Stationen

Donnerstag, 7. Dezember 2017

Unbedrohliche Vielfalt

Eichendorff-Stimmung liegt über Danzig:
„Dunkle Giebel, hohe Fenster, Türme tief aus Nebeln sehn, bleiche Statuen wie Gespenster lautlos an den Türen stehn“.
1842 verliebt sich der Freiherr aus dem schlesischen Lubowitz in die großbürgerliche Recht-Stadt (Główne Miasto) der Hansemetropole, wo mit dem Mariendom (Bazylika Mariacka) die wuchtigste Hallenkirche in schlichter Backsteinpracht gen Himmel strebt.

Gebaut und renoviert wird wie schon Jahrzehnte nicht mehr, selbst in Vorstadt (Stare Przedmiescie) und Altstadt (Stare Miasto), wo vom Überkommenen vor allem die reparierten mittelalterlichen Kirchen und Mühlen sowie neoromanische Kasernen den Blick fassen. Schweden und Franzosen, Niederländer und Israelis gehören zu den Investoren. Stückweise lässt sich allmählich vergessen, was auf Stalins Wunsch Anfang 1945 einem vorzeitigen Hiroshima ähnlich gemacht wird.
Sogar die Einöde Richtung Langgarter Tor (Brama Żuławska) – früher barock geschmückt – erhält frische Wohnquartiere. In Langfuhr (Wrzeszcz) hat die wieder wachsende jüdische Gemeinde seit 2001 ihre Liegenschaften und das Gebetshaus zurück. Bevor die Deutsch-Danziger die für das alte Panorama so prägende Große Synagoge im Frühjahr 1939 zerstören, umhüllen sie den Bau mit einem Spruchband: „Komm lieber Mai und mache von Juden uns jetzt frei“. Der Schweizer Völkerbund-Kommissar Carl Jabob Burckhardt kann den meisten von ihnen noch die Ausreise ermöglichen. Ihre Kostbarkeiten werden zum Kernbestand des Jewish Museum an New Yorks Fifth Avenue.
In Geborgenheit, bei Schnee und Lampenschein, sogar wie durch Märchenzauber schlendert man heute durchs Milchkannen-Tor (Brama Stągiewna) Richtung Lange Brücke (Długie Pobrzeże) oder schaut zu ihr herüber von den neuen Wasserstegen der Speicherinsel (Wyspa Spichrzów) – Relikt des einst größten Getreidehafens der Welt. Ein ganz klein wenig – und das ohne nasse Füße ­– misst man sich an Venedigs Canale Grande.
Nie schwindet die Vorfreude auf den Bummel längs der acht Tore zur Mottlau (Motława) hin. Gotisches Ziegelrot schmückt alle. Das grüne (Brama Zielona) ist in Wahrheit jedoch ein Renaissance-Schlösschen, das man im 16. Jahrhundert den polnischen Königen als Residenz errichtet. Es führt auf den Langen Markt (Długi Targ), wo der Weihnachtsbaum vor dem Artus-Hof (Dwór Artusa) nicht nur so genannt werden darf, sondern auch ohne Rammschutz bewundert werden kann.

Die Vielfalt wächst und bleibt doch unbedrohlich

Außer im 17. Jh. mit Maria Gonzaga, Prinzessin von Mantua und Gemahlin von Władysław IV., haben bis 1795 die polnischen Regenten ihr Quartier allerdings links liegen gelassen. Bis dahin zahlen die Danziger zwar nicht gerne, aber doch lieber an die Höfe in Krakau und danach Warschau, als an die feudalen Landsleute von der Marienburg (Malbork) oder aus Potsdam.
Skandinavische Idiome, Deutsch aller Dialekte, die Sprachen des Mittelmeers und die ostslawischen Stimmen von Russen aus Königsberg (Kaliningrad), Chagall-stolzen Weißrussen aus Witebsk, vor allem jedoch von 40.000 Ukraine-Migranten – mit griechisch-katholischem Kultus in St. Bartholomäus – liefern eine immerwährende Begleitmelodie. Aus Trondheim über Aberdeen, Hamburg, Barcelona, Mailand, Kiew bis nach Tel Aviv sowie fast fünfzig weiteren Städten gibt es Direktverbindungen zum Walesa-Flughafen in der nahe gelegenen kaschubischen Schweiz.
Die Vielfalt wächst und bleibt doch unbedrohlich. Den Westeuropa treffenden Terror gibt es nicht. Auch die Angst vor Übergriffen ist kein täglicher Begleiter. Doch steigt aus Brüssel und dem deutschen Kanzleramt der Druck, sich für die tödlichen Potenziale endlich zu öffnen. Ein Gebot der Solidarität sei das. Die Polen merken allerdings, dass solche Forderungen nicht gekommen wären, wenn 2015 eine Million Nobelpreisverdächtige über Deutschlands Grenzen gestürmt wären. Die hätte man so stillschweigend eingesackt, wie die vielen tausend polnischen, ungarischen oder bulgarischen Fachkräfte, die jährlich in deutschen Firmen für Gewinne sorgen. Auch hat man aus Berlins Führung noch nie Aufforderungen an junge Ingenieure aus Krakau, Plovdiv oder Szegedin vernommen, doch bitte daheim für wirtschaftlichen Aufschwung zu sorgen, damit dort niemand mehr weggehe.
Solche Phrasen reserviert man für Afrika und Vorderasien, weil die von dort Geholten sich nicht als Siege im ewigen war for foreign talent verkaufen lassen. Mit der Predigt über eine osteuropäische Bringschuld will man die Unprofitablen lediglich anderen aufhalsen. Das Trapsen dieser Nachtigall klingt wie Panzerketten in hiesigen Ohren. Man versteht die bundesdeutschen Sorgen aber auch sportlich. Sie hat 2015 (TIMSS) unter tausend Zehnjährigen gerade noch 53 Hochbegabte, während es in Polen immerhin hundert sind. Wer so abrutscht, muss halt nicht nur Könner anlocken, sondern die anderen zugleich irgendwie loswerden.

Man reagiert hier empfindlich auf Abschätzigkeit

Danzig als Geburtsort der Solidarnosc-Gewerkschaft reagiert empfindlich, wenn man an deren hehre und schwere Zeit erinnert, die sich jetzt von neuem zu beweisen habe. Als Kommunisten 1981 das Kriegsrecht gegen die Arbeiter Polens verhängen, gibt es aus der DDR Begeisterung und aus Bonn unverstellte Erleichterung. Solche Abschätzigkeit setzt sich heute fort, wenn die Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość [PiS]) unter Dauerfeuer gestellt wird, obwohl gerade ihre Fraktion frei ist von ehemaligen Diktaturteilhabern. Bei solcher Einseitigkeit wird auch berechtigte Kritik wirkungslos verpuffen.
Gewiss denken PiS und ihre Anhänger anders als konservative Parteien im Westen. Die Liebe zum Land wird nicht als reaktionär empfunden. Diejenigen, die 1939 Europa als Erste gegen die deutschen Genozid-Armeen verteidigen, sehen nicht ein, dass ihr Nationalgefühl auf dieselbe Weise beschämend sei wie das deutsche. Hitlers Plan vom 22. August 1939 für den östlichen Nachbarn lautet in der Wiedergabe des Abwehrchefs Canaris: „Vernichtung Polens im Vordergrund, Ziel ist Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie.“ Zuerst erschießt man, am 5. Oktober 1939, Angestellte des polnischen Postamts an Danzigs Hevelius-Platz. Wenn das die Schüler nicht nur hier, sondern auch in Deutschland lernten, wäre man bei der Verständigung womöglich schon weiter.
Dabei trifft schon zu, dass bei Manifestationen des polnischen Selbstbewusstseins immer wieder auch Rechtsradikale auf Abstand gehalten werden müssen. Doch wie sollte bei diesen Anstrengungen eine durch Merkel erzwungene Zuführung nahöstlicher Antisemiten helfen?
Wenn man als Westpreuße – der 100.000 Toten bei der Austreibung Danzigs nicht vergessend – sich über Berlins Machtlosigkeit in der Stadt heute regelrecht freut, mag das ungewohnt klingen. Doch – die Prognose sei gewagt – könnte ein Schutzraum östlich der Oder noch für manchen zur Zuflucht werden.   Gunnar Heinsohn

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.