Stationen

Mittwoch, 20. Dezember 2017

Irgendwann ist genug

Ein Familienunternehmer, ein Politiker und ein Wissenschaftler wollen reden. Mit Heinz Hermann Thiele, Peter Gauweiler und Hans-Werner Sinn haben sich drei gestandene Männer in der Zentrale des Familienunternehmens Knorr-Bremse in München zusammengesetzt, um mit dem Handelsblatt über ihre Erwartungen an eine künftige Regierung unter Angela Merkel zu sprechen. Sie fordern von der Kanzlerin nicht weniger als eine neue Schutzburg für die Bürger gegen die weltweiten Sturmfluten.
Deutschland hat derzeit nur eine geschäftsführende Regierung. Schadet oder nutzt das dem Land?
Sinn: Alles, was die stürmischen Euro-Sozialisierer bremst, ist gut. Ich befürchte, dass große Fehler der Vergangenheit wiederholt werden könnten. Unter Kanzlerin Angela Merkel ist eine Euro-Rettungsarchitektur gegen den Maastrichter Vertrag ohne erkennbare Debatten im Bundestag entstanden. Wenn ich mir die Vorschläge von SPD-Chef Martin Schulz zur Reform Europas anhöre, dann habe ich Angst vor neuen ungestümen Schritten.
Musste die Kanzlerin auf dem Höhepunkt der Euro-Krise nicht schnell Entscheidungen treffen, um Schlimmeres für Deutschland zu verhindern?
Thiele: Die Eile war nicht nötig. Die Bundeskanzlerin hat in den letzten Jahren sehr viele Schritte unternommen, die zu einer teilweisen Aushebelung der Demokratie geführt haben. Das Parlament spielte während der Euro-Rettung keine entscheidende Rolle. Die großen Mehrheiten in der Großen Koalition haben doch dazu geführt, dass kaum mehr eine Debatte über zentrale Themen stattgefunden hat. Abweichende Meinungen von Abgeordneten sind einfach übergangen worden. Das kann nicht sein. Ich wünsche mir von Frau Merkel, dass sie nicht nur die Mütterrente und den Mindestlohn im Bundestag behandelt, sondern auch Themen wie die Flüchtlingskrise oder die Euro-Rettung zur Diskussion stellt. Die Tatsache, dass das Parlament mit derartigen Grundsatzfragen nicht befasst wurde, ist ein Armutszeugnis für unsere Demokratie.
Das Parlament ist mit sieben Parteien vielfältiger als je zuvor. Die Große Koalition, so sie zustande kommt, wäre so klein wie nie. Die SPD hat ihre Wählerzahl im Vergleich zur Erstwahl von Gerhard Schröder 1998 halbiert. Ist die Demokratie wirklich in Gefahr?
Gauweiler: Die Demokratie wackelt. Die Umwälzungen, die uns in den letzten Jahren beschäftigt haben – wie die ungezügelte Zuwanderung, der Euro-Rettungskurs oder die umstrittenen Einsätze der Bundeswehr im Ausland –, haben den Bundestag immer nur am Rande beschäftigt. Manchmal durften bei den Bundeswehreinsätzen die Abgeordneten längst getroffene Entscheidungen noch notariell absegnen. Doch die Grundsatzfragen dieses Landes wurden und werden von der Regierung peinlich vermieden. Eine wirkliche Debatte über das Für und Wider gibt es nicht mehr. Das freie Mandat ist auf der Strecke geblieben.
Sinn: Nehmen Sie die Institution der Europäischen Zentralbank (EZB). Auf dem Höhepunkt der Euro-Krise hatten wir ein fiskalisches Rettungsvolumen für die sechs Krisenländer in Südeuropa plus Irland von 1 342 Milliarden Euro. Davon haben die Parlamente 13 Prozent verantwortet und der EZB-Rat 87 Prozent. In diesem technokratischen Gremium hat Deutschland eine Stimme, so wie Malta auch. Das sagt schon viel über den Stand der Demokratie in Europa.
Gilt das auch für die Nullzinspolitik der EZB?
Sinn: Die Nullzinspolitik der EZB bedeutet unter anderem, dass die Target-Schuldner im Euro-Raum für die von der Bundesbank bezogenen Kredite im Umfang von gut 850 Milliarden Euro keine Zinsen mehr zahlen. Die Target-Kredite sind quasi Überziehungskredite im Euro-Raum, die sich einige Notenbanken bei anderen, allen voran der Bundesbank, besorgen konnten.
Mehr als die Hälfte der Stimmen im EZB-Rat liegt bei Target-Schuldner-Ländern, und die fanden in ihrer Weisheit, dass der beste Zinssatz auf ihre Target-Schulden null sei. Die Bundesbank musste Kredite in Höhe der Hälfte des Nettoauslandsvermögens der Bundesrepublik vergeben, die sie nie fällig stellen kann und deren Zins von den Schuldnern selbst festgelegt wird. Eine private Unternehmung müsste solche Kreditforderungen mit null bzw. einem Erinnerungswert von einem Euro bilanzieren. Wo sind die Bundestagsdebatten, die sich diesem Missstand widmen?

Hat die Kanzlerin Ihrer Ansicht nach das Ergebnis der Bundestagswahl nicht verstanden, bei der Union und SPD zusammen 14 Prozentpunkte verloren haben und die AfD als drittstärkste Kraft mit 12,6 Prozent in den Bundestag eingezogen ist?
Thiele: Die Kanzlerin muss umdenken. Es geht doch nicht nur um ihren Machterhalt. Es geht um die Frage, welche Art von Regierung wir wollen. Ich plädiere für mehr Diskurs. Die Kanzlerin muss deshalb auch ihren präsidialen Regierungsstil ändern. Das mag ihr nicht gefallen, aber so geht es nicht weiter.
Was wäre Ihr Vorschlag, um die Regierungsfähigkeit des Landes sicherzustellen?
Thiele: Mein Vorschlag wäre eine Minderheitsregierung. Das zwingt die Kanzlerin, in der Öffentlichkeit und im Parlament die kritischen Themen transparent zu diskutieren. Es darf keine Beschlüsse mehr geben, die in Hinterzimmern spät nachts fallen. Das Parlament bringt bei einer Minderheitsregierung frischen Wind in die Debatten, die Kanzlerin muss sich Mehrheiten suchen. Die Zeiten der Großen Koalition, die wie eine Grabplatte alle wichtigen Probleme in Deutschland zudeckt, müssen beendet werden. Wir brauchen eine andere Struktur der Meinungsbildung.
 Wünschen Sie sich da nicht den idealen, den streitbaren und unabhängigen Abgeordneten, den es in der Realität kaum mehr gibt?
Gauweiler: Noch mal: Das freie Mandat, wie es das Grundgesetz postuliert, wird nicht mehr gelebt. Der weitaus größte Teil der Abgeordneten ist heute nicht mehr abhängig vom Volk, sondern von der Partei, die den Listenplatz festlegt. Für viele Abgeordnete ist die Politik ihr Brotberuf, was die Abhängigkeit noch verschlimmert. Wähler und Parlamentarier entfremden sich so immer mehr. Die Partei schickt auch die Wahlverlierer über die Liste in den Bundestag. Wenn der Abgeordnete seinen Job behalten will, muss er also anderen gegenüber buckeln als gegenüber der Bevölkerung. Der Slogan „Verlierer an die Macht“ stört keinen mehr, weil es alle Parteien so machen. Die Minderheitsregierung hätte also schon ihren Reiz, weil die Regierenden auf einmal wieder nach Mehrheiten suchen müssten und die Abgeordneten wieder ins Zentrum rücken würden.
Sinn: Das würde auch die Verhandlungsposition der Bundesregierung im Poker um Europa stärken. Es gibt dann keine Nachtsitzungen mehr, bei denen Frau Merkel um 4 Uhr morgens ein Ergebnis abnickt, das der Bevölkerung anschließend als alternativlos präsentiert wird. Frau Merkel weiß dann nämlich nicht mehr, ob sie dafür im Bundestag eine Mehrheit bekommt.
Hat das Parlament nicht allen Euro-Rettungsbeschlüssen zugestimmt?
Sinn: Nein. Die hauptsächlichen fiskalischen Rettungsoperationen hat die EZB mit Billigung der Kanzlerin getroffen, nicht aber mit Billigung des Parlaments. Der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat gesagt, es reicht nicht aus, eine Institution einmal demokratisch zu ermächtigen. Wichtige Entscheidungen müssen immer wieder vom Bundestag abgesegnet werden. Das Parlament braucht auch dafür die nötige Zeit. In der Regel sind die offenen Rettungsprogramme von der Regierung im Parlament durchgepeitscht worden, doch mit den versteckten Rettungsaktionen der EZB, die die Hauptsache ausmachen, hat sich der Bundestag niemals beschäftigt. Als der Bundestag dem gleichen Stimmrecht für alle Euro-Länder im EZB-Rat zustimmte, ging er davon aus, dass Geldpolitik gemacht wird. Das heißt: Es wird Geld gegen tadellose Sicherheiten verliehen. Was heute gemacht wird, ist das genaue Gegenteil. Unvorstellbare Summen werden durch EZB-Programme geschleust, mit denen dubiose Papiere mit schlechtem Rating gekauft werden, noch dazu haufenweise Staatspapiere. Das ist alles nicht im Vertrag von Maastricht vorgesehen, ja in Artikel 123 AEUV sogar explizit verboten.
Birgt nicht eine Minderheitsregierung die Gefahr für die Kanzlerin, dass sie nach einem Jahr politisch völlig zerschlissen ist durch den aufwendigen Abstimmungsprozess mit den im Bundestag vertretenen Fraktionen?
Sinn: Auch durch Fehlentscheidungen kann man sich zerschleißen. Die Politik des stillen Kämmerleins führte zu lauter Fehlentscheidungen.
Thiele: Ich fühle mich in diesem Land als überzeugter Demokrat nicht mehr ernst genommen. Wenn eine Große Koalition, wie es in der letzten Legislaturperiode der Fall war, über zwei Drittel der Parlamentssitze verfügt und in allen wichtigen Fragen mit der Unterstützung der Grünen rechnen kann, dann wird die grundgesetzlich vorgeschriebene Gewaltenteilung problematisch. In den 50er- und 60er-Jahren ist noch um den richtigen Kurs zwischen den Parteien gerungen worden. Da wurde verbal richtig gekämpft. Heute hat die Regierung das Parlament im Griff, nicht umgekehrt. Unter der Kanzlerin können wir die Entwicklung zu einer autokratischen Regierungsform beobachten. Das ist nicht die Demokratie, die wir brauchen.

Wäre dann nicht eine Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP die bessere Alternative gewesen? FDP-Chef Lindner wäre der Einzige gewesen, der einer Transfergemeinschaft Einhalt geboten und sich gegen die Europa-Pläne des französischen Präsidenten Macron gestellt hätte.
Gauweiler: Dafür verdient die FDP Respekt und Anerkennung. Die Jamaika-Gespräche sind unter anderem daran gescheitert, dass sich der FDP-Vorsitzende gegen die von der bisherigen Regierung hingenommene Kompetenzanmaßung der EZB und die Politik des Bail-out, also der Haftungsübernahme durch Dritte, wehren wollte. Die FDP hat das Wort gehalten, das die CSU in ihrem „Bayernplan“ gegeben hatte. Das sage ich, der bald 50 Jahre in der CSU ist, nicht leichten Herzens.
Aber was wäre die entscheidende Frage gewesen, die eine Bundesregierung hätte beantworten müssen?
Gauweiler: …ob sie alles unternehmen will, dass Draghi und die EZB mit ihrer Politikanmaßung, die das Bundesverfassungsgericht – weil am Parlament vorbei – für verfassungswidrig hält und deshalb dem EuGH vorgelegt hat, sofort aufhören. Hat die Bundesregierung eine Schutzfunktion gegen die Sturmfluten dieser Erde, oder veranstalten wir einen Wettbewerb im Wellenreiten? In Letzterem ist die neue Mutter Teresa eine Weltmeisterin. Was die Schutzfunktion angeht, sieht es bei ihr anders aus. Das Wort „Bürger“ kommt aus dem Mittelhochdeutschen. Es bedeutet, der oder die im Schutz der Burg Lebenden. Damals konnten sich nur der Adel, reiche Kaufleute oder der Klerus Bewaffnete leisten. Otto Normalverbraucher war der Willkür der Straße ausgesetzt. Nur der Schutz der Burg sicherte ihm die Freiheit. Diese Schutzfunktion muss unser Gemeinwesen wieder herstellen.
Und die neue Mutter Teresa heißt Angela Merkel und wohnt in Berlin?
Gauweiler: Unsere Kanzlerin ist eine Weltmeisterin im Wellenreiten, egal, woher die Welle kommt. Es gibt jetzt aber über 700 Abgeordnete im Bundestag, die mit dem Wellenreiten von Angela Merkel Schluss machen sollten und sich wieder schützend vor ihre Bürger stellen müssen. Jetzt muss es heißen: „Hallo Abgeordnete, ihr seid dran! Schützt eure Bürger, wenn sich die Regierung regelmäßig über die Verfassung hinwegsetzt.“ Gerade jetzt wieder, bei den gewaltigen Anleihekäufen durch die Zentralbanken.
Jetzt ersetzt der Merkel-Vertraute Peter Altmaier Wolfgang Schäuble. Hat die Geldwertstabilität ihre Fürsprecher verloren?
Gauweiler: Vielleicht wird all das jetzt offenkundig. Franz Josef Strauß hat mir einmal gesagt: „Manche Sachen müssen zu Ende faulen, um eine Fehlentwicklung sichtbar zu machen.“ Jetzt geht es darum, ob das Parlament auch künftig nur alles abnickt, was die Regierung vorher beschlossen hat.
Die Macht liegt doch nicht bei der Regierung, sondern bei den Parteien. Sind die nicht die Adressaten Ihres Appells für mehr Demokratie? Ist die Union in ihrem Innersten richtig verfasst?
Gauweiler: Da ist was dran. Die Parteien merken alle, dass ihnen der richtige politische Spin fehlt, dass sie immer mit den gleichen Leuten an den gleichen Themen vorbeisprechen. Da fehlt die Legitimation, wenn nur noch zehn bis 20 Personen alles allein entscheiden. Früher hieß es, die Große Koalition ist für große Aufgaben gemacht. Aber heute haben wir das Gefühl, dass alle für das Kleine geboren sind und das, was die Politik im Großen macht, zulasten der eigenen Bevölkerung geht.
Warum tun Union und SPD das? Sie haben doch bei der Wahl verloren, und nur die AfD und die FDP konnten zugewinnen?
Thiele: Die sogenannten Volksparteien haben sich um die Sorgen der Bürger nicht gekümmert. In diese Lücke ist die AfD gesprungen, die am rechten Rand radikale Elemente hat, von denen sie sich lösen sollte.
Ohne Zweifel!
Thiele: Aber sie können nicht Millionen von Wählern, die von der Union und von der SPD zur AfD gegangen sind, einfach ignorieren. Das sind nicht alles Antidemokraten. Ich bin kein AfD-Fan, aber die überfallartige Öffnung der Schleusen im Herbst 2015, die zur Flüchtlingskrise führte, war ein schwerer Fehler der Kanzlerin und hat den Erfolg der AfD erst ermöglicht. Das Grundgesetz schützt die Integrität des Territoriums, eine Regierung muss die Grenzen ihres Landes schützen. Diese Grundwahrheiten wurden von der Kanzlerin an einem einzigen Wochenende über den Haufen geworfen, ohne dass sie sich groß mit jemandem im Land selbst oder in Europa abgestimmt hat. Eine außerordentliche Kabinettssitzung und/oder eine Sondersitzung des Parlaments wäre das Mindeste gewesen, was die Kanzlerin hätte veranlassen müssen. Ich kann nicht akzeptieren, dass Frau Merkel mit ihren Entscheidungen Grundrechte außer Kraft setzt.
Allein 2017 sind wieder knapp 200 000 Flüchtlinge ins Land gekommen, auch weil die globalen Flüchtlingsströme nicht zur Ruhe gekommen sind. Macht die Kanzlerin so weiter, als wäre nichts gewesen?
Sinn: Deutschland hat vermutlich mehr Flüchtlinge aufgenommen als die gesamte westliche Welt zusammen. Das war nur scheinbar humanitär, denn die Politik der offenen Tür hat viele Leute in die Boote gelockt und dort umkommen lassen. Viel besser ist es, den Menschen vor Ort zu helfen. Die deutsche Politik widersprach der deutschen Verfassung. Wer aus einem sicheren Drittland einreist, kann sich gemäß Art. 16a Grundgesetz nicht auf das Asylrecht berufen. Das Asylgesetz ist ebenfalls eindeutig. Darin steht, dass jeder, der aus einem sicheren Drittland einreist, um Schutz zu verlangen, an der Grenze zurückzuweisen ist, weil ja der andere Staat die Hilfe gewährt. Sogar noch, wenn er hinter der Grenze aufgegriffen wird. Das Gesetz gewährt keinen Ermessensspielraum, und das Ausnahmerecht der Bundesregierung ist eng beschränkt.
Gauweiler: Wir sind in einen Zustand permanenter Rechtsverletzung geraten. Es wäre deshalb mit der überparteilichen Absprache viel gewonnen, bestehende Gesetze konsequent zu vollziehen. Das deutsche Asylrecht wurde im Grundgesetz so gestaltet, dass wir eine Zahl von anerkannten Asylanten haben, die problemlos integriert werden kann. Dafür braucht es auch keine Obergrenze. Das sind Zahlen im fünfstelligen Bereich, wenn überhaupt. Wenn jetzt aber – ohne asylberechtigt zu sein – jedes Jahr weitere 200 000 Menschen neu aufgenommen werden sollen, muss jedes Jahr eine Stadt der Größe Würzburgs gebaut werden, wenn man nicht Slums will. Mit Wohnungen, Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und allem, was eine solche Stadt braucht. Wer das kann, soll das sagen. Wir haben 2017 in Deutschland schon wieder mehr Asylantragsteller neu registriert als die anderen 27 EU-Länder zusammen. Das geht nicht.
Thiele: Dabei gäbe es viel einfachere Möglichkeiten, um zu helfen. Ich werde jetzt mein Geld nicht nach Syrien oder Afghanistan tragen, um dort geschäftlich zu investieren. Aber es gibt auch noch die humanitäre Hilfe. Laut der Unesco-Organisation Welthungerhilfe können Flüchtlinge in ihren eigenen Ländern im Nahen und Mittleren Osten mit einem halben US-Dollar pro Person am Tag ernährt werden, und für wenig Geld könnten dort einfache Unterkünfte errichtet werden. Auch Ausbildungsmöglichkeiten könnten so dort dargestellt werden, das wäre auch für die Flüchtlinge die richtige Lösung, weil sie einer mittelfristig zu erwartenden Reintegration in ihren Heimatländern entgegenkommt. Es ginge mit einem Bruchteil dessen, was wir jetzt aufwenden müssen, und wir hätten nicht die großen politischen Probleme in unserem Land.
Die Kanzlerin meint, sie habe nichts falsch gemacht. Auch nach Verlusten für ihre CDU bei der Bundestagswahl sagte sie: „Ich sehe nicht, was wir anders machen sollten.“
Sinn: Angela Merkel leidet an Realitätsverlust, wenn sie sagt, man könne die deutschen Grenzen nicht schützen. Ohne den Schutz des Eigentums und damit auch ohne die Grenzen um dieses Eigentum ist keine Ordnung in dieser Welt möglich. Das gilt für Privateigentum wie auch für kollektives Eigentum der gesamten Volkswirtschaft in Form der Natur, der Infrastruktur und des Anspruchs auf Sozialschutz. Merkel hat nicht nur in der Flüchtlingspolitik, sondern schon zuvor falsche Entscheidungen aus einer momentanen Stimmungslage heraus getroffen, die sich verheerend für das Land auswirken.
An welche denken Sie?
Sinn: Sie hat sich völlig unüberlegt für den Ausstieg aus der Atomenergie entschieden. Jetzt kommt die Forderung auf, auch noch aus der Kohle auszusteigen, und damit steckt Deutschland in der Sackgasse. Wir können doch die Räder eines Industrielandes wie Deutschland nicht mit Sonnen- und Windenergie drehen. Dieser Strom ist viel zu schwach und zappelig, als dass man damit viel anfangen könnte. Merkel hat die Agenda 2010 von Altkanzler Gerhard Schröder durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns zurückgedreht. Das gefährdet die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt in den letzten Jahren. Dann kommt noch die Einführung der Rente mit 63 dazu. Das alles ist eine konsumtive Wirtschaftspolitik, die nur das bereits Erreichte verfrühstückt, aber uns nicht für die Zukunft fit macht.
Thiele: Schauen Sie sich auch die neue Erbschaftsteuerregelung an. Danach müssen große Familienunternehmen Milliarden zahlen, um diese Lasten zu tragen. Das Geld ist aber in den Unternehmen investiert und liegt nicht auf der Bank herum. Woher soll denn die Liquidität kommen, um die Zahlungsfähigkeit der Erben sicherzustellen? Auch volkswirtschaftlich ist zu berücksichtigen, dass unser Erfolg auf den nationalen und Exportmärkten maßgeblich davon abhängig ist, dass die großen Familienunternehmen ihre enorme Innovationskraft finanzieren können. Diese Innovationen werden auf eigenes Risiko über lange Zeiträume hinweg erarbeitet. Dies sichert im großen Stil Arbeitsplätze, das wachsende Steueraufkommen und die hohen Beiträge für die Sozialversicherungskassen.
Können Sie sich eine Arbeitspflicht für die Flüchtlinge in Deutschland vorstellen?
Thiele: Wir sollten die Flüchtlinge in das Hartz-IV-System eingliedern, dass das Recht auf Arbeit gewährt, aber auch die Bereitschaft zu arbeiten voraussetzt.
Gauweiler: Wir haben in Deutschland 10 000 Sammelunterkünfte, wo untergebrachte Flüchtlinge fast alles dürfen. Nur arbeiten dürfen sie nicht. Dabei gibt es doch viele Tätigkeiten, die sie übernehmen könnten, schon im einfachsten Bereich. Alle diese Menschen monate- oder jahrelang zur Untätigkeit zu verdammen, sie in Sammelunterkünfte zu sperren und zu hoffen, es gebe keine Probleme: das geht furchtbar schief. Wer innerhalb einiger Wochen nicht in sein Herkunftsland zurückkehren will oder kann und Sozialhilfe bezieht, muss seinen Beitrag zur Finanzierung von Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und medizinischer Versorgung leisten. Das hilft auch dem Ansehen der Flüchtlinge, viele sehen das selbst so. Auch das ist eine Frage der Schutzfunktion. Für die Flüchtlinge, aber auch für die eigenen Leute.
Entgleitet dem Staat diese Schutzfunktion?
Gauweiler: Das richtige Maß ist der Politik völlig verloren gegangen. Die totale Freizügigkeit in der Grenzfrage hat doch auch zum Brexit geführt und war ein Schuss zu viel für die Briten. Sie haben gesagt: „Das packen wir nicht mehr.“ Diese Einsicht muss in die Köpfe der Volksparteien.
Was passiert eigentlich, wenn alles so weitergeht – wenn also nichts passiert?
Thiele: Ein Staat braucht eine starke und verantwortungsvolle Führung. Wenn alles so bleibt, wie es ist, geht das Chaos weiter. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das Land in 30 Jahren aussieht, wenn die Zuwanderung so ungezügelt weitergeht. Ich höre außerdem immer nur: mehr Europa. Aber die Antwort auf die Frage, wie es genau aussehen soll, ist die Politik bis heute schuldig geblieben. Wer nicht einsehen will, dass dies ohne die Berücksichtigung der Interessen der Nationalstaaten nicht geht, der braucht sich nicht zu wundern, wenn am rechten Rand die Zahl der Wähler steigt. Wir sind in der Vielfalt in Europa stark, und wir brauchen keine Vereinigten Staaten von Europa, bei denen wir unsere Identität verlieren. Brüssel wird ein ineffizienter Moloch werden.
Gauweiler: Wenn die Bundesregierung nicht gegensteuert, dann bekommen wir noch mehr EU, noch mehr Militärinterventionen, noch mehr Kultur- und Substanzverlust. Unsere Städte treten über die Ufer, werden zu rechtsfreien Konglomeraten mit einer Ghettoisierung wie im Harlem der 80er-Jahre. Wo die Schwächsten überhaupt keine Chancen mehr haben.
Sinn: Wenn nichts passiert, dann könnten sich bei uns die Probleme wiederholen, welche die Vereinigten Staaten in ihren Anfangsjahren erlebten, als Alexander Hamilton, der erste Finanzminister der Vereinigten Staaten, Ende des 18. Jahrhunderts die Schulden der Einzelstaaten in Bundesschulden umwandelte. Hamilton meinte, die Vergemeinschaftung der Schulden sei Zement für den neuen Staat. Das machte Schule, die einzelnen Staaten verschuldeten sich immer mehr und die Schuldenblase platzte, weil keiner dachte, er müsse die Schulden jemals begleichen. Damals sind neun von 29 Staaten und Territorien in Konkurs gegangen. Das Ganze erwies sich nicht als Zement, sondern als Sprengstoff. Das muss bei uns nicht passieren. Aber wir dürfen nicht naiv sein.
Herr Gauweiler, Herr Sinn, Herr Thiele, vielen Dank für das Interview.   Handelsblatt


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