Für alle, die mit dem hebräischen Originaltext der Bibel vertraut sind,
herrscht kein Mangel an Gelegenheiten, Ungenauigkeiten und
mißverständliche Ausdrücke in den von Nichtjuden verwendeten
Übersetzungen zu beklagen. Vielen dieser Unstimmigkeiten liegen
eindeutig theologische Motive zugrunde, da christliche Übersetzer
Passagen des Alten Testaments neu schrieben, um aus ihnen Vorhersagen
oder Urbilder des Lebens Jesu zu machen. Einige der Fehlübersetzungen
sind hingegen schwieriger zu erklären.
Einer der ärgerlichsten Fälle war für mich immer die Übersetzung des
Sechsten Gebotes: „Du sollst nicht töten“. In dieser Form wird das Zitat
in den Dienst der unterschiedlichsten Anliegen gestellt: des
Pazifismus, der Tierrechte, des Kampfs gegen Todesstrafe oder
Abtreibung.
Gewiß ist „töten“ auf deutsch ein umfassendes Verb, das alle Arten,
jemanden ums Leben zu bringen, beinhaltet und für alle Arten von Opfern
gilt. Diese allgemeine Bedeutung wird im Hebräischen durch das Verb
„harag“ ausgedrückt. Das Verb jedoch, das in der Tora für das Gebot
verwendet wird, ist ein ganz anderes, nämlich „ratsah“, das mit „morden“
übersetzt werden sollte. Diese Wurzel bezieht sich nur auf
verbrecherische Tötungshandlungen.
Selbstverständlich ist es nicht bloß eine Frage der Etymologie. Alle
Ideologien, die das Gebot für ihre menschenfreundlichen Anliegen ins
Feld führen, sehen sich gezwungen, alle jene Stellen in der Bibel zu
ignorieren, die den Krieg, das Schlachten von Opfertieren und eine ganze
Reihe von Methoden, die Todesstrafe zu vollstrecken, entschuldigen oder
gar gebieten.
Die gute alte englische King-James-
Bibel, durch die diese Formulierung in die englische Standardsprache
gelangte, ist normalerweise viel genauer in ihrem gelehrten Umgang mit
dem hebräischen Original. Und viele Jahre wunderte ich mich, wie den
gebildeten Philologen, die diese ausgezeichnete Übersetzung anfertigten,
bei einem so einfachen Ausdruck – den jedes jüdische Schulkind
verstanden hätte – ein solcher Fehler unterlaufen konnte.
Wie sich herausstellt, hat die Verwirrung ihren Ursprung nicht in der
englischen Übersetzung des 16. Jahrhunderts. Aus den Schriften jüdischer
Exegeten des Mittelalters, die in Frankreich lebten, erfahren wir, daß
auch die Nichtjuden in ihrer Umgebung das biblische Gebot falsch
übersetzten.
Zwei der bedeutendsten Kommentatoren ihrer Zeit, Rabbi Samuel ben Meir
(Raschbam) und Rabbi Joseph Bekhor-Schor, zum Beispiel erkannten die
Notwendigkeit, außergewöhnlich ausführlich zu erläutern, daß sich der
hebräische Text nur auf ungesetzliches Töten bezieht. Beide Gelehrte
arbeiteten den Unterschied zwischen den hebräischen Wurzeln für „töten“
und „morden“ klar heraus und belegten mit zahlreichen Beispielen, daß
die Tora andere Arten des Tötens toleriert.
Raschbam schließt seine Abhandlung über das Thema mit folgenden Worten:
„Und dies ist eine Widerlegung der Häretiker, und sie haben es mir
zugestanden. Wenn ihre eigenen Bücher sagen: ‚Ich bin es, der tötet und
der lebendig macht’ (5. Buch Moses 32,39) – und dafür dieselbe
lateinische Wurzel gebrauchen wie für ‚Du sollst nicht morden’ – sind
sie nicht exakt.“
Den Worten dieser französischen jüdischen Gelehrten entnehmen wir, daß
die Übersetzung „Du sollst nicht töten“ auf der lateinischen
Bibelübersetzung beruht, wie sie die römisch-katholische Kirche im
Mittelalter verwendete.
In der Tat gebraucht die Vulgata – wie diese Übersetzung genannt wird –
das lateinische Verb occidere, das eher der Bedeutung von „töten“ und
nicht von „morden“ entspricht. Indem er darlegt, daß die Vulgata im
Deuteronomium die Wurzel occidere gebraucht, wenn der Allmächtige selbst
von Seiner Macht über das Leben seiner Geschöpfe spricht – in einem
Kontext, in dem es unter gar keinen Umständen mit „morden“ übersetzt
werden könnte –, weist Raschbam offensiv den Fehler im traditionellen
christlichen Verständnis des Sechsten Gebotes nach. Daher überrascht es
nicht, zu hören, daß seine christlichen Gesprächspartner ihren Irrtum
kampflos zugaben.
Dies wirft einige zusäzliche schwierige Fragen zur Lateinübersetzung der
Vulgata auf. Der Verfasser dieser Übersetzung, der heilige Hieronymus
(gestorben 420 u. Z.), verbrachte viele Jahre im Land Israel, wo er sich
häufig mit jüdischen Gelehrten beriet, deren Deutungen er mit großem
Respekt zitierte. Selbst die Septuaginta, die alte griechische
Übersetzung der Bibel, übertrug das Gebot mit einem Wort, das nicht
„töten“, sondern „morden“ bedeutet. Der heilige Augustinus, der sich auf
die Standard-Übersetzungen stützt, läßt keinen Zweifel daran, daß das
Gebot sich nicht auf Kriege oder die Todesstrafe bezieht, die
ausdrücklich von Gott bestimmt sind.
Doch die Tatsache bleibt bestehen, daß auch die jüdischen Übersetzer bei
der Unterscheidung der verschiedenen hebräischen Wurzeln nicht immer
einer Meinung waren.
Don Isaac Abravanel und andere heben hervor, daß „ratsah“ im 4. Buch
Moses (35, 27-30) gebraucht wurde, wo es um einen berechtigten Fall von
Blutrache und um die Todesstrafe geht – beides fällt nicht unter die
Kategorie von „morden“.
Auch einige bedeutende jüdische Philosophen waren der Überzeugung, daß
„Du sollst nicht töten“ eine exakte Übersetzung des Sechsten Gebotes
ist. Maimonides (Rabbi Moshe ben Maimon) beispielsweise schrieb, daß
sich bei der Tötung eines Menschen in jedem Fall um eine Verletzung des
Gebotes handelt, auch dann wenn mildernde Umstände die Übertretung
gegenstandslos machen. Manche haben behauptet, daß diese Tradition der
faktischen Aufhebung der Todesstrafe im rabbinischen Gesetz zugrunde
liegt.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, fällt es uns nicht schwer,
einzugestehen, daß „Du sollst nicht töten“ nicht einfach nur das
Ergebnis von Unwissenheit auf Seiten von Hieronymus oder der Übersetzer
der King-James-Bibel ist. Sondern daß sich darin die legitime
Entscheidung ausdrückt, die ganze Skala möglicher Bedeutungen der
hebräischen Wurzel abzudecken.
Wie so oft lehrt uns eine genauere Untersuchung, daß das, was zunächst
lachhaft offenkundig ist, in Wahrheit viel komplexer ist, als es beim
ersten Blick zu sein scheint. Wir müssen sehr vorsichtig sein, bevor wir
über einen scheinbaren Patzer ein voreiliges Urteil fällen. Eliezer Segal
Der Autor ist Dozent an der Universität von Calgary/Kanada
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