In öffentlichen Gedenk- und Trauerritualen artikulieren Staat und
Gesellschaft mit Nachdruck ihren Werte- und Normenkanon, ihr
Selbstverständnis und ihre Identität. Genauso aufschlußreich sind im
Umkehrschluß die Unterlassungen. So auch nach dem islamistischen
Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz vor einem Jahr. Die
auffällige Dezenz, mit der staatlicherseits die zwölf Toten und 70 Verletzten auf dem Weihnachtsmarkt quittiert wurden, wirft ein Schlaglicht auf die innere Verfaßtheit der Bundesrepublik.
In einem offenen Brief an Kanzlerin Merkel haben Opfer und ihre
Angehörigen „die mangelhafte Anti-Terror-Arbeit in Deutschland als auch
den Umgang mit uns als Opfer und Hinterbliebene“ angeprangert. Der
Vorwurf geht auch direkt an Merkel, die es für unnötig hielt, den
Angehörigen persönlich oder schriftlich zu kondolieren.
Die Kanzlerin, schreiben die Opfervertreter, sei ihrem Amt nicht
gerecht geworden, schließlich galt der Anschlag „nicht den unmittelbar
betroffenen Opfern direkt, sondern der Bundesrepublik Deutschland. Es
ist eine Frage des Respekts, des Anstands und eigentlich eine
Selbstverständlichkeit, daß Sie als Regierungschefin im Namen der
Bundesregierung unseren Familien gegenüber den Verlust eines
Familienangehörigen durch einen terroristischen Akt anerkennen.“ Mit
anderen Worten: Merkels Verhalten ist katastrophal. Zugleich steht es
für ein systemisches, ein Staatsversagen.
Am 19. Dezember, dem ersten Jahrestag des Anschlags, soll am Tat- ein
Gedenkort eingeweiht werden. Positiv ist zu vermerken, daß die Toten,
die in der Öffentlichkeit bislang nur numerisch präsent waren, hier
einen Namen erhalten. Die Inschrift ist jedoch ein Ärgernis: „Zur
Erinnerung an die Opfer des Terroranschlags am 19. Dezember 2016. Für
ein friedliches Miteinander aller Menschen.“
Der erste Satz unterdrückt das islamistische Motiv des Anschlags, der
zweite besteht aus bigottem Dummdeutsch. Ein „friedliches Miteinander“
mit religiösen Fanatikern, die Nichtmuslime als objektive Feinde
betrachten, in deren Zuhause umbringen, wenigstens aber unterwerfen und
mundtot machen wollen, ist schlechterdings unmöglich.
Das Staatsversagen wird in vollem Umfang deutlich, wenn man die
Ignoranz mit den eiligen Trauermanifestationen nach der Enthüllung
angeblicher NSU-Morde im November 2011 vergleicht. Der Unterschied fällt
um so stärker ins Auge, weil der Tunesier Anis Amri als Attentäter und
seine Einbindung in islamistische Strukturen zweifelsfrei feststehen,
während bis heute keine stichhaltigen Beweise für die NSU-Täterschaft
vorliegen.
Das hielt Bundestagspräsident Norbert Lammert nicht davon ab,
umgehend „unsere Trauer, Betroffenheit und Bestürzung zum Ausdruck (…)
über die erschreckende Serie von Morden und Anschlägen einer kriminellen
neonazistischen Bande“ zu erklären und die Ermittlungsarbeit, die
Berichterstattung und die Justiz zu präjudizieren.
Die Hierarchisierung der Opfer ist politisch motiviert. Während die
angeblichen NSU-Toten sich als Blutzeugen gegen die Kritiker der
multitribalen und multireligiösen Gesellschaft eignen, die von der
Politik angestrebt wird, sind die Toten vom Breitscheidplatz ein Indiz,
daß diese Politik für die schon länger hier Lebenden lebensgefährlich
ist. So konnte der Attentäter 2015 im Windschatten der falsch
behandelten, sogenannten Flüchtlingskrise nach Deutschland gelangen und
seinen Aufenthalt hier sichern.
Aus der Sicht der Regierenden ist es plausibel, die Risiken und
Nebenwirkungen ihres Handelns zu vertuschen, die politisch-religiösen
Motive des Anschlags in ein Halbdunkel zu tauchen und die Opfer in
Bürokratenmanier als Versehrte eines erweiterten Verkehrsunfalls
abzuhandeln. Merkels Ignoranz fügt sich darin ein.
Das Verbrechen hätte, wie man jetzt weiß, verhindert werden können,
denn es gab eindeutige Hinweise auf die Attentatspläne Amris. Das
Versagen der Sicherheitsbehörden ist so unfaßbar, daß Spekulationen
unvermeidlich sind. Inkompetenz des Personals durch politisch gewollte
Negativauswahl ist noch die freundlichere Erklärung, die gezielte
Unterwanderung durch religiöse Extremisten die schlimmere.
Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele vermutet als Grund für
das Nichteingreifen der Sicherheitsdienste „im Hintergrund eine ordnende
Hand“: Die Verhaftung Amris hätte die Islamisten auf ein
Informationsleck aufmerksam gemacht und den Interessen der USA
widersprochen, die einen Bombenangriff in Libyen planten. Das würde
bedeuten, daß deutsche Behörden die eigene Bevölkerung einer anderen
Macht als Mittel zum Zweck überlassen hätten.
Das Beschweigen des Terrorgrunds wirkt wie eine Tabuisierung, durch
die der Islamismus als Machtfaktor und Mitspieler der deutschen Politik
anerkannt wird. Der Bevölkerung wird signalisiert, sich der Einwanderung
und ihren Folgen auf keinen Fall entgegenzustellen, weil das zu
weiteren Anschlägen führen könnte. Eine deutsche Staatsräson kommt in
dieser Kalkulation nicht vor. Damit entfallen auch der Maßstab, an der
die persönliche Verantwortung der politischen Akteure gemessen wird, und
die Notwendigkeit ihres Rücktritts.
Und das Staatsvolk? Sofern es die Bedrohung überhaupt reflektiert,
verfällt es in den Modus sentimentaler Klageweiber, entzündet Kerzen und
barmt auf Plakaten: „Warum?“ Selbstbewußte, mündige Bürger wüßten die
Antwort: Auf den Staat ist kein Verlaß mehr! Die Lebenden läßt er
schutzlos, und die Toten im Stich. Thorsten Hinz
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