Die Debatte über geschönte Abiturnoten ist nicht so schnell in sich
zusammengefallen, wie man hätte denken können. Tatsächlich hat Josef
Kraus, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, mit seinem Hinweis
auf die absurde Vermehrung von Einsen
vor dem Komma einen wunden Punkt getroffen.
Sogar aus der
Lehrergewerkschaft GEW, normalerweise ein sicherer Garant progressiver
Gesinnung und zügiger Gleichmacherei, kam verhaltene Zustimmung. Bis in
die Lokalblätter wurde das Thema aufgegriffen, das die Bild Anfang der Woche gesetzt hat.
Es geht hier aber nicht nur um eine mehr oder weniger sensationelle
Stellungnahme zu einem offenkundigen Skandal. Eine Rolle für das
breitere Interesse dürfte auch die wachsende Irritation der Bevölkerung
spielen, die mit immer neuen Schreckensmeldungen über das Bildungswesen
konfrontiert wird: zuletzt die deprimierenden Resultate der TIMSS-Studie
im Hinblick auf den Erwerb von Kernfertigkeiten bei Grundschülern,
zuvor die Feststellung einer Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung,
daß 75 Prozent der deutschen Abiturienten nicht studierfähig sind und
die weiterhin deprimierend hohe Zahl der Abbrecher an den Universitäten,
im Durchschnitt jeder Dritte, in den „schweren“ Fächern deutlich mehr
(für das Fach Mathematik kursierten schon Angaben von 80 Prozent eines
Jahrgangs).
Es handelt sich allerdings nicht um neue oder unbekannte Probleme.
Auch die Inflation von Bestnoten – und der Wegfall von Unternoten – ist
seit langem bekannt und wurde immer wieder angesprochen. Nur gab es
bisher den unbegründeten Optimismus, daß sich die Auswirkungen in
Grenzen halten würden. Die „Bildungsrepublik“ (Merkel dixit), so
behauptete man – und der einfache Mann hörte es gern –, benötige für den
Ausbau der „Wissensgesellschaft“ eine immer weiter wachsende Zahl von
Abiturienten. Wenn dann noch die OECD drohend auf den angeblichen
Nachholbedarf Deutschlands gegenüber Ländern wie Frankreich
(Abiturientenquote: 90 Prozent) hinwies, machte sich bald,
wahrscheinlich von der Bertelsmann-Stiftung beraten, eine
Allparteienkoalition daran, die noch bestehenden Widerstände gegen die
flächendeckende „Modernisierung“ des Schulwesens zu schleifen.
Das hieß Ganztagsunterricht und Förderung aller offenen oder
verdeckten Formen der Gesamtschule, Aufhebung des inhaltlichen Bezugs
der Fächer (seit den fünfziger Jahren ist dann die Rede von der
„Entrümpelung“ des Lehrplans) und Reduzierung der wissenschaftlichen
Ausbildung von Lehrern (auch für die weiterbestehenden Gymnasien),
Freigabe des Elternwillens bei der Schulformwahl und Beseitigung oder
Erschwerung des „Sitzenbleibens“ beziehungsweise des zwangsweisen
Übertritts von der höheren zur niedrigeren Schulform, Einführung von
Pseudofächern und systematische Reduzierung der Prüfungsanforderungen,
politischer Druck auf opponierende Kommunalpolitiker, Schulleitungen und
Lehrer.
Mittlerweile sind die negativen Folgen mit Händen zu greifen. Da
steht an erster Stelle die Ungerechtigkeit eines Systems, in dem
Heranwachsende keine Rückmeldung über ihre Leistungsfähigkeit erhalten,
es keine Prämie auf Intelligenz, Fleiß und Wissen, aber auf
Beschränktheit, Faulheit und Ahnungslosigkeit gibt, und die fehlende
Vergleichbarkeit zwischen den Abschlußnoten in den lange Zeit links
regierten Ländern und den noch halbwegs intakten zu erheblichen
Verwerfungen bei der Konkurrenz um begehrte Studienplätze führt. An
zweiter Stelle steht die Tatsache, daß die so oft beklagte
Benachteiligung von Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien weiter
zunimmt, da die elterliche Fähigkeit, die Defizite des Unterrichts
auszugleichen, oft die einzige Möglichkeit darstellt, den
Heranwachsenden mitzugeben, was ihnen mitgegeben werden sollte.
Eher verdeckt sind dagegen die Konsequenzen, die aus dem Vertagen der
notwendigen Siebung entstehen. Früher galt die Faustformel: Wer in der
Schule durchgelobt wird, wird es an der Universität schwer haben. Weil
sich dort mittlerweile dieselben Unsitten ausbreiten wie an den Schulen,
schiebt man die Auslese weiter auf, und dann in Bereiche, in denen die
Wahrscheinlichkeit, daß sachliche Aspekte den Ausschlag geben, immer
geringer wird. Jürgen Kaube hat in einem Kommentar der FAZ von
„Ersatzwährungen“ gesprochen: „Vitamin B, Praktika als Teststrecke,
Assessment-Center, Zertifikate aus stärker selektiven Einrichtungen“.
Kaube weist auch darauf hin, daß uns Amerika auf diesem Gebiet weit
voraus ist. Tatsächlich existiert in den USA gar nichts mehr, was man
ein Bildungssystem nennen könnte. Die Ursache dafür sind die
Reformen, die in der Nachkriegszeit eingeleitet wurden und mit dem Kanon
auch den organischen Aufbau der Schulen nach europäischem Vorbild
zerstörten. Die Argumente, die dafür ins Feld geführt wurden, sind
seitdem immer wieder recycelt worden: „Chancengleichheit“, „Soziale
Gerechtigkeit“, „Demokratisierung“. Dabei handelt es sich
selbstverständlich nur um die Verschleierung eines einzigen Ziels:
Egalität, Beseitigung der Unterschiede, vor allem der
Leistungsunterschiede.
Der Verfasser erinnert sich lebhaft seiner eigenen Zeit an der
Universität, Anfang der achtziger Jahre, als er amerikanische Studenten
unterrichtete, die zum Schluß des Kurses immer eine Prüfung abzulegen
hatten, die sie für ihre Zertifikate brauchten. In der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle zeigte sich dabei dreierlei: guter Wille,
Ahnungslosigkeit und die tiefe Überzeugung, daß es ein Menschenrecht auf
das „Double-A“ gäbe, zu Deutsch: „15 Punkte“, „1 +“. Karlheinz Weißmann
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