Stationen

Samstag, 2. Dezember 2017

Reflexhafte Lüge

Das Hauptproblem der Medien liegt nicht in ihren Meldungen. Sondern in ihrer Unfähigkeit, sich zu korrigieren.

Eigentlich gilt es als gute Nachricht, wenn sich etwas Schlimmes – eine Straftat, eine Katastrophe – auf den zweiten Blick doch als milder erweist. Für Medien gilt das nicht unbedingt. Am Dienstag traf in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Altena der arbeitslose Maurer Werner S. an einem Imbißstand auf Andreas Hollstein, den Bürgermeister des Ortes. Was dann passierte beziehungsweise passiert sein sollte, wusste bald die ganze Republik: ein rechtsradikales Messerattentat, dass der CDU-Politiker nur knapp überlebte. „Bürgermeister von Altena bei Messerangriff schwer verletzt“, meldeten Welt, Sat1, ARD, Focus Online und etliche andere und berichteten auch unisono, Hollstein habe eine „15 Zentimeter lange Verletzung“ am Hals davongetragen. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet teilte schon kurz nach der Messeattacke mit, der Angriff habe ein politisches Motiv gehabt.
Das Ereignis besaß, wie es unter Medienleuten heißt, Fallhöhe: Bürgermeister Hollstein hatte nach der Grenzöffnung 2015 mehr Asylbewerber in seinem Ort aufgenommen, als er nach dem Verteilungsschlüssel musste. Dafür war er überregional bekannt geworden und hatte eine Auszeichnung erhalten. Eigentlich hätte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Ort in diesen Tagen besucht, wenn ihm nicht die Regierungsbildungsgespräche in Berlin dazwischengekommen wären. Und der Messermann hatte bei seinem Angriff tatsächlich etwas gerufen, was seine Wut über die Migrantenaufnahme ausdrückte. Ein Attentat also auf einen Politiker, der stellvertretend für Merkels Migrationspolitik steht. Fallhöhe, das hieß hier vor allem: es meldete sich Kanzlerin Angela Merkel über den Twitter-Account des Regierungssprechers, es meldeten sich der SPD-Chef Martin Schulz, der amtierende Justizminister Heiko Maas, und, siehe oben, Armin Laschet mit Kommentaren, die ihr Entsetzen ausdrückten. Merkel ließ mitteilen, sie sei erleichtert, dass Hollstein schon wieder bei seiner Familie sein könne.  Mehrere Organisationen riefen „nach dem entsetzlichen Attentat“ zur Bildung einer Lichterkette in Altena auf. Kaum ein Medium versäumte es, den Meldungstext mit einer Zusammenfassung des Messeranschlags auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker  2015  anzureichern. So, wie sie den Angriff auf Hollstein beschrieben, handelte es sich in Altena um ein ganz ähnliches Muster. Promt gab es auch eine medial transportierte Forderung nach Gesetzesverschärfung – nicht für allgemeine Messerattacken, davon fanden allein in Berlin 2016 insgesamt 2 600 statt, sondern für Politiker-Stalking.
Leser und Zuschauer besaßen also schon eine bestimmte Erwartung, als die ersten Bilder von Hollstein nach dem Angriff  über die Kanäle liefen und in Zeitungen auftauchten. Und die passten ganz offensichtlich nicht zu der Geschichte: der Mann trug ein Pflaster unter dem Ohr, dessen so genannte Wundauflage etwa fünf mal fünf Zentimeter groß war. Woher die Meldung über eine 15 Zentimeter große Wunde ursprünglich kam, lässt sich nicht ohne weiteres rekonstruieren. Jedenfalls stimmte sie nicht. In einem Interview mit der „Welt“ sagte Hollstein, er habe eine etwa vier Zentimeter große „oberflächliche Wunde“ davongetragen. Nun ist „oberflächliche Wunde“ ein seltsamer Ausdruck: als Wunde gilt eine tiefere Gewebsverletzung. Für das, was der Bürgermeister augenscheinlich abbekommen hatte, eignet sich also eher der Begriff „Kratzer“.
Dazu passt auch der von dem Politiker geschilderte Tatablauf:  Der Angreifer habe nicht zugestochen, sondern ihm ein Messer an den Hals gedrückt; der Inhaber des Imbißstandes sei dazwischen gegangen, ehe Schlimmeres habe passieren können. Auch von dem politischen Hintergrund blieb auf den zweiten Blick wenig bis nichts. Bei dem arbeitslosen Maurer handelt es sich um einen sozial etwas auffälligen 56jährigen, dessen Haus gerade zur Zwangsversteigerung freigegeben wurde. Die Stadtwerke hatten ihm das Wasser abgestellt, und da Bürgermeister Andreas Hollstein auch als Chef des Wasserwerks amtiert, stürzte sich der Mann offenbar im Affekt auf den Politiker. Laut Zeugen schrie er dabei: „Du Schwein lässt mich verdursten, und holst Flüchtlinge in die Stadt.“
Als „Attentat“ bezeichnet man üblicherweise einen geplanten Anschlag. Im Fall von Altena geht auch die Staatsanwaltschaft nicht davon aus, dass der Maurer über den Besuch des Bürgermeisters an dem Imbissstand Bescheid wusste und ihm gezielt auflauerte.
Eine bundesweite Korrektur der ursprünglichen Meldung hätte also von Tagesschau bis Wochenblatt so lauten müssen:
„Entgegen der ersten Meldung über einen Messerangriff auf den Bürgermeister von Altena trug der Politiker dabei nur eine leichte oberflächliche Verletzung davon. Im Gegensatz zu den ursprünglichen Berichten handelte der alkoholisierte Täter aus persönlichen Motiven. Nach dem Erkenntnisstand der Staatsanwaltschaft geschah die Tat auch nicht geplant, sondern spontan.“
Dabei geht es überhaupt nicht darum, den Gewaltakt kleinzureden. Natürlich ist es auch eine Straftat, einem anderen aus welchen Gründen auch immer ein Messer an den Hals zu drücken und ihn zu beleidigen. Und sicherlich spürt der Attackierte dabei Todesangst. Er kann ja nicht wissen, dass die Sache nach wenigen Sekunden glimpflich ausgeht. Aber Gewicht und Dringlichkeit des Ereignisses stellen sich eben im Licht der Fakten anders dar. Eigentlich.
Allerdings nicht für die meisten Medien, die es nun einmal zu einem  politischen Anschlag auf die Migrationspolitik schlechthin erklärt hatten. Sie änderten zwar die Meldung nach und nach, ohne von Korrektur zu sprechen, aus der schweren wurde irgendwann eine leichte Verletzung. Aber die Wichtigkeitsalarmstufe Rot blieb unverändert, was zu einer grotesken Medienlage führte. Die BILD beispielsweise druckte am 29. November – da hatte Hollstein schon selbst öffentlich gesagt, er habe nur eine oberflächliche kleine Verletzung abbekommen – ein Foto von ihm mit dem kleinen Pflaster unter dem Ohr, und dichtete dazu: „Ein dickes Pflaster am Hals von Bürgermeister Andreas Hollstein (54, CDU) verdeckt die 15 Zentimeter lange Schnittwunde.“ Die Riesenschlagzeile: „Maurer sticht Bürgermeister in den Hals“. Im Text selbst hieß es über den Täter: „Dann zückte der Mann ein 34 Zentimeter langes Messer und rammte es dem Politiker gegen den Hals.“ Dickes Pflaster, gegen den Hals mal gestochen, „gerammt“: Man spürt den Schweiß der Redakteure, ihre Geschichte um jeden Preis auf XXXL zu halten.
Die Behandlung der Altena-Story zeigt geradezu mustergültig: entgegen aller Beteuerungen verhalten sich die großen Medien in Deutschland als Kollektiv. Ist einmal der rote Alarm eingeschaltet – Kanzlerin-Tweet,  Meldung in der Tagesschau, eilig anberaumte Themensetzung bei Maischberger – dann traut sich kein einzelnes Medium, den roten Knopf wieder zu deaktivieren, obwohl ihre Mitarbeiter wissen, dass sich die Fakten längst anders darstellen.
In den großen Medien existieren spätestens seit 2015 zwei gegenläufige Vektoren: Zum einen der bewährte Immerschlimmerismus bei allen Berichten um Klimafragen, um Gift allerorten (Alarm! Glyphosat!), und natürlich, wenn es gegen Rechts geht, wobei demokratische Rechte, Rechtsradikale und Rechtsterroristen praktisch eine amorphe Einheit bilden.
Parallel läuft ein permanentes Beschwichtigungsprogramm: Die These des Kriminologen Christian Pfeiffer, Migranten seien gar nicht häufiger kriminell als Einheimische, sie würden nur häufiger angezeigt, wird gern genommen. Und die Nachfrage bleibt aus, woher Pfeiffer als Einziger in Deutschland die Zahl der nicht angezeigten Straftaten kennt, aufgeschlüsselt nach Deutschen und Nichtdeutschen.
Im Gegensatz zum Fall Altena entschieden sich die allermeisten Medien auch instinktiv, den linksradikalen Überfall auf den AfD-Landesvorsitzenden von Rheinland-Pfalz Uwe Junge nicht zu einem bundesweiten Thema zu machen. Das fiel vergleichsweise leicht, denn hier gab es auch kein entsprechendes Agendasetting, keinen Kanzlerinnen-Kommentar, keine entsprechende Talkshow. Und auch die Mahnung von Heiko Maas, solche Hetze im Netz führe zu solchen Taten, blieb hier selbstredend aus.
Nach den Massenübergriffen Silvester 2015 in Köln schafften es fast alle Medien sogar, beide Programme nur kurz zeitversetzt durchzuziehen: Beschwichtigung in Gestalt einer zweitägigen Sendepause, um dann sofort mit Warnungen vor Zusammenhangherstellung und Generalverdacht einzusetzen – und Hysterisierung durch die im ZDF von der Aufschrei-Aktivistin Anne Wizorek vorgebrachte dreiste Mär, es gebe auf dem Münchner Oktoberfest (weiße Männer! Bier! Bayern!) eine „offizielle Dunkelziffer“ von 200 Vergewaltigungen im Jahr.
Eine ziemlich naheliegende Lösung dieser ganz speziellen deutschen Medienkrise bestünde darin, sich zu korrigieren und künftig beides bleiben zu lassen, die eilfertige Baldrianisierung von Migrantenkriminalität, politischem Islam und linksextremer Gewalt genau so wie das beidhändige Drücken des Tatütata-Buttons, sobald es um irgendetwas mit Rechts oder Klima geht.
Das wäre einfach.
Aber lieber pädagogisieren sich die Medienschaffenden kaputt.  Alexander Wendt

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