Wir leben in postfaktischen Zeiten“, verkündete im September die
Bundeskanzlerin vor der Bundespressekonferenz. Sie muß es ja wissen.
Postfaktisch soll nach gängiger Lesart bedeuten, daß Gefühlen und
Spekulationen mehr geglaubt wird als Tatsachen. „Postfaktische Politik
ist ein politisches Denken und Handeln, bei dem Fakten nicht im
Mittelpunkt stehen. Die Wahrheit einer Aussage tritt hinter den Effekt
der Aussage auf die eigene Klientel zurück“, definiert Wikipedia. Da kann sich die Kanzlerin gleich selbst zum Kronzeugen nehmen.
Ihr
„Wir schaffen das“ ist nach dieser Definition ein Paradebeispiel für
„postfaktische“ Politik: Emotionsgeladen und von Fakten und rationaler
Analyse ungetrübt, und der begeisternde Effekt auf die anvisierte
Klientel (nein, nicht die doofen Wähler, sondern die grünlinke
Meinungsmacherkaste) war ja auch durchschlagend.
Aber nicht nur die Kanzlerin kennt sich mit „postfaktischer Politik“
aus. Heiko Maas, der Bundesjustizministerdarsteller, ist ein gelehriger
Schüler, wenn er mit der Ernsthaftigkeit einer Büroklammer Sätze wie
diesen verkündet: „Es gibt keine einzige nachweisbare Verbindung
zwischen dem Terrorismus und den Flüchtlingen.“
Daß die Sicherheitsbehörden inzwischen schon reihenweise
Terrorverdächtige verhaftet haben, die in Asylunterkünften gemeldet
waren, daß gleich mehrere der Attentäter von Paris und Brüssel als
Asyl-Immigranten nach Europa gekommen waren, muß in diesem Zusammenhang
nicht interessieren. Das gute Gefühl und die korrekte Gesinnung zählen.
Erst recht bei postfaktischen Politikern wie Grünen-Fraktionschefin
Katrin Göring-Eckardt: „Die Einwanderer bezahlen die Rente derjenigen,
die in Dresden auf die Straße gehen.“ Die Vorlage dafür könnte vom postfaktischen Ökonomen Marcel Fratzscher stammen („Viele der Geflüchteten werden die Renten der Babyboomer zahlen.“)
Oder auch vom postfaktischen Konzernlenker Dieter Zetsche, der vor einem Jahr ein Flüchtlings-Wirtschaftswunder
herbeiphantasierte: „Genau solche Menschen suchen wir bei Mercedes und
überall in unserem Land.“ Wie viele „Geflüchtete“ haben die Dax-Konzerne
gleich wieder eingestellt? 54? Und Daimler?
Politiker, die sich nicht um Fakten scheren, findet man an jeder
Ecke. Wolfgang Schäuble gehört auch dazu, der jede neue
Milliardenspritze für das bankrotte Griechenland ungerührt mit dem
„guten Weg“ und den „erheblichen Fortschritten“ rechtfertigt, die das
Land doch mache. Eine lustige Auswahl findet sich hier.
Aber für solche Kritik wurde der Begriff natürlich nicht erfunden.
Wenn derzeit inflationär von „postfaktisch“ geschwätzt wird – seit
neuestem mit dem Segen des Oxford English Dictionary und der brav
hinterherdackelnden Gesellschaft für deutsche Sprache, die das
Schlagwort prompt zum „Wort des Jahres“ ernannt hat –, dann vor allem
deshalb, um als „rechtspopulistisch“ geschmähte
Anti-Establishment-Kräfte – Trump-Fans in den USA, AfD, Pegida und
andere hierzulande – in die Doofen-Ecke zu stellen.
Die machen Bauchpolitik, wir vom Establishment sind die Durchblicker,
soll das Gerede von „postfaktisch“ suggerieren. Die fallen auf jede
Falschmeldung („fake news“) rein, wir haben die Vernunft, die Wahrheit
und die Fakten gepachtet.
Wer bei „fake news“ also an den etablierten Medien-Chor denkt, der
wie auf Kommando illegale Einwandererscharen pauschal zu
kriegstraumatisierten „Flüchtlingen“ umlügt, sich mit allen Kameras auf
ein paar versprengte Asylbewerber-Familien stürzt, obwohl vor allem
junge, kerngesunde Männer ins Land strömen, und von Asyl-Lobbyisten mit
mehr Photographen als „Flüchtlingen“ dreist inszenierte „humanitäre
Katastrophen“ wie den angeblichen Grenz-Sturm im griechischen Idomeni reflexartig weiterverbreitet, liegt grundfalsch.
Derart dreiste Manipulationen meint auch die CDU nicht, wenn sie seit
neuestem dafür eintritt, die Verbreitung von „fake news“ unter Strafe
zu stellen. Die Meinungsmacher von ARD, ZDF und Stromlinienmedien haben
da nichts zu fürchten: „Fake news“ werden nämlich nur dort gesucht, wo
die etablierte Sicht der Dinge in Frage gestellt wird. Die aktuellen
Kampagnen gegen „postfaktische Politik“ und „fake news“, die vorgeblich
die Bürger, denen man das eigene Denken nicht zutraut, vor bösen
Verführern schützen sollen, sind deshalb nichts anderes als ein
raffiniertes Hintertürchen für Zensur und Gesinnungskontrolle mit neuem
Etikett.
Und da so mancher, der sich heute gern zum Meinungswächter aufschwingen möchte, tendenziell noch dümmer ist als die „deutschen Censoren“ zu Heines und Metternichs Zeiten, könnte es in nicht allzu ferner Zukunft sogar schwer werden, wenigstens noch Witze über die Mächtigen zu reißen, ohne dafür gleich gemeldet zu werden. Willkommen im postfreiheitlichen und prätotalitären Zeitalter! Michael Paulwitz
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