Stationen

Samstag, 31. Dezember 2016

Lüge und Abstraktion

Sie haben es auch gehört, dutzendfach, hundertfach, tausendfach: Auf keinen Fall dürfen wir jetzt „Angst“ bekommen. Sagen die führenden Politiker im Chor. Die haben ja auch keine. Oder doch? Na jedenfalls nicht vor dem islamischen Terror. Dafür flattern sie wegen einer ganz anderen Gefahr aufgescheucht herum. Sogenannte „Fake News“, also möglicherweise bewusst gestreute Falschmeldungen, sorgen für erhebliche Verunsicherung in der Spitze der Republik.

Beamte des Bundesinnenministeriums haben ein Memorandum verfasst, in dem sie donnern: „Die Akzeptanz eines postfaktischen Zeitalters käme einer politischen Kapitulation gleich.“
Was mit „postfaktisch“ gemeint ist, hatten wir neulich untersucht. Es handelt sich weniger um Falschmeldungen als um Nachrichten und Kommentare, die den Regierenden nicht in dem Kram passen.

Die finden sich außerhalb der PAZ vor allem im Internet, weil man über das Netz die Staats- und Konzernmedien umgehen kann, welche den Mächtigen enger zugetan sind denn je. Wie ernst die Lage ist, verrät die Sprache: „Kapitulation“! Das erinnert an Sein oder Nichtsein, an einen dramatischen Endkampf − und zwar nicht irgendwann, sondern unmittelbar bevorstehend.
Das bei Merkels Kanzleramt angesiedelte Bundespresseamt soll laut dem Memorandum die Führung beim Feldzug gegen ungelegene Veröffentlichungen ergreifen. Da sitzen immerhin stolze 500 Mitarbeiter, fast schon ein kleines Propagandaministerium, das nun ein „Abwehrzentrum“ gegen „Fake News“ bilden möge. Man dürfe keine Zeit verlieren: „Mit Blick auf die Bundestagswahl sollte sehr schnell gehandelt werden“, schreiben Minister de Maizières Beamte sichtlich alarmiert.

Moment mal! Sind Beamte nicht Staatsdiener, lebenslange Angestellte des ganzen Volkes, die unparteiisch allen zu dienen haben und sich niemals zum Werkzeug im parteipolitischen Wettkampf machen dürfen? „Mit Blick auf die Bundestagswahl“? Gilt nicht ein striktes Neutralitätsgebot für Staatsdiener?

Tja, so war das zumindest mal. Muss irgendwo verloren gegangen sein. Wahrscheinlich an der historischen Wegscheide, an der sich die etablierten Parteien entschlossen haben, neue politische Konkurrenten nicht mehr als neue politische Konkurrenten im freien, demokratischen Wettkampf um Wählerstimmen wahrzunehmen, sondern als das Böse in Parteiengestalt. Gegen das Böse müssen selbst „neutrale“ Beamte Farbe bekennen.
Wie richtige Meldungen aussehen, haben wir neulich auf NTV sehen können. Da war von Leuten die Rede, welche den Terror von Berlin missbrauchten. Auf der Straße hätten sie „alte Reichs­flaggen“ geschwenkt. Damit sollte den Zuschauern wohl klargemacht werden, dass das Rechtsradikale waren. Wie auf den Bildern zu sehen, handelte es sich um  Schwarz-Rot-Gold in der Kreuzform skandinavischer Flaggen. Diese Fahne ist einst entworfen worden von Josef Wirmer, einem Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944. „Alte Reichsflagge“? Ist das „Fake News“ oder „Qualitätsjournalismus“? Urteilen Sie selbst.
Auf der anderen Seite präsentierte uns der Sender Gegendemonstranten gegen den Aufmarsch der „alten Reichsflaggen“. Dort hätten Menschen für Versöhnung demonstriert und „gegen Hass“. Über diesen vorbildlichen Bürgern flatterte das Banner der „Antifa“, deren vollkommen hassfreie Versöhnlichkeit gegenüber Andersdenkenden allbekannt ist.

Aber kehren wir von so viel lichter Wahrhaftigkeit in der Berichterstattung noch einmal kurz zurück zum düsteren Problem der „Fake News“. Das ist so bedrohlich, dass selbst der oberste Europäer, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nämlich, ein „konsequentes Vorgehen gegen Falschmeldungen im Internet“ fordert.
Da können Sie sehen, wie groß die Bedrohung sein muss. Selbst ein Mann, der einst meinte: „Wenn es ernst wird, muss man eben lügen“, wirft sich in die Schlacht für mehr Ehrlichkeit. Listig versucht er dabei, die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Twitter dazu zu animieren, den Herrschenden beim Herauszensieren missliebiger Texte behilflich zu sein: Glaubwürdigkeit sei das „wichtigste Kapital“ jener weltumspannenden Netzwerke.

Leicht gesagt, um seine eigene Glaubwürdigkeit muss sich der Luxemburger schließlich keine Sorgen mehr machen − weg ist weg.
Wir sollten bedenken, dass der Vorschlag mit dem „Abwehrzentrum“ schon vor dem Terrorakt von Berlin formuliert worden war. Wie aufgeheizt muss sich die Stimmung im Innenministerium jetzt ausnehmen? Dass Anis Amri erst in Italien und dort auch nur per Zufall gestellt werden konnte, hinterlässt einen durchwachsenen Eindruck.

Das Innenministerium wäre die zuständige Instanz, die uns mal erklären müsste, wie er bis dorthin entwischen konnte. Und wieso ein längst vor der Tat derart auffälliger Gefährder wie Amri nicht wenigstens gründlich beschattet worden war, was die Tat höchstwahrscheinlich hätte verhindern können.
Ach, es gäbe, so de Maizière, ja nicht einmal die juristische Handhabe, um jeden der mehr als 500 Gefährder in Deutschland rund um die Uhr überwachen zu lassen. Und wieso nicht? Die Antwort lässt der Minister lieber aus, weshalb wir sie selber nachliefern: Weil die Politiker des Bundestages die Gesetze so gemacht, die Masseneinwanderung zugelassen und die Sicherheitsstrukturen des Landes so aufgestellt haben, dass das nicht geht.
Koalitionsfreund Ralf Stegner besteht indessen darauf, die Debatte um Flüchtlinge von Sicherheitsbelangen zu trennen. Erstens habe es ja auch deutschen Terrorismus gegeben und zweitens hätten die Flüchtlinge mit Terrorismus genauso wenig zu tun wie Deutsche, sagte er laut „Tagesspiegel“.

Da haben wir’s wieder: Im Grunde ist gar nichts passiert! Jedenfalls nichts, was nicht auch Deutsche hätten tun können. Außerdem ist es viel wahrscheinlicher, beim Essen zu ersticken als einem Terrorakt zum Opfer zu fallen, wie uns die ARD schon im Sommer mitgeteilt hat.
Man möchte in die Herzen der Leute gucken, die dermaßen verharmlosen. Erinnern Sie sich an die maximale Empörung nach (wirklichen oder vermeintlichen) rassistischen Übergriffen gegen Nichtdeutsche? An die massiven Gefühlswallungen und die empörte Verachtungswelle, die den mutmaßlichen Tätern entgegenschlugen und allen, die man weltanschaulicher Nähe zu ihnen bezichtigen mochte?
Heute dagegen wird uns geradezu verordnet, in trüber, stoischer Stille über die Verbrechen hinwegzugehen.

Ein „Spiegel online“-Autor bekennt, ihn lasse das Geschehen seltsam kalt. Obwohl in Berlin zuhause, bleibe ihm der Horror abstrakt, als sei er in einem fernen Land geschehen.
Woher kommt die Kälte? Mit welch ausgeprägtem Mitleid wird über das Leid der Menschen in Syrien, Irak oder Afrika berichtet. Und man stelle sich vor, zwölf Asylsucher wären beim Anschlag eines Deutschen umgekommen.
Hätten wir bei „Spiegel online“ dann auch lesen können, wie kalt einen das lasse?

Vielleicht liegt die Ursache ja hier: Jahrzehntelang haben wir eingeübt, Deutsche nur sehr eingeschränkt als Opfer ausländischer Gräuel wahrzunehmen. Wenn überhaupt, geschah dies stets mit dem einschränkenden Hinweis, „die“ Deutschen hätten ja auch ... oder „die“ Deutschen hätten schließlich angefangen. So wurde zahllosen Deutschen möglicherweise ihre Fähigkeit zum Mitgefühl mit den eigenen Landsleuten ganz langsam, aber gründlich abtrainiert, ohne dass sie es gemerkt haben.
Selbst wenn in Berlin auch Ausländer ermordet wurden − Ziel waren Deutschland und die Deutschen. Da blicken viele der „Trainierten“ nun betreten in ein kaltes Loch, wo im Falle von nichtdeutschen Opfern ihre „Wut und Trauer“ aufgelodert wären.  Hans Heckel

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