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Samstag, 17. Dezember 2016

Von Gelächter begraben

Mit der Wahl der Vokabel „postfaktisch“ zum „Wort des Jahres 2016“ hat die reichlich abgewetzte Kampfparole „populistisch“ einen Bruder erhalten. Ob sich der Begriff ebenso gut als Wieselwort zur Herabsetzung jedweder Opposition qualifiziert wie „populistisch“?
Da haben wir unsere Zweifel, mehr noch: Wir müssen vor dem Gebrauch von „postfaktisch“ sogar aus­drücklich warnen!

Das Wort weist gegen „populistisch“ nämlich einen äußerst gefährlichen Nachteil auf. „Populist“ hat es ja gerade deshalb soweit geschafft, weil man den Begriff kaum fassen kann. Niemand vermag gültig zu erläutern, was es eigentlich bedeuten soll. „Populist“ ist so dehnbar wie einst der Bannspruch „Faschist“, mit dem Stalinisten alle, die ihnen nicht in den Kram passten, zum KZ ver­urteilten − von den Sozialdemokraten („Sozialfaschisten“) über die Liberalen („Hinter dem Faschismus steht das Kapital“) bis zu den Christdemokraten („Klerikalfaschisten“). Mit dem Vorwurf, ein „Populist“ zu sein, kann man also jeden beliebigen Andersdenkenden zur Strecke bringen, ohne irgendetwas Greifbares gegen ihn in der Hand haben zu müssen. Vorausgesetzt, man hält die überlegene Medienmacht in Händen.

Mit „postfaktisch“ ist das bedauerlicherweise nicht so einfach. Dessen Bedeutung ist recht klar umrissen als die Haltung eines Menschen, der seine Meinung aus dem hohlen Bauch hinausposaunt, ohne sich um die Tatsachen zu scheren.

Folge: Während man mit dem „Populismus“-Wort nach Belieben um sich schleudern darf, kann einem „postfaktisch“ schmerzhaft um die Ohren fliegen. So geschehen dem Grünen-Bundestagsabgeordneten Kai Gehring in der wiederbelebten RTL-Sendung „Der Heiße Stuhl“. Dort versuchte er es gleich mit der doppelten Packung und bepöbelte Thilo Sarrazin als „postfaktischen Populisten“. Er hoffte vermutlich, mit diesem Doppelhammer den Verfemten mit links zur Strecke zu bringen, doch das ging fürchterlich in die Hose.
Wer sich auch nur oberflächlich mit Sarrazins Texten beschäftigt hat, der weiß: Dieser Mann ist geradezu vernarrt in Zahlen, in messbare Daten. Sie sind seine Welt. Diesem Mann Faktenverachtung vorzuwerfen ist so glaubwürdig, wie Mutter Theresa mangelnde Glaubensstärke anzulasten oder einem Otto von Bismarck zu unterstellen, er habe nichts von Diplomatie verstanden − einfach lächerlich. Klügere Gegner des Herrn Sarrazin verlegen sich daher lieber darauf, dem Gescholtenen fiese Absichten unterzujubeln, zu deren Zweck er seine Fakten „missbraucht“.
Nicht so Gehring, der wollte dieses neue Modewort einfach auch mal raushauen und flog auf die Nase. Sarrazin konnte sich bequem zurück­lehnen und seine insgesamt vier Ankläger vor dem „Heißen Stuhl“ mit hässlichen Fakten niedermähen. Zitat: „Als ich in Berlin Senator war, waren 80 Prozent der männlichen Insassen in Jugendknästen arabischer und türkischer Herkunft.“
An der Stelle ist es üblich, die „soziale Frage“ ins Spiel zu bringen: Die sind im Knast, weil sie „diskriminiert“ wurden, keine Chance hatten etc. Den Dreh wollte Gehrings Mitstreiterin Khola Maryam Hübsch versuchen, wobei sie sich allerdings entsetzlich verhedderte. Die muslimische Buchautorin mahnte an, man müsse bei den Grapschern von Köln ja auch den Faktor einrechnen, dass diese nicht so reich seien wie der deutsche Durchschnitt, Stichwort: Benachteiligung“.
Doch was will sie uns damit unterjubeln? Etwa, dass arme Menschen grundsätzlich stärker zu moralischer Verwerflichkeit neigten als Leute mit dickerem Konto? In besseren Tagen wäre ihr dafür jeder aufrechte Linke umgehend an die Gurgel gegangen wegen Verächtlichmachung der unteren Schichten oder „Klassenkampf von oben“. Beim „Heißen Stuhl“ protestierten zumindest die Zuschauer im Studio lautstark. Die beiden weiteren Sarrazin-Ankläger, die Moderatorin Annabelle Mandeng und Arnold Plickert von der Gewerkschaft der Polizei, belustigten das  Publikum derweil mit atemberaubenden Neuigkeiten. Mandeng warf ein: „Auch deutsche Jugendliche könnten sich so verhalten wie die jungen Männer in der Silvesternacht.“ Nein, wirklich? Stimmt, so wie auch Frau Mandeng jedes Verbrechen begehen „könnte“, zu dem sie physisch und psychisch imstande wäre.

Das unwichtige Detail: Sie hat es aber nicht getan, sowie die Polizei angesichts von Köln von einem Verbrechen sprach, das in der deutschen Kriminalgeschichte bis dahin noch nie vorgekommen sei.
Mit anderen Worten: Die Moderatorin operiert sozusagen „präfaktisch“. Sie argumentiert mit „Tatsachen“, bevor diese überhaupt eingetreten sind.
Der Polizeigewerkschafter machte es auf die langweiligste aller Touren. Er stellte etwas richtig, das Sarrazin nie behauptet hatte, nämlich: „Die allerwenigsten Flüchtlinge sind kriminell.“ Oh! Mein! Gott!


Moral von der Geschicht’: Lasst die Finger von der Verdammungsvokabel „postfaktisch“; die ist zum Erlegen von Andersdenkenden so empfehlenswert wie eine rostige alte Muskete − sie kann euch jederzeit nach hinten losgehen. Das gilt insbesondere für diejenigen, die diese neue Waffe selbst ins Feld geführt haben, die Verteidiger der „Politischen Korrektheit“. Denn gerade jene „Korrektheit“ fußt ja darauf, mit Fakten „sensibel“ umzugehen. Sprich, Tatsachen entweder zu vernebeln: „Ach, wissen Sie, das ist alles wahnsinnig komplex.“ Oder, falls sie sich dafür als zu sperrig erweisen, die Fakten ganz unter den Tisch fallen zu lassen.

Das allein reicht aber nicht. Wir müssen zudem sicherstellen, dass auch die gewöhnlichen Menschen an den gefürchteten Stammtischen nicht mehr über kritische Fakten sprechen. Wie sollen wir das anstellen? Da hat der NDR eine glänzende Idee: Wenn man bestimmte Wörter aus dem Sprachgebrauch verbannt, dann verschwindet bald auch die Wahrnehmung der Sache, die sie benennen, so die einfache Gleichung des Staatssenders. Devise: Aus dem Wortschatz, aus dem Sinn.
Die NDR-Autorin mokiert sich über „rechte Sprache in den Medien“, der sie sich entgegenstellt, indem sie eine Reihe von Wörtern die nicht mehr benutzt werden sollten, auf die schwarze Liste setzt − wie etwa „Flüchtlingswelle“ oder „Flüchtlingsstrom“. Das beispielsweise seien „entmenschlichende Wassermetaphern“. Ach! Gilt das auch für die sommerlichen „Touristenströme“ oder wiederkehrenden „Modewellen“? Werden die Reisenden durch die Metapher „entmenschlicht“? Erscheint uns die Frühjahrskollektion bedrohlich, weil sie auf einer „Welle“ daherkommt? Keine solchen Fragen bitte!

„Obergrenze“ sollen wir ebenfalls nicht mehr sagen, denn dies sei ein „Begriff, der eine Nation als Gefäß mit begrenztem Raum darstellt“, so der NDR. Die deutsche Nation ist demnach strikt als „Gefäß mit unbegrenztem Raum“ darzustellen. Davon träumte in Berlin mal ein Österreicher, oder? Hier wird verständlich, warum im Ausland so viele Leute die deutsche Asyl- und Zuwanderungspolitik für größenwahnsinnig halten.
Aber lassen wir den Kollegen vom Funk diesen kleinen Fehltritt mal durchgehen. Immerhin lassen sie in dem Beitrag eine Sprach- und Kognitionsforscherin namens Elisabeth Wehling zu Wort kommen, die uns erklärt, worum es wirklich geht: Mit jedem Wort würden im Gehirn „bestimmte Deutungsrahmen aktiviert, und diese Deutungsrahmen sagen ihnen dann, wie eine Sache ist“.
Da haben wir’s endlich: Es kommt gar nicht darauf an, „was“ eine Sache ist (Fakten), sondern „wie“ wir sie zu sehen haben, auf die korrekte Weltanschauung also. Und da haben die Hüter der Sprache eine ganz wichtige Funktion, die schon George Orwell in seinem Roman „1984“ beschreibt. Dort arbeitet ein ganzes Ministerium daran, die Sprache immerfort so umzufrickeln, dass sie in den „Deutungsrahmen“ der Regierungspropaganda passt.   Hans Heckel


Siehe auch den Kommentar von Josef Bordat...

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