Zu den existentiellen Grundsatzfragen gehört die, welcher Wein an Heilig
Abend auf den Tisch kommt. Strenggenommen stellt sich diese Frage an
jedem Tag, den Gott werden lässt, aber manche Tage verlangen
gebieterischer nach einem Zeichen als andere. Heiligen wir sie alle! Ich
habe mich ziemlich konventionell für einen Bordeaux entschieden. Einen
Roten selbstredend. Er enthält nämlich, völlig unabhängig davon, was
Winzer und Kellermeister sonst mit ihm anstellten, Resveratrol,
Polyphenole und oligomere Proanthocyanidine. Vor allem das Resveratrol
soll für das sogenannte french paradox verantwortlich sein, die positive Wirkung von Rotwein auf den menschlichen Organismus. Der Terminus french paradox machte
in den Neunzigern die Runde, er spielte auf das aus amerikanischer
Westküstenperspektive groteske, geradezu ungerechte Verhältnis zwischen
den französischen Ess- und Trinkgewohnheiten sowie dem
Gesundheitszustand und der Lebenserwartung der Bewohner von Gottes
anderem Land an. Wie konnte es sein, fragte man sich bestürzt, dass
besonders die Südfranzosen viel fetter essen, viel mehr saufen und viel
weniger Sport treiben als die Amerikaner und trotzdem älter werden und
weniger Herzerkrankungen bekommen? Die verblüffende Antwort lautete
schließlich: Es liegt am Rotwein. Nicht trotzdem, sondern wegen. In
einigen Regionen dieses Planeten, besonders dort, wo man mehrmals
täglich vorm Spiegel überprüft, ob die Bauchmuskulatur hinreichend
"definiert" ist, abends "nur noch ein paar Peptide" zu sich nimmt und
Wasser zur Trennkost trinkt, brach eine Welt zusammen. Das ganze Konzept
des gesund Sterbens geriet ins Wanken.
Wenn Weintrinken
tatsächlich gesundheitsförderlich war, warf sich die Folgefrage auf,
wieviel man trinken solle. Die folgende Diskussion habe ich nur
quellenfrei in der Erinnerung; es stand sofort die Unterstellung im
Raum, alle Studien seien von der Weinlobby gesponsert, obwohl die
vorgeschlagenen Tagesdosen – allein dieses Wort! Man sollte mindestens
von Rationen sprechen – nicht eben üppig waren: zwei Gläser für ihn,
eines für sie (wie immer wurden die Frauen benachteiligt und
Intersexuelle bzw. Transgender gar nicht erst berücksichtigt). Wenn ich
mich recht entsinne, war es eine Studie aus der Weinnation Dänemark,
welche die Relationen wieder geraderückte (eine Flasche pro Kopf und
Tag). Die Amis, auch in ihren Narreteien immer sehr konsequent, haben
auf ihre Weise reagiert und sogar Pillen entwickelt, mit denen man sich
die positiven Wirkstoffe des Weins konzentriert und frei vom Zellgift
Alkohol verabfolgen kann. Polyphenole, oligomere Proanthocyanidine und
vor allem Resveratrol. Was für eine prosaische Vorstellung: Ich nehme
einige aus einem in jahrtausendelanger Kulturtradition hergestellten,
aber leider vergifteten Genussmittel extrahierte Substanzen zu mir, und
schon fühle ich mich wie Gott in Frankreich. Wer so denkt, dem würde
auch die Gleichung einleuchten, dass Michelangelos David zu 40 Prozent
Kunst sei und zu 60 Prozent Marmor.
Das french paradox
ist kein Phänomen der Ernährungsphysiologie, sondern der Lebensart und
der Kultur. Es ist ein Gesamtkunstwerk. Die Leute sind nicht gesund,
weil sie Resveratrol zu sich nehmen, sondern weil sie gut leben und sich
nicht mit Überlegungen verrückt machen, ob sie eventuell etwas
Falsches, Ungesundes und Schädliches tun, wenn sie ihr Dasein genießen.
Der Schaden, den eine Politikerrede, eine Regietheateraufführung oder
ein Vortrag über Nahrungsmittelunverträglichkeiten in Ihrer Seele
anrichten kann, entsteht nicht, wenn Sie stattdessen ganze Weinkeller
leertrinken. Sela, Psalmenende. MK am 22. 12. 17
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