„Wir Menschen verursachen das größte Artensterben seit Ende der
Dinosaurier“, gab dieser Tage Eberhard Brandes, Vorstand des WWF
Deutschland, bekannt. Mit rund 25.800 bedrohten Tier- und Pflanzenarten
sei im zu Ende gehenden Jahr ein neuer dramatischer Höchststand erreicht
worden. „Wilderei, Lebensraumverlust, Klimawandel und die dauerhafte Übernutzung natürlicher Ressourcen vernichten biologische Vielfalt“, erklärte der WWF-Vorstand.
Die dramatische Botschaft verfehlte ihre Wirkung nicht und bescherte
dem WWF die begehrten Schlagzeilen. Die sind wichtig für das
Spendenaufkommen aber auch für den politischen Kampf, in dem es dann
wiederum um Ideologien geht, etwa zur Durchsetzung der „Energiewende“
oder der „Landwirtschaftswende“.
Doch trotz der Instrumentalisierung haben die Meldungen zur Bedrohung
der Artenvielfalt einen realen Kern: Nach wie vor sind Wildtiere und
Pflanzen teilweise stark gefährdet, vornehmlich durch die Umwandlung von
Wildnis in Agrarland und durch Wilderei. Dafür verantwortlich sind aber
nicht unbedingt Reichtum und Industriegesellschaft, sondern oft das
genaue Gegenteil: Vielfach plündern Menschen aus purer Armut die Natur,
etwa wenn die letzte Vegetation als Feuerholz verheizt wird, weil es
keine andere Möglichkeit gibt, um sich ein warmes Essen zu bereiten.
Der WWF-Satz „Wir Menschen verursachen das größte Artensterben seit
Ende der Dinosaurier“ ist allgemein genug gefasst, um nicht falsch zu
sein, erweckt allerdings den Eindruck, die menschliche
Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Geschöpfen sei aktuell größer denn
je. Doch das stimmt nicht. Längst gehört es zum zivilisatorischen
Konsens, zumindest in den wohlhabenden Ländern, dass der Verlust einer
Art verwerflich und nicht wieder gut zu machen ist. Die berühmten Fälle
kompletter Auslöschung – von Auerochse bis Dodo – fanden zwischen dem
17. und dem 20. Jahrhundert statt – und nicht, wie die meisten Menschen
glauben, in jüngster Zeit.
Zwei Ursachen machten die erwähnten 300 Jahre zur Epoche der
Ausrottungen. Die Eroberung der Welt durch europäische Auswanderer.
Überall wo sie hinkamen, ob Australien, Südafrika oder Nordamerika,
knechteten sie nicht nur die dort lebenden Menschen, sondern
massakrierten auch die Tierwelt.
Die andere Ursache war die steigende
Nachfrage nach Öl, das – weil Erdöl noch unbekannt war – von Walen,
Robben und Seevögeln stammte, denen man auf allen Meeren nachstellte und
sie zu Millionen abschlachtete.
Die Geschichte der großen
Naturausbeutung ist in Vergessenheit geraten, weil sie nicht ins
zeitgeistige Narrativ passt, dass die Natur noch nie so schlecht
behandelt wurde wie von uns Heutigen.
Der letzte Bericht über die Sichtung eines lebenden Dodo auf
Mauritius stammt beispielsweise aus dem Jahre 1690. Die truthahngroßen,
mit den Tauben verwandten Vögel (auf Deutsch auch Dronte genannt) hatten
mangels Feinden das Fliegen verlernt. So wurden sie zu einer leichten
Beute für Seefahrer, die sie in Massen erschlugen und als Proviant
mitnahmen. Parallel dazu fraßen von Schiffen eingeschleppte Ratten und
andere Tiere Eier und Küken der Dodos.
Zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert wurden die meisten Tiere
ausgerottet. Es war die Zeit, als die Europäer andere Kontinente und
Inseln für sich entdeckten und eroberten. Das World Conservation
Monitoring Centre (WCMC) kann für die vergangenen 400 Jahren das
Verschwinden von etwa 700 Tierarten nachweisen. Bekannte Arten, die von
Menschen bis zum letzten Exemplar vernichtet wurden, sind neben dem Dodo
die Wandertaube (1914), das Quagga-Zebra (1887), die Stellersche Seekuh
(1768) und der Auerochse (1627).
Auch Naturvölker untergruben bereits ihre eigenen Lebensgrundlagen.
Die weisen Indianer, sanften Südseeinsulaner und andere edle Wilde
entspringen leider mehr europäischen Wunschphantasien als der Realität.
Die tausendfach zitierte Rede des Indianerhäuptlings Seattle („Erst wenn
der letzte Baum gefällt ...“) stammt in Wirklichkeit aus der Feder des
amerikanischen Drehbuchautors Ted Perry, der sie in den 1970er Jahren
für einen Film über Umweltschutz verfasst hat. Seattles rote Brüder
benahmen sich aber mitunter wie die Axt im Walde. Der Anasazi-Stamm
beispielsweise, der im heutigen New Mexico lebte, baute ein riesiges
fünfstöckiges Wohnhaus: hundert Meter lang und hundert Meter breit. Der
Bau- und Brennholzbedarf der Anasazis verwandelte die ehemals bewaldete
Region in eine Wüste.
Was wir heute dank der Naturwissenschaften als selbstverschuldete
ökologische Fehler erkennen können, erschien den archaischen
Gesellschaften als Fluch der Götter. Die Maori, Ureinwohner Neuseelands,
schlachteten die dortige Tierwelt in einer Weise ab, die an die
Büffelmassaker der amerikanischen Siedler erinnert. Zu Tausenden
erschlugen sie die straußenähnlichen Moa-Vögel, die bei der Ankunft der
ersten Weißen schon lange ausgerottet waren.
Die Sorge um die Vielfalt der Geschöpfe treibt Biologen und
Naturfreunde schon seit Jahrzehnten um. Die sich ausdehnende
Zivilisation, Landwirtschaft und Abholzungen verkleinern den Lebensraum
vieler Tiere und Pflanzen. In jüngster Zeit wird nun der Klimawandel
immer öfter als „Artenkiller“ ins Feld geführt. Das liegt auch daran,
dass es für die Biologen leichter ist, Forschungsmittel zu erhalten,
wenn der Antrag das Wort „Klimawandel“ enthält.
Immerhin: Die Biodiversitätsforschung – lange Zeit ein Stiefkind der
Forschungsförderung – hat es jetzt leichter, die dringend notwendigen
Gelder einzusammeln. Die Erforschung der Artenvielfalt steht nämlich
nicht am Ende, sondern erst am Anfang. Ein Großteil der Lebewesen in
Regenwäldern, Tiefsee und anderen schwer zugänglichen Örtlichkeiten
blieb bis heute den Augen der Wissenschaftler verborgen. Zwar sind den
Biologen etwa 1,75 Millionen Tier- und Pflanzenarten bekannt. Doch
selbst diese Zahl ist unsicher, weil bisher nicht alle Melderegister der
Naturkundemuseen miteinander abgeglichen wurden.
Schätzungen über die Zahl der noch unbekannten Arten kommen hingegen
einem wissenschaftlichen Offenbarungseid gleich: Sie schwanken zwischen
drei und 100 Millionen. Der größte Teil davon sind – so wird vermutet –
noch unentdeckte Käfer im tropischen Regenwald. Weil der Mensch den
Inhalt der Schatztruhe des Lebens nicht kennt, weiß er naturgemäß auch
nicht genau, was daraus verschwindet.
Als wäre das alles nicht schon spekulativ genug, werden jetzt die
Spekulationen und Hochrechnungen über aussterbende Arten auf
Spekulationen und Hochrechnungen über unser künftiges Klima
draufgesattelt. Kombiniert man die jeweiligen Modellrechnungen, ist der
Weg ins wissenschaftliche Chaos vorprogrammiert. Wer in diesen
Untersuchungen nach einer belastbaren empirischen Datengrundlage sucht,
stochert alsbald nur noch im Nebel.
Wie überraschend die tatsächlichen Vorgänge in der Natur oft sind,
erklärt Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf: „Meine eigenen
Langzeituntersuchungen, insbesondere an der sehr artenreichen Gruppe der
nachts fliegenden Schmetterlinge, zeigen für die letzten vierzig Jahre
bei uns genau das Gegenteil des Erwarteten: Arten, die warmes, trockenes
Klima brauchen, haben zum Teil sehr stark abgenommen oder sind
verschwunden.“
Ursache sei die Überdüngung des Landes mit Nährstoffen, vor allem mit
Stickstoffverbindungen. Die Bodenvegetation wächst dank dieser
überreichen Versorgung viel früher und viel dichter auf als in der
Vergangenheit. Das schafft im bodennahen Bereich kälteres und feuchteres
Mikroklima. Viele Insekten, aber auch am Boden brütende Vögel kommen
mit diesem nasskalten Milieu nicht zurecht. Das verursacht einen großen
Teil der Artenrückgänge und -verluste und wirkt den für diese Arten eher
günstigen Effekten wärmerer Sommer und milderer Winter massiv entgegen.
Warme Sommer haben andererseits etliche Arten nach Deutschland
gelockt, die unsere heimische Natur bereichern. Eine davon ist der
Bienenfresser, ein bunt gefiederter Schönling, der von Insekten lebt und
es gern warm und trocken hat. Mit seinem gelb-schwarz-grün-blau-braunen
Federkleid sieht er wie ein tropischer Vogel aus. Doch eigentlich ist
er kein wirklicher Neuzugang in Deutschland, sondern ein Rückkehrer.
Auf mittelalterlichen Gemälden sind Bienenfresser häufig zu sehen,
ebenso Blauracken, Wiedehopfe und andere Arten, die heute im
Mittelmeerraum verbreitet sind. Denn damals – zur Zeit des
mittelalterlichen Kimaoptimums – war es in Mitteleuropa wärmer als
heute. Dann kam die sogenannte kleine Eiszeit, und die gefiederten
Sonnenfreunde wanderten nach Süden. Für das Saaletal in Sachsen-Anhalt
ist belegt, dass dort bis ins 17. Jahrhundert Bienenfresser vorkamen.
Seit 1990 sind sie wieder da.
Es kommt eben immer auf die Perspektive an: Aus Sicht der Bienen ist
die Rückkehr der Bienenfresser natürlich ein Übel.
Auch mediterrane
Wanderschmetterlinge wie Taubenschwänzchen und Totenkopfschwärmer kommen
immer häufiger über die Alpen geflattert, um in Deutschland Nektar zu
saugen.
Mitteleuropäische Vögel dringen unterdessen immer weiter nach Norden
vor. So nisten seit Mitte der neunziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts Graureiher in Tromsø. Manche Zugvögel ziehen nicht mehr, da
sie mit Hilfe der von Menschen bereitgestellten Futterhäuschen gut über
die mitteleuropäischen Winter kommen. Besonders die anpassungsfähigen
Kurzstreckenzieher korrigieren ihre Reiserouten. So überwintern viele
Mönchsgrasmücken nicht mehr wie früher in Südeuropa oder Nordafrika,
sondern im südlichen England. Höchst erstaunlich ist dabei, wie schnell
der neue Flugplan in den genetischen Code der Tiere eingebaut wird.
Dass wärmere Temperaturen zu einem Rückgang der Artenvielfalt führen,
ist prinzipiell keine sonderlich plausible Prognose. Zwei einfache
Befunde sprechen dagegen. Erstens nimmt die Artenvielfalt der Erde zum
Äquator hin immer mehr zu. Die geringste Artenvielfalt herrscht an den
Polen und in der Kälte der Hochgebirge, die höchste im tropischen
Regenwald (und wieviel von diesem Tropenwald erhalten bleibt, ist für
die Artenvielfalt des Planeten wahrscheinlich entscheidender als alles
andere). Zweitens waren die Warmzeiten der Erdgeschichte immer die
artenreichsten, während in den Eiszeiten die Vielfalt abnahm. Warum
sollte es diesmal anders sein – falls es wirklich zu einer starken
Klimaerwärmung kommt?
Global gesehen verschieben Klimaänderungen die großen Gürtel der
Vegetation bei Erwärmung polwärts und bei Abkühlung äquatorwärts.
Bedroht sind bei diesem seit rund zwei Millionen Jahren laufenden
Wechsel von Warm- und Kaltzeiten solche Arten, die mit kleinen
Verbreitungsgebieten „geographisch festsitzen“, insbesondere Insel- und
Gebirgsarten. Auf Mitteleuropa bezogen, wird es keine echten Gewinner
und Verlierer geben, denn es stellt ein Überlagerungsgebiet von Arten
aus verschiedenen Klimazonen dar.
Und damit sind wir wieder beim Aussterben der Dinosaurier: Die Äonen
in denen sie lebten, waren überwiegend deutlich wärmer als unsere
heutigen Zeiten. Wenn ein klimatischer Einfluss zu ihrem Verschwinden
beitrug, dann die Tatsache, dass es plötzlich kälter wurde. Dirk Maxeiner
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