute nach dem Blut
unzähliger durchgeschnittener Kehlen. Wofür der göttliche Schiller
nichts konnte, gewiss. Er schreib die Ode 1786. Kurz darauf begann in
Paris und anderen französischen Städten die jakobinische Blutkirmes,
jenes Großmassaker der Brüderlichkeit, das in seiner entfesselten, mit
bestem Gewissen vor aller Augen zelebrierten Mordlust so sehr an die
Halsabschneider des Islamischen Staates erinnert und das die Demokratien
des Westens bizarrerweise bis heute als ihren Gründungsmythos
zelebrieren. Immerhin, Monsieur Schiller, der Ehrenbürger des
revolutionären Frankreichs, hat sich angeekelt davon abgewendet.
Wahrscheinlich hätte er seine Ode an die Freude fünf Jahre später schon
nicht mehr gedichtet. In diesem Zusammenhang nicht unwesentlich ist,
dass Beethoven in seiner einzigen Oper "Fidelio" die Realität durchaus
im Sinne des heutigen Zeitgeistes fakte und umschrieb; die
reale Leonore, die ihren Mann aus dem Gefängnis befreite, das Vorbild
der Hauptfigur der "Befreiungsoper", war eine Royalistin, ihr Mann ein
Aristokrat, nur der Kerker gehörte der Revolution.
Für
unsereinen aber – man verzeihe meine Abschweifung – beginnt 1793 der
große reaktionäre Traum, die öffentliche Hinrichtung der revolutionären
Mörder... Zu diesem Fest mag man meinethalben Beethovens Chorfinale
spielen. MK am 30. 12, 2016
Derselbe Schmarrn wird uns gerade auch von RTL wiedereingetrichtert: an der neuen, realistischen, „authentischen“ Variante von Winnetou (der obwohl Apache von einem echten Sioux Lakota anthropologisch gestylt wurde) ist am unrealistischsten und gleichzeitig karlmayauthentischsten das wiederaufgegossene deutsche Sendungsbewusstsein der sturheilen Verbrüderung zwischen Kulturen, die, „wenn sie sich nur erstmal kennengelernt haben, die Angst voreinander verlieren“, wie Wotan Wilke Möhring in der Dokumentation zur Herstellung des Films sich nicht entblödet willkommenszeitgemäß mit im doppelten Sinn grenzenlos gutgläubiger Einfalt zu monieren. Und zur Person Karl Mays erwähnt Thomas Kramer, wie der alternde, gerade von einer Lungenentzündung Genesene Anfang 1912 in Wien in den Sophiensälen einen zweistündigen Vortrag hält zum Thema „Empor ins Reich der Edelmenschen“.
„Je besser sich die Völker kennen, desto mehr hassen sie sich“, sagte Ennio Flaiano
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