Mit der Wahl der Vokabel „postfaktisch“ zum „Wort des Jahres 2016“ hat
die reichlich abgewetzte Kampfparole „populistisch“ einen Bruder
erhalten. Ob sich der Begriff ebenso gut als Wieselwort zur Herabsetzung
jedweder Opposition qualifiziert wie „populistisch“?
Da haben wir
unsere Zweifel, mehr noch: Wir müssen vor dem Gebrauch von
„postfaktisch“ sogar ausdrücklich warnen!
Das Wort weist gegen
„populistisch“ nämlich einen äußerst gefährlichen Nachteil auf.
„Populist“ hat es ja gerade deshalb soweit geschafft, weil man den
Begriff kaum fassen kann. Niemand vermag gültig zu erläutern, was es
eigentlich bedeuten soll. „Populist“ ist so dehnbar wie einst der
Bannspruch „Faschist“, mit dem Stalinisten alle, die ihnen nicht in den
Kram passten, zum KZ verurteilten − von den Sozialdemokraten
(„Sozialfaschisten“) über die Liberalen („Hinter dem Faschismus steht
das Kapital“) bis zu den Christdemokraten („Klerikalfaschisten“). Mit dem
Vorwurf, ein „Populist“ zu sein, kann man also jeden beliebigen
Andersdenkenden zur Strecke bringen, ohne irgendetwas Greifbares gegen
ihn in der Hand haben zu müssen. Vorausgesetzt, man hält die überlegene
Medienmacht in Händen.
Mit „postfaktisch“ ist das bedauerlicherweise
nicht so einfach. Dessen Bedeutung ist recht klar umrissen als die
Haltung eines Menschen, der seine Meinung aus dem hohlen Bauch
hinausposaunt, ohne sich um die Tatsachen zu scheren.
Folge: Während
man mit dem „Populismus“-Wort nach Belieben um sich schleudern darf,
kann einem „postfaktisch“ schmerzhaft um die Ohren fliegen. So geschehen
dem Grünen-Bundestagsabgeordneten Kai Gehring in der wiederbelebten
RTL-Sendung „Der Heiße Stuhl“. Dort versuchte er es gleich mit der
doppelten Packung und bepöbelte Thilo Sarrazin als „postfaktischen
Populisten“. Er hoffte vermutlich, mit diesem Doppelhammer den Verfemten
mit links zur Strecke zu bringen, doch das ging fürchterlich in die
Hose.
Wer sich auch nur oberflächlich mit Sarrazins Texten
beschäftigt hat, der weiß: Dieser Mann ist geradezu vernarrt in Zahlen,
in messbare Daten. Sie sind seine Welt. Diesem Mann Faktenverachtung
vorzuwerfen ist so glaubwürdig, wie Mutter Theresa mangelnde
Glaubensstärke anzulasten oder einem Otto von Bismarck zu unterstellen,
er habe nichts von Diplomatie verstanden − einfach lächerlich. Klügere
Gegner des Herrn Sarrazin verlegen sich daher lieber darauf, dem
Gescholtenen fiese Absichten unterzujubeln, zu deren Zweck er seine
Fakten „missbraucht“.
Nicht so Gehring, der wollte dieses neue
Modewort einfach auch mal raushauen und flog auf die Nase. Sarrazin
konnte sich bequem zurücklehnen und seine insgesamt vier Ankläger vor
dem „Heißen Stuhl“ mit hässlichen Fakten niedermähen. Zitat: „Als ich in
Berlin Senator war, waren 80 Prozent der männlichen Insassen in
Jugendknästen arabischer und türkischer Herkunft.“
An der Stelle ist
es üblich, die „soziale Frage“ ins Spiel zu bringen: Die sind im Knast,
weil sie „diskriminiert“ wurden, keine Chance hatten etc. Den Dreh
wollte Gehrings Mitstreiterin Khola Maryam Hübsch versuchen, wobei sie
sich allerdings entsetzlich verhedderte. Die muslimische Buchautorin
mahnte an, man müsse bei den Grapschern von Köln ja auch den Faktor
einrechnen, dass diese nicht so reich seien wie der deutsche
Durchschnitt, Stichwort: „Benachteiligung“.
Doch was will sie uns
damit unterjubeln? Etwa, dass arme Menschen grundsätzlich stärker zu
moralischer Verwerflichkeit neigten als Leute mit dickerem Konto? In
besseren Tagen wäre ihr dafür jeder aufrechte Linke umgehend an die
Gurgel gegangen wegen Verächtlichmachung der unteren Schichten oder
„Klassenkampf von oben“. Beim „Heißen Stuhl“ protestierten zumindest die
Zuschauer im Studio lautstark. Die beiden weiteren Sarrazin-Ankläger,
die Moderatorin Annabelle Mandeng und Arnold Plickert von der
Gewerkschaft der Polizei, belustigten das Publikum derweil
mit atemberaubenden Neuigkeiten. Mandeng warf ein: „Auch deutsche
Jugendliche könnten sich so verhalten wie die jungen Männer in der
Silvesternacht.“ Nein, wirklich? Stimmt, so wie auch Frau Mandeng jedes
Verbrechen begehen „könnte“, zu dem sie physisch und psychisch imstande
wäre.
Das unwichtige Detail: Sie hat es aber nicht getan, sowie die
Polizei angesichts von Köln von einem Verbrechen sprach, das in der
deutschen Kriminalgeschichte bis dahin noch nie vorgekommen sei.
Mit
anderen Worten: Die Moderatorin operiert sozusagen „präfaktisch“. Sie
argumentiert mit „Tatsachen“, bevor diese überhaupt eingetreten sind.
Der
Polizeigewerkschafter machte es auf die langweiligste aller Touren. Er
stellte etwas richtig, das Sarrazin nie behauptet hatte, nämlich: „Die
allerwenigsten Flüchtlinge sind kriminell.“ Oh! Mein! Gott!
Moral von
der Geschicht’: Lasst die Finger von der Verdammungsvokabel
„postfaktisch“; die ist zum Erlegen von Andersdenkenden so
empfehlenswert wie eine rostige alte Muskete − sie kann euch jederzeit
nach hinten losgehen. Das gilt insbesondere für diejenigen, die diese
neue Waffe selbst ins Feld geführt haben, die Verteidiger der
„Politischen Korrektheit“. Denn gerade jene „Korrektheit“ fußt ja
darauf, mit Fakten „sensibel“ umzugehen. Sprich, Tatsachen entweder zu
vernebeln: „Ach, wissen Sie, das ist alles wahnsinnig komplex.“ Oder,
falls sie sich dafür als zu sperrig erweisen, die Fakten ganz unter den
Tisch fallen zu lassen.
Das
allein reicht aber nicht. Wir müssen zudem sicherstellen, dass auch die
gewöhnlichen Menschen an den gefürchteten Stammtischen nicht mehr über
kritische Fakten sprechen. Wie sollen wir das anstellen? Da hat der NDR
eine glänzende Idee: Wenn man bestimmte Wörter aus dem Sprachgebrauch
verbannt, dann verschwindet bald auch die Wahrnehmung der Sache, die sie
benennen, so die einfache Gleichung des Staatssenders. Devise: Aus dem
Wortschatz, aus dem Sinn.
Die NDR-Autorin mokiert sich über „rechte
Sprache in den Medien“, der sie sich entgegenstellt, indem sie eine
Reihe von Wörtern die nicht mehr benutzt werden sollten, auf die
schwarze Liste setzt − wie etwa „Flüchtlingswelle“ oder
„Flüchtlingsstrom“. Das beispielsweise seien „entmenschlichende
Wassermetaphern“. Ach! Gilt das auch für die sommerlichen
„Touristenströme“ oder wiederkehrenden „Modewellen“? Werden die
Reisenden durch die Metapher „entmenschlicht“? Erscheint uns die
Frühjahrskollektion bedrohlich, weil sie auf einer „Welle“ daherkommt?
Keine solchen Fragen bitte!
„Obergrenze“ sollen wir ebenfalls nicht
mehr sagen, denn dies sei ein „Begriff, der eine Nation als Gefäß mit
begrenztem Raum darstellt“, so der NDR. Die deutsche Nation ist demnach
strikt als „Gefäß mit unbegrenztem Raum“ darzustellen. Davon träumte in
Berlin mal ein Österreicher, oder? Hier wird verständlich, warum im
Ausland so viele Leute die deutsche Asyl- und Zuwanderungspolitik für
größenwahnsinnig halten.
Aber lassen wir den Kollegen vom Funk diesen
kleinen Fehltritt mal durchgehen. Immerhin lassen sie in dem Beitrag
eine Sprach- und Kognitionsforscherin namens Elisabeth Wehling zu Wort
kommen, die uns erklärt, worum es wirklich geht: Mit jedem Wort würden
im Gehirn „bestimmte Deutungsrahmen aktiviert, und diese Deutungsrahmen
sagen ihnen dann, wie eine Sache ist“.
Da haben wir’s endlich: Es
kommt gar nicht darauf an, „was“ eine Sache ist (Fakten), sondern „wie“
wir sie zu sehen haben, auf die korrekte Weltanschauung also. Und da
haben die Hüter der Sprache eine ganz wichtige Funktion, die schon
George Orwell in seinem Roman „1984“ beschreibt. Dort arbeitet ein
ganzes Ministerium daran, die Sprache immerfort so umzufrickeln, dass
sie in den „Deutungsrahmen“ der Regierungspropaganda passt. Hans Heckel
Siehe auch den Kommentar von Josef Bordat...
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