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Sonntag, 17. Dezember 2017

Evident



Heute, geneigter Leser, wandele ich mit meiner sonntäglichen Kunstbetrachtung womöglich auf Abwegen, denn ich habe mich gestern auf der Chanukka-Feier zunächst mit (griechischem!) Wein so weit betütelt, dass ich daheim bis in den frühen Morgen hinein und von einem vorzügliche Côtes du Rhône assistiert – es wird dies heute eine einzige Abschweifung, weshalb ich mir gleich gestatte, darauf hinzuweisen, dass Hannibal einst mit seinen Elefanten die Rhône überquerte; heute hängt alles mit allem zusammen –, einer vorzüglichen Cuvée aus Grenache und Syrah von Seigneur de Fontimple aus Vacqueyras, anno 2013 gelesen, als die Welt noch in Ordnung schien, gezügelt alkoholstark und mit dem typischen Duft des französischen Südens (Sie werden von mir niemals das Barbarenwort "Preis-Leistungs-Verhältnis" hören, aber es geht in die Richtung) –, ich erlaube mir, neu anzusetzen: Dieser Südfranzose also eskortierte mich in die Morgenstunden und versetzte mich in eine nostalgische Stimmung, in welcher ich im Schatzhaus Youtube herumstöberte und mir schließlich, es wird gegen zwei Uhr gewesen sein, die Stunde des Wolfs begann, Musik anhörte, die ich als Kind und als früher Teenager gehört habe.

Ich stieß bei dieser Gelegenheit auf den polnischen Rocksänger bzw. "Singer-Songwriter" (Wikipedia) Czesław Niemen. Im Ostblock gab es ja parallel zum Aufkommen der Beatles und der anderen Bands neuen Stils ebenfalls eine ganze Schar solcher Gruppen, deren Niveau zum Teil beachtlich war. Niemen veröffentlichte sein erstes Solo-Album 1967, im Jahr von "Sgt. Pepper", und Wikipedia entnehme ich, dass Marlene Dietrich, die sich irgendwann in den späteren Sechzigern auf Konzerttournee in Polen befand, von einem seiner Lieder so beeindruckt war, dass sie es in ihr Repertoire aufnahm und einen deutschen Text dazu schrieb ("Mutter, hast du mir vergeben?").

Als Niemens Opus magnum gilt das 1970 veröffentlichte Album "Enigmatic", ein Werk, das er dem Andenken des polnischen Freiheitshelden General Józef Bem gewidmet hat, der sich von Napoleons Russlandfeldzug bis zur 1848er Revolution gegen Russen und Österreicher schlug. Mit dem sechzehnminütigen Stück "Bema pamięci żałobny – rapsod", notiert Wikipedia, "gelang Niemen eine überraschende Synthese aus traditioneller Kirchenmusik und avantgardistischer Rockmusik. Dieses Album offenbarte einen tief religiösen, in der Geschichte seiner polnischen Heimat verwurzelten Künstler. 'Enigmatic' wurde zu einem Meilenstein in der polnischen Musikgeschichte und gilt noch immer als die 'beste polnische Rockplatte aller Zeiten'". 1999 wurde Niemen in einer Umfrage zum bedeutendsten polnischen Künstler gewählt; ich unterstelle mal, Chopin stand nicht mit zur Wahl. Er starb 2004.

Dieses Album "Enigma" befand sich im Besitz meines Bruders, der vor allem die besagte Rhapsodie ein- ums andere Mal hörte; der Text ist polnisch, und ich kenne heute noch jedes Wort, obwohl ich kein einziges verstehe und dieses Stück bis gestern Nacht ca. 45 Jahre nicht gehört habe. Allein das Cover bereitete mir, dem Zehnjährigen, einen tiefen Eindruck; draußen und vor allem drinnen erblickte man den Sänger inmitten eines Meeres von Kerzen an der Orgel sitzend, und er sah bzw. sieht mit seinen langen tiefschwarzen Haaren, seinem Vollbart und der schwarzen priesterartigen Kleidung wie Rasputin aus. In der Stunde also, da die Nacht am tiefsten ist, hörte ich das wunderliche Werk wieder, während der rote Südfranzose meine Empfänglichkeit für den süßen Schmerz der Erinnerung befeuerte...

Die Musik ähnelt wohl am ehesten, wenn man einen Vergleich zu den Bands des Westens ziehen wollte, Led Zeppelin, zumindest deren Balladen, wobei der Pole bzw. gebürtige Weißrusse im Gegensatz zu Robert Plant ein echter Tenor ist und "Stimme hat", also aus der Brust singt. Der Schlagzeuger erinnert mich an John Bonham, den besten, der je an der Schießbude saß (und dessen so prachtvoll verschleppte Rhythmen ich sogar abseits des Rennrades ertrage); überhaupt hat die Besetzung Orgel-Schlagzeug-E-Gitarre-Tenor etwa Led-Zeppelineskes, wenngleich hier ein Kirchenchor dazukommt. Richtig los geht es ab 7,25; bei 16.30 können Sie getrost Schluss machen (hier). Erwarten Sie keine komplexe Musik, aber etwas Besseres haben Led Zeppelin, The Nice, Emerson Lake & Palmer oder Yes auch nicht zustandegebracht. (Nebenbei und den dafür Empfänglichen ans Herz gelegt: Es dürfte, als Endlosschleife, eine vortreffliche Begleitmusik für einen langen epischen Anstieg in den Alpen sein, etwa den Col du Galibier.)

Warum aber fiel vorhin der Name Hannibal? Weil auch der über die Alpen zog? Es hängt mit dem Gesang des Kirchenchores am Anfang der Rhapsodie zusammen: "Iusiurandum patri datum usque ad hanc" – und dann verstehe ich weiter: "diem ita servavi". Auf der Suche nach dem Original kam ich zu Cornelius Nepos' Hannibal-Biographie, und jetzt beginnt die eigentliche Abschweifung, wo geschrieben steht:

"Hannibal comperisset seque ab interioribus consiliis segregari vidisset, tempore dato adiit ad regem, eique cum multa de fide sua et odio in Romanos commemorasset, hoc adiunxit: 'pater meus' inquit 'Hamilcar puerulo me, utpote non amplius novem annos nato, in Hispaniam imperator proficiscens Karthagine Iovi optimo maximo hostias immolavit. quae divina res dum conficiebatur, quaesivit a me vellemne secum in castra proficisci. id cum libenter accepissem atque ab eo petere coepissem ne dubitaret ducere, tum ille 'faciam' inquit, 'si mihi fidem quam postulo dederis.' simul me ad aram adduxit, apud quam sacrificare instituerat, eamque ceteris remotis tenentem iurare iussit numquam me in amicitia cum Romanis fore. id ego iusiurandum patri datum usque ad hanc aetatem ita conservavi, ut nemini dubium esse debeat, quin reliquo tempore eadem mente sim futurus. quare si quid amice de Romanis cogitabis, non imprudenter feceris, si me celaris; cum quidem bellum parabis, te ipsum frustraberis, si non me in eo principem posueris.'"     

Zu deutsch: "Da Hannibal (...) sich von den geheimeren Beratungen ausgeschlossen sah, ging er bei sich bietender Gelegenheit zum König und fügte, nachdem er viel von seiner Treue und seinem Hass gegen die Römer gesprochen hatte, noch Folgendes hinzu: ‚Als mein Vater Hamilkar, als ich ein Knabe von nicht mehr als neun Jahren war, im Begriff stand, als Feldherr von Karthago nach Spanien abzugehen, brachte er Iupiter, dem allmächtigen und allgütigen, Opfer dar. Während diese gottesdienstliche Handlung vollzogen wurde, fragte er mich, ob ich mit ihm in den Krieg gehen wolle. Da ich dies freudig annahm und ihn zu bitten begann, mich unbedenklich mitzunehmen, erwiderte er: 'Ich will es tun, wenn du mir das Versprechen gibst, das ich fordere.' Zugleich führte er mich an den Altar, an dem das Opfer begonnen war, und ließ mich ihn anfassen, nachdem er die übrigen sich hatte entfernen lassen, und schwören, niemals mit den Römern Freundschaft halten zu wollen. Diesen Eid, den ich meinem Vater gelobt habe, habe ich bis in dieses Alter so treu gehalten, dass niemand zweifeln darf, ich werde auch in der übrigen Zeit die gleiche Gesinnung bewahren. Hegst du also gegen die Römer freundschaftliche Absichten, so wirst du nicht unklug tun, mir es zu verbergen; rüstest du aber zum Krieg, so wirst du dich selber betrügen, wenn du dabei nicht mich zum obersten Leiter machst."

Die Kurve zurück zu Niemen bekomme ich jetzt nicht mehr, zumal ich, wie gesagt, kein Polnisch verstehe und nicht weiß, was der Chor uns in diesem Kontext sagen will, vielleicht geht es um den Eid Józef Bems gegenüber dem Vaterland, aber bei der Lektüre des römischen Geschichtsschreibers fiel mir etwas auf, was der Alltagstrott zugedeckt hat und das ich hier festhalten muss. Hannibal ist der Feind Roms schlechthin gewesen, das größte militärische Genie, das je gegen die aufstrebende spätere Weltmacht antrat, aber wie fair, wie unfeindlich, wie eiferfrei schreibt der Römer über ihn! Jeder deutsche Journalist, der heute über Putin oder Trump schreibt, behandelt diese Männer, die ja nicht einmal Feinde im kriegerischen Sinne, sondern bloß in jenem einer elenden Hypermoral sind, mit einer zwanghaften Unfairness und zelotischen Geiferei, von der Traktierung etwa der Wehrmachtsgeneräle und anderer Altvorderen hier ganz zu schweigen. Die "Wendung zum diskrimierenden Kriegsbegriff" (Carl Schmitt), vom "iustus hostis zum perfidus hostis" (derselbe) und die daraus folgende Feinderklärungskirmes der Anständigen und Trendkonformen haben die Welt in ein tristes Licht getaucht. Deswegen sollte man sich hin und wieder bei der Lektüre der Alten entgiften. Und eine Osterweiterung der Vernunft scheint mir derzeit sowieso angezeigt zu sein.  MK am 17. 12. 17

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