Der
10. November war ein schöner Spätherbstsonntag: „Die Bürger gingen in
Massen wie gewöhnlich im Grunewald spazieren. Keine eleganten Toiletten,
lauter Bürger, manche wohl absichtlich einfach angezogen. Alles etwas
gedämpft wie Leute, deren Schicksal irgendwo weit in der Ferne
entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, daß es so gut
abgegangen war. Trambahnen und Untergrundbahn gingen wie sonst, das
Unterpfand dafür, daß für den unmittelbaren Lebensbedarf alles in
Ordnung war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden
weiterbezahlt.“
Wohlgemerkt: Hier ist
vom 10. November 1918 die Rede, dem zweiten Tag einer Revolution, die
offenbar gar keine war. Die scharfsinnige Beobachtung wurde am 30.
November 1918 niedergeschrieben und einige Monate später in der Münchner
Zeitung Der Kunstwart veröffentlicht. Als Autor zeichnete ein
Anonymus, der sich „Spectator“ nannte. Hinter dem Pseudonym verbarg sich
Ernst Troeltsch, ein renommierter Professor für Religionsphilosophie
und Kirchengeschichte an der Unversität Berlin, seit März 1919 Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium.
Im Winter 1918 hatte ihn der Herausgeber des Kunstworts, Ferdinand
Avenarius, eingeladen, für seine Zeitschrift regelmäßig Essays über die
politische Lage zu verfassen. Vom Februar 1919 bis zum Juli 1920
schrieb Troeltsch alle vierzehn Tage, danach bis zum Oktober 1922 nur
noch unregelmäßig. Eine Auswahl der sogenannten, „Spektator-Briefe“
erschien bereits 1924, ein Jahr nach Troeltschs Tod. Jetzt ist in der
von Hans Magnus Enzensberger
betreuten Reihe „Die Andere Bibliothek“ eine weitere Auswahledition
herausgekommen unter dem Titel „Die Fehlgeburt einer Republik“. Ein
begrüßenswertes Unternehmen, denn zweifellos zählen Troeltschs
politische Essays zu den gescheitesten Analysen jener turbulenten Jahre,
die auf die Niederlage des Kaiserreichs und den Sturz der Hohenzollern
folgten.
Ernst Troeltsch gehörte zu den wenigen Gelehrten, die sich ohne Vorbehalte zur jungen Weimarer Republik bekannten. Zusammen mit Friedrich Naumann, Max Weber, Walther Rathenau
und anderen engagierte er sich in der liberalen Deutschen
Demokratischen Partei (DDP) für den Aufbau der Demokratie. In seinen
„Spektator-Briefen“ warb er unermüdlich für den Gedanken eines
Ausgleichs zwischen den gemäßigten Kräften des Bürgertums und dem
reformerischen Flügel der Arbeiterbewegung. Nur durch eine Stärkung der
demokratischen Mitte – so sein Appell – könne die unter so ungünstigen
innen- und außenpolitischen Bedingungen ins Leben getretene Republik auf
Dauer gefestigt werden. Doch gerade an einer solchen Bereitschaft zur
pragmatischen, die ideologischen Gräben überwindenden Zusammenarbeit
mangelte es, und zwar auf allen Seiten des politischen Spektrums.
Früh erkannte
Troeltsch, welche Gefahren der Republik von der radikalen Linken, noch
mehr aber von der reaktionären Rechten drohten. „Daß die Rechte auf
Restauration, Rache und Rechthabenwollen verzichten lernen könnte, das
wäre eines der wichtigsten Mittel der Rettung. Aber derartiges scheint
in unserem Deutschland unmöglich zu sein“, notierte er bereits im Mai
1919. Sorgfältig registrierte Troeltsch, wie sich das Lager der
Gegenrevolution, mit Schwerpunkt in Bayern,
formierte, wie der Haß auf das „System von Weimar“ geschürt wurde und
Antisemitismus und Dolchstoßlegende immer größere Resonanz fanden,
besonders an den Universitäten. In einem Artikel, überschrieben „Die
Welle von rechts“, vom Dezember 1919 berichtete er: „Sprach man vor
einem Jahre vor Studenten, so mußte man sich auf wilde pazifistische,
revolutionäre, ja idealistisch-bolschewistische Widersprüche gefaßt
machen; heute muß man auf antisemitische, nationalistische,
antirevolutionäre Einsprüche sich einrichten. In manchen juristischen
Kollegien wird gescharrt, wenn das Wort ‚Reichsverfassung‘ fällt.“
Der Kapp-Putsch vom
März 1920 war für Troeltsch keine Überraschung; er hatte ihn längst
kommen sehen: „Es ist die alte ,militaristische‘ Gesellschaft, die um
ihr Dasein und ihre Wiederherstellung kämpft und die zu diesem Zweck
keine neuen Mittel finden kann und will, sondern lediglich die alten
militaristischen der Gewalt ausreichend und geeignet glaubt.“
Daß die
Abwehr des Kapp-Putsches nicht zur Festigung der Republik genutzt, daß –
im Gegenteil – diese zusätzlich geschwächt wurde, als in den
Reichstagswahlen vom Juni 1920 die Parteien der „Weimarer Koalition“, SPD,
Zentrum und DDP, ihre parlamentarische Mehrheit verloren, dies war für
Troeltsch eine bittere Enttäuschung. Bis zu seinem Tode kreisten seine
Überlegungen um das Kernproblem: die Bildung einer stabilen,
mehrheitsfähigen Regierung der Mitte. Denn die einzige Alternative dazu
war, wie er klar sah, eine Diktatur von rechts, mit der
Reichswehrgeneräle, preußische Junker und Industriebarone liebäugelten.
Im
September 1921, nach der Ermordung Matthias Erzbergers, berichtete
Troeltsch, was ihm ein Großindustrieller mit schöner Offenherzigkeit
anvertraut hatte: „Das Blut müsse fließen, das am 9. November nicht
geflossen sei, und zwar diesmal das Blut der Linken, während damals das
der Rechten in Gefahr war. Die Industrie werde den Wiederaufbau
schaffen, aber vorher müsse der Sozialismus niedergeworfen werden, mit
dem der Aufstieg unmöglich sei. Ein entscheidender Bürgerkrieg und eine
deutsche Faszistenbewegung seien unvermeidlich, um wieder klare
Verhältnisse zu schaffen.“ Sie mußten allerdings noch zwölf Jahre
warten, bis klare Verhältnisse in ihrem Sinne geschaffen wurden.
Troeltsch verkannte
nicht, daß es der Weimarer Demokratie an Attraktivität mangelte, daß die
meisten Parteipolitiker von höchst mittelmäßiger Statur waren, und
dennoch war er nicht bereit, in den allgemeinen Chor der
Parteienverdrossenheit einzustimmen: „Parteien müssen sein“, so mahnte
er. „Sie sind das einzige Mittel der Regierungsbildung, ob sie einem
gefallen oder nicht.“
Schwer getroffen
wurde Troeltsch durch die Nachricht von der Ermordung seines Freundes
Walther Rathenau im Juni 1922. Für ihn stand die neuerliche Mordtat in
ursächlichem Zusammenhang mit der konstitutionellen Blindheit der
Weimarer Justiz gegenüber dem rechten Terror: „Trotz aller Revolution
regieren im Grunde die alten Beamten, urteilen die Gerichte im Sinn des
alten Systems, werden die Vertreter der Linken ermordet, wird denen der
Rechten kein Haar gekrümmt. Die Mörder können mit Hilfe der breiten und
reichen Organisationen stets verschwinden, die Helfershelfer finden die
Gunst des Gesetzes und werden freigesprochen.“
So
hellsichtig Troeltsch die innenpolitischen Gefahrenmomente
diagnostizierte, so borniert zeigte er sich als Beobachter der
außenpolitischen Szenerie. In den Friedensbedingungen, die der
Versailler Vertrag dem besiegten Land auferlegte, vermochte er – wie die
meisten seiner Zeitgenossen – nur den Ausdruck unbändiger Rachsucht auf
seiten der ehemaligen Kriegsgegner zu erkennen – eine „imperialistische
Ungeheuerlichkeit, ähnlich wie einst das Vorgehen Roms gegen Karthago“.
Unaufhörlich geißelte er das „Dogma von der deutschen Kriegsschuld“,
ohne sich jemals ernsthaft die Frage zu stellen, ob daran nicht auch
etwas Wahres sein könne. „Jedenfalls hat der damalige Generalstab alles
eher getan, als den Krieg zu betreiben“, schrieb er im Juni 1919. Heute
wissen wir, daß es gerade der deutsche Generalstabschef Helmuth von
Moltke war, der im Mai 1914 auf einen Präventivkrieg drängte und die
deutsche Reichsleitung damit in eine hochriskante
Konfrontationsstrategie hineintrieb, die Ende Juli 1914 zum Weltkrieg
eskalierte.
Gewiß – die Archive
waren damals noch nicht allgemein zugänglich, aber mußte Troeltsch
USPD-Politikern wie Karl Kautsky und Kurt Eisner, die sich um die
Aufdeckung der Wahrheit bemühten, der „hysterischen Selbstbeschuldigung
des deutschen Volkes“ bezichtigen? Und: Mußte er sich unbedingt stark
machen für ein „neues Nationalgefühl“, das nur Wasser war auf die Mühlen
der Rechten?
Im
Nachwort des Herausgebers Johann Hinrich Claussen ist allerdings von
den Grenzen des politischen Publizisten Ernst Troeltsch nicht die Rede.
Überhaupt ist die Edition zu bemängeln: Die Auswahlkriterien werden
nicht offengelegt; ein Sachregister fehlt; das kommentierte
Personenregister enthält zum Teil fragwürdige Wertungen. Nicht ein Wort
verliert der Herausgeber auch über die Edition von 1924 und über deren
Herausgeber: Hans Baron, einen jungen Schüler Friedrich Meineckes, der
sich später zu einem der bedeutendsten Renaissance-Forscher entwickelte.
1933 mußte der Berliner Privatdozent, wie viele andere gerade der
begabtesten deutschen Historiker, emigrieren. Er wurde vertrieben durch
eine rechte Diktatur, deren Heraufkunft Ernst Troeltsch schon 1921
prophezeit hatte. Volker Ullrich
Ernst Troeltsch: Die Fehlgeburt einer Republik - Spektator in Berlin 1918 bis 1922
Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Johann Hinrich Claussen; Eichborn Verlag, Frankfurt am Main
Dieses Pendeln von einem Extrem ins andere kennen natürlich auch andere Nationen, denn es ist ein allgemeinmenschlicher Zug. Aber bei uns ist die Amplitude unerbittlicher.
Andernorts fließt sogar schneller Blut als bei uns. Aber bei uns steigern sich durch Zurückhaltung die Spannungen ins Übermaß, dem schließlich keiner mehr Herr wird. Und so wird Botho Strauss am Ende recht behalten.
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