Stationen

Samstag, 30. Dezember 2017

Häisd'n'däisd

Der 10. November war ein schöner Spätherbstsonntag: „Die Bürger gingen in Massen wie gewöhnlich im Grunewald spazieren. Keine eleganten Toiletten, lauter Bürger, manche wohl absichtlich einfach angezogen. Alles etwas gedämpft wie Leute, deren Schicksal irgendwo weit in der Ferne entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, daß es so gut abgegangen war. Trambahnen und Untergrundbahn gingen wie sonst, das Unterpfand dafür, daß für den unmittelbaren Lebensbedarf alles in Ordnung war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt.“
Wohlgemerkt: Hier ist vom 10. November 1918 die Rede, dem zweiten Tag einer Revolution, die offenbar gar keine war. Die scharfsinnige Beobachtung wurde am 30. November 1918 niedergeschrieben und einige Monate später in der Münchner Zeitung Der Kunstwart veröffentlicht. Als Autor zeichnete ein Anonymus, der sich „Spectator“ nannte. Hinter dem Pseudonym verbarg sich Ernst Troeltsch, ein renommierter Professor für Religionsphilosophie und Kirchengeschichte an der Unversität Berlin, seit März 1919 Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium.
Im Winter 1918 hatte ihn der Herausgeber des Kunstworts, Ferdinand Avenarius, eingeladen, für seine Zeitschrift regelmäßig Essays über die politische Lage zu verfassen. Vom Februar 1919 bis zum Juli 1920 schrieb Troeltsch alle vierzehn Tage, danach bis zum Oktober 1922 nur noch unregelmäßig. Eine Auswahl der sogenannten, „Spektator-Briefe“ erschien bereits 1924, ein Jahr nach Troeltschs Tod. Jetzt ist in der von Hans Magnus Enzensberger betreuten Reihe „Die Andere Bibliothek“ eine weitere Auswahledition herausgekommen unter dem Titel „Die Fehlgeburt einer Republik“. Ein begrüßenswertes Unternehmen, denn zweifellos zählen Troeltschs politische Essays zu den gescheitesten Analysen jener turbulenten Jahre, die auf die Niederlage des Kaiserreichs und den Sturz der Hohenzollern folgten.
Ernst Troeltsch gehörte zu den wenigen Gelehrten, die sich ohne Vorbehalte zur jungen Weimarer Republik bekannten. Zusammen mit Friedrich Naumann, Max Weber, Walther Rathenau und anderen engagierte er sich in der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) für den Aufbau der Demokratie. In seinen „Spektator-Briefen“ warb er unermüdlich für den Gedanken eines Ausgleichs zwischen den gemäßigten Kräften des Bürgertums und dem reformerischen Flügel der Arbeiterbewegung. Nur durch eine Stärkung der demokratischen Mitte – so sein Appell – könne die unter so ungünstigen innen- und außenpolitischen Bedingungen ins Leben getretene Republik auf Dauer gefestigt werden. Doch gerade an einer solchen Bereitschaft zur pragmatischen, die ideologischen Gräben überwindenden Zusammenarbeit mangelte es, und zwar auf allen Seiten des politischen Spektrums.
Früh erkannte Troeltsch, welche Gefahren der Republik von der radikalen Linken, noch mehr aber von der reaktionären Rechten drohten. „Daß die Rechte auf Restauration, Rache und Rechthabenwollen verzichten lernen könnte, das wäre eines der wichtigsten Mittel der Rettung. Aber derartiges scheint in unserem Deutschland unmöglich zu sein“, notierte er bereits im Mai 1919. Sorgfältig registrierte Troeltsch, wie sich das Lager der Gegenrevolution, mit Schwerpunkt in Bayern, formierte, wie der Haß auf das „System von Weimar“ geschürt wurde und Antisemitismus und Dolchstoßlegende immer größere Resonanz fanden, besonders an den Universitäten. In einem Artikel, überschrieben „Die Welle von rechts“, vom Dezember 1919 berichtete er: „Sprach man vor einem Jahre vor Studenten, so mußte man sich auf wilde pazifistische, revolutionäre, ja idealistisch-bolschewistische Widersprüche gefaßt machen; heute muß man auf antisemitische, nationalistische, antirevolutionäre Einsprüche sich einrichten. In manchen juristischen Kollegien wird gescharrt, wenn das Wort ‚Reichsverfassung‘ fällt.“
Der Kapp-Putsch vom März 1920 war für Troeltsch keine Überraschung; er hatte ihn längst kommen sehen: „Es ist die alte ,militaristische‘ Gesellschaft, die um ihr Dasein und ihre Wiederherstellung kämpft und die zu diesem Zweck keine neuen Mittel finden kann und will, sondern lediglich die alten militaristischen der Gewalt ausreichend und geeignet glaubt.“



Daß die Abwehr des Kapp-Putsches nicht zur Festigung der Republik genutzt, daß – im Gegenteil – diese zusätzlich geschwächt wurde, als in den Reichstagswahlen vom Juni 1920 die Parteien der „Weimarer Koalition“, SPD, Zentrum und DDP, ihre parlamentarische Mehrheit verloren, dies war für Troeltsch eine bittere Enttäuschung. Bis zu seinem Tode kreisten seine Überlegungen um das Kernproblem: die Bildung einer stabilen, mehrheitsfähigen Regierung der Mitte. Denn die einzige Alternative dazu war, wie er klar sah, eine Diktatur von rechts, mit der Reichswehrgeneräle, preußische Junker und Industriebarone liebäugelten.
Im September 1921, nach der Ermordung Matthias Erzbergers, berichtete Troeltsch, was ihm ein Großindustrieller mit schöner Offenherzigkeit anvertraut hatte: „Das Blut müsse fließen, das am 9. November nicht geflossen sei, und zwar diesmal das Blut der Linken, während damals das der Rechten in Gefahr war. Die Industrie werde den Wiederaufbau schaffen, aber vorher müsse der Sozialismus niedergeworfen werden, mit dem der Aufstieg unmöglich sei. Ein entscheidender Bürgerkrieg und eine deutsche Faszistenbewegung seien unvermeidlich, um wieder klare Verhältnisse zu schaffen.“ Sie mußten allerdings noch zwölf Jahre warten, bis klare Verhältnisse in ihrem Sinne geschaffen wurden.
Troeltsch verkannte nicht, daß es der Weimarer Demokratie an Attraktivität mangelte, daß die meisten Parteipolitiker von höchst mittelmäßiger Statur waren, und dennoch war er nicht bereit, in den allgemeinen Chor der Parteienverdrossenheit einzustimmen: „Parteien müssen sein“, so mahnte er. „Sie sind das einzige Mittel der Regierungsbildung, ob sie einem gefallen oder nicht.“
Schwer getroffen wurde Troeltsch durch die Nachricht von der Ermordung seines Freundes Walther Rathenau im Juni 1922. Für ihn stand die neuerliche Mordtat in ursächlichem Zusammenhang mit der konstitutionellen Blindheit der Weimarer Justiz gegenüber dem rechten Terror: „Trotz aller Revolution regieren im Grunde die alten Beamten, urteilen die Gerichte im Sinn des alten Systems, werden die Vertreter der Linken ermordet, wird denen der Rechten kein Haar gekrümmt. Die Mörder können mit Hilfe der breiten und reichen Organisationen stets verschwinden, die Helfershelfer finden die Gunst des Gesetzes und werden freigesprochen.“
So hellsichtig Troeltsch die innenpolitischen Gefahrenmomente diagnostizierte, so borniert zeigte er sich als Beobachter der außenpolitischen Szenerie. In den Friedensbedingungen, die der Versailler Vertrag dem besiegten Land auferlegte, vermochte er – wie die meisten seiner Zeitgenossen – nur den Ausdruck unbändiger Rachsucht auf seiten der ehemaligen Kriegsgegner zu erkennen – eine „imperialistische Ungeheuerlichkeit, ähnlich wie einst das Vorgehen Roms gegen Karthago“. Unaufhörlich geißelte er das „Dogma von der deutschen Kriegsschuld“, ohne sich jemals ernsthaft die Frage zu stellen, ob daran nicht auch etwas Wahres sein könne. „Jedenfalls hat der damalige Generalstab alles eher getan, als den Krieg zu betreiben“, schrieb er im Juni 1919. Heute wissen wir, daß es gerade der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke war, der im Mai 1914 auf einen Präventivkrieg drängte und die deutsche Reichsleitung damit in eine hochriskante Konfrontationsstrategie hineintrieb, die Ende Juli 1914 zum Weltkrieg eskalierte.
Gewiß – die Archive waren damals noch nicht allgemein zugänglich, aber mußte Troeltsch USPD-Politikern wie Karl Kautsky und Kurt Eisner, die sich um die Aufdeckung der Wahrheit bemühten, der „hysterischen Selbstbeschuldigung des deutschen Volkes“ bezichtigen? Und: Mußte er sich unbedingt stark machen für ein „neues Nationalgefühl“, das nur Wasser war auf die Mühlen der Rechten?
Im Nachwort des Herausgebers Johann Hinrich Claussen ist allerdings von den Grenzen des politischen Publizisten Ernst Troeltsch nicht die Rede. Überhaupt ist die Edition zu bemängeln: Die Auswahlkriterien werden nicht offengelegt; ein Sachregister fehlt; das kommentierte Personenregister enthält zum Teil fragwürdige Wertungen. Nicht ein Wort verliert der Herausgeber auch über die Edition von 1924 und über deren Herausgeber: Hans Baron, einen jungen Schüler Friedrich Meineckes, der sich später zu einem der bedeutendsten Renaissance-Forscher entwickelte. 1933 mußte der Berliner Privatdozent, wie viele andere gerade der begabtesten deutschen Historiker, emigrieren. Er wurde vertrieben durch eine rechte Diktatur, deren Heraufkunft Ernst Troeltsch schon 1921 prophezeit hatte.  Volker Ullrich

Ernst Troeltsch: Die Fehlgeburt einer Republik  - Spektator in Berlin 1918 bis 1922
Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Johann Hinrich Claussen; Eichborn Verlag, Frankfurt am Main


Dieses Pendeln von einem Extrem ins andere kennen natürlich auch andere Nationen, denn es ist ein allgemeinmenschlicher Zug. Aber bei uns ist die Amplitude unerbittlicher.
Andernorts fließt sogar schneller Blut als bei uns. Aber bei uns steigern sich durch Zurückhaltung die Spannungen ins Übermaß, dem schließlich keiner mehr Herr wird. Und so wird Botho Strauss am Ende recht behalten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.