Stationen

Sonntag, 10. Dezember 2017

Hans-Ulrich Jörges

Jetzt ist Angela Merkel immer noch Bundeskanzlerin. Dabei müsste sie längst schon mit ihrem Mann die Welt bereisen, den Pan-American Highway hinunterfahren, 48.000 Kilometer, von der Prudhoe Bay von Alaska bis nach Ushuaia, die südlichste Stadt der Welt im argentinischen Feuerland, ein Lebenstraum Merkels. Vor eineinhalb Jahren hätte sie zurückgetreten sein sollen, 25 Jahre nach ihrer ersten Vereidigung als Ministerin im Kabinett Kohl – 25, eine wichtige, „magische“ Zahl für Merkel. „Sie will aufhören. Und leben“.
So sagte es Hans-Ulrich Jörges im „Stern“ voraus, am 8. August 2013, noch vor der vorletzten Bundestagswahl, unter der Überschrift „Merkels letzte drei Jahre“. Er fügte sicherheitshalber hinzu: „Glauben Sie keinem Dementi“.
Detailliert erklärte Jörges, warum es so kommen würde und was in Merkel vorgehe. „Zur Wiederwahl 2017 jedenfalls möchte sie sich nicht mehr stellen.“ Auf der Grundlage seiner Erfahrungen als langjähriger Berliner Büroleiter des „Stern“ spekulierte er, welche Männer bei ihrer Nachfolge womöglich entscheidende Rollen spielen könnten: David McAllister, Friedrich Merz, Norbert Röttgen?
Viel wichtiger aber, schrieb Jörges, sei „die Frage, wie Merkel ihre letzten drei Jahre politisch ausfüllt.“ Was für ein toller Diskussionsvorsprung, wenn man weiß, dass die Kanzlerin 2016 auf jeden Fall aufhören wird!


Nun, Ende 2017, ist Angela Merkel immer noch nicht auf dem Weg Richtung Feuerland, aber auf der Titelseite des „Stern“ wenigstens schon mal im „Freien Fall“. Der Tag, an dem die FDP die Sondierungsgespräche für eine schwarz-gelb-grüne Koalition verließ, war für die Illustrierte „der Tag, der womöglich den Anfang vom Ende der Ära Merkel markiert“:
Sie hätte in die Historie eingehen können als Frau, die so lange regiert wie der ewige Kanzler Helmut Kohl, mit drei unterschiedlichen Partnern an der Seite. Stattdessen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auf andere Weise Geschichte macht: als erste Regierungschefin, der es nicht gelang, eine Koalition zu schmieden. Als erste, die nach der Wahl in Neuwahlen gehen muss.
Zielsicher treffen die „Stern“-Autoren in dieser von ihnen so genannten „Staatskrise“ die eine Frage, die so viele Bürger schlaflos bangen lässt: Mit welchem Einzel-Rekord wird Angela Merkel wahrscheinlich in die Geschichte eingehen?


Die Politik-Berichterstattung des „Stern“ ist einzigartig. Unter großem Einsatz heißer Luft werden schicksalhafte Dramen und Machtspiele geschildert, immer mit dem Blick in die Zukunft und die Köpfe der Beteiligten. Mit dicker Kinderkreide malen die Autoren Psychogramme. Sie konstruieren Machtduelle und lassen ihre Helden die höchsten Gipfel erklimmen, um ihnen von dort aus die Abgründe zu zeigen, in die sie bald darauf stürzen.
Was den Artikeln an Substanz fehlt, verhängen Textgirlanden und Metaphern. Sprachmarotten spielen eine große Rolle.
Ellipsen.
In einzelnen Zeilen.
Es ist eine faszinierende Form von Behauptungs- und Schwurbeljournalismus, die der „Stern“ perfektioniert hat.
Das Magazin sieht sich immer noch als eines der Leitmedien der Republik. „Journalismus auf höchstem Niveau“, verspricht der Verlag. Und sieben Millionen Leser, „die meistgelesene frei verkäufliche Zeitschrift Deutschlands“.
Anlässlich des nun offenbar unmittelbar bevorstehenden Wechsels Angela Merkels von der Politik in die Geschichtsbücher (mit oder ohne Umweg über Feuerland), habe ich mir alle Artikel des „Stern“ über die Kanzlerin der letzten vier Jahre durchgelesen.


Herbst 2013. Blenden wir uns in die Berichterstattung in der Woche nach der Bundestagswahl ein. Merkel hat laut „Stern“ damit den Höhepunkt ihrer Macht erreicht. „In Deutschland und Europa ist sie zur historischen Figur gereift“, schreibt Hans-Ulrich Jörges.
Dieser Bezug auf die Historie ist ein wiederkehrendes Muster. Vielleicht ist das ein Versuch, den gelegentlich schon nach kürzester Zeit überholten Artikeln einen Anschein größter Beständigkeit zu geben: der „Stern“ als Chronist, der fortwährend den Inhalt von Geschichtsbüchern vorauszuahnen versucht.
Angela Merkel ist zur historischen Figur gereift, die an die prägenden Leistungen von Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl anknüpft. (…) Durch die wahltaktisch überaus riskante, weil teure und haarsträubend einfach zu skandalisierende Eurorettung hat die Kanzlerin schon jetzt einen Platz in den Geschichtsbüchern.
Einen Platz in den Geschichtsbüchern, okay. Einen guten noch nicht unbedingt. Einige Wochen später mahnt der „Stern“:
Eigentlich hätte sie gute Aussichten, mal in einer Reihe mit den großen Kanzlern der Republik genannt zu werden. Mit Adenauer, Kohl und Brandt.
Eigentlich.
Nur, wenn sie so weitermerkelt, kann sie das vergessen.
Die Geschichte-Erzähler des „Stern“ sind von der Frage besessen, wie Leute in die Historie eingehen werden. In ihren Geschichten sind es auch die, die sie beschreiben. Einmal behaupten sie:
Griechenland ist Angela Merkels Schicksal. Sie will nicht als Kanzlerin in die Geschichte eingehen, die das Land in den Ruin und Europa auseinandertrieb.
Ein andermal formulieren sie:
Sie will der Welt ein neues, anderes Gesicht von Deutschland zeigen: freundlich und weltoffen. Vielleicht glaubt sie, damit in die Geschichtsbücher einzugehen.
Im Februar 2015, nachdem die Kanzlerin es scheinbar geschafft hat, Frieden in der Ukraine zu stiften, schreibt Jörges: „Es war eine historische Woche für Angela Merkel.“ Sein Artikel endet mit den Sätzen:
Merkel hat alles getan, um einen großen Krieg zu verhindern. Der Friedensnobelpreis? Verdient hätte sie ihn mehr als der Friedensnobelpreisträger Obama. Gäbe es einen Richter über die Weltgeschichte, würde er nach ihrer Anhörung verkünden: Die Zeugin bleibt unvereidigt. Sie ist glaubwürdig.
Ich habe auch nach vielmaligem Lesen nicht verstanden, was das bedeuten soll. Außer: Weltgeschichte!!!


Aber zurück zum Herbst 2013, als Merkel dank einer gewonnen Wahl vermeintlich zur historischen Figur reifte. Hans-Ulrich Jörges lässt es in solchen Momenten zu, von seinen Gefühlen überwältigt zu werden. Er schreibt über Merkel:
Nun wird sie mehr als nur respektiert.
Nun wird sie auch geliebt.
Und etwas später:
Sie ist mehr als ein zähes Luder. Sie beweist Härte. Unbeirrbarkeit. Und, ja, Klasse in Bescheidenheit.
Aber wie das mit Gipfeln so ist: Sobald sie erklommen sind, kann es nur noch in eine Richtung gehen: bergab.
Oder wie der „Stern“ formuliert: „Dem Triumph wohnt schon der Abschied inne.“ Auch weil Merkel ja, wie das Blatt weiß, 2017 nicht mehr antreten wird.
Der Artikel trägt die Überschrift: „Die Allmächtige“.   Stefan Niggemeier

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