Die Rituale sind bekannt: Wenn die EU-Chefs einen „Krisengipfel“
veranstalten, wie diese Woche in Brüssel, um die „Flüchtlingskrise“ zu
bewältigen, dann können sie nicht eine normale Sitzung zu einer normalen
Tageszeit anberaumen, so etwa um 8 Uhr morgens, um noch kurz vor Mittag
ein Abschlusscommuniqué zu verabschieden, wie das effizient und
menschenfreundlich wäre. Nein, wenn die EU im Krisenmodus operiert, dann
müssen stundenlange Sitzungen bis in die frühen Morgenstunden
inszeniert werden, in finsterer Nacht, bis auch der letzte
Regierungschef die passend unvorteilhafte Frisur, die adäquat kleinen
Augen und die erwünscht dünne Stimme erhält, um dann etwa um fünf Uhr
morgens vor die Kameras zu treten.
Gewiss, die Politiker sehen dann miserabel aus, man entwickelt
Mitleid mit ihnen, als wären sie selber afrikanische Bootsflüchtlinge,
die eben in Sizilien gelandet sind – doch kein Bürger käme jetzt noch
auf die Idee, dass diese hoch bezahlten Staatsangestellten nicht das
Menschenmögliche unternommen hätten, um die EU zu bewahren, die eigenen,
nationalen Interessen zu schützen und die Welt zu retten.
Am Freitagmorgen um 4.34 Uhr vermeldete Donald Tusk, der
EU-Ratspräsident aus Polen, den Durchbruch. Man habe sich auf eine
gemeinsame Asylpolitik geeinigt, teilte er via Twitter mit, und was
spontan und erleichtert wirken sollte, klang eher wie geplant und
abgekartet. Zwar berichteten die vollkommen erschöpften Journalisten
brav von einem Erfolg, und alle Protagonisten – ob die angezählte
deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel oder der
strahlende französische Präsident Emmanuel Macron, ob der frische
Premierminister Giuseppe Conte von der neuen Polterregierung in Italien
oder der tüchtige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz –
rezitierten dieselben Formeln des vermeintlichen Triumphs. Doch bei
näherem Hinsehen erweist sich, was wir eigentlich schon vorher gewusst
haben: Es wurde nichts beschlossen. Rein gar nichts. Wo es darauf
ankommt, wo es weh tut, beließ man alles im Ungefähren.
Ein paar Belege:
Öffnet Italien nun seine Häfen für Schiffe, die
Flüchtlinge nach Europa transportieren? Näheres ist nicht bekannt. Womit
gewährleistet ist, dass weiterhin Schiffe im Mittelmeer kreisen, ohne
je anlegen zu können.
Darf Deutschland Asylbewerber, die sich in einem
anderen Land schon um Aufenthalt bemüht haben, an seiner Grenze
abweisen? Eigentlich nicht. Stattdessen haben die EU-Chefs sich
gegenseitig darauf „verständigt“, was schon seit langem im Dubliner
Abkommen festgelegt ist: dass ein Flüchtling nur in einem einzigen Land
des Schengen-Raums, zu dem auch die Schweiz gehört, einen Asylantrag
stellen darf und dass dieses Land sich darum kümmern müsste.
Wenn Politiker schon zufrieden sind, wenn sie bestehendes Recht für
weiterhin gültig erklären, dann sind auch wir außenstehenden Beobachter
froh – offenbar ist das in der Europäischen Union schon lange nicht mehr
selbstverständlich, so dass es nächtelanger Disputationen bedarf, um
„Rechtssicherheit“ zu schaffen.
Werden die Flüchtlinge, die in ihrer
grossen Mehrheit in Italien ankommen, nun „solidarisch“, also
zwangsweise, auf alle EU-Mitgliedstaaten verteilt? Aber natürlich nicht,
weil die Osteuropäer so eine Politik nach wie vor kategorisch ablehnen,
also einigte man sich nach stundenlangen Erörterungen darauf, dass die
EU-Mitgliedstaaten dies freiwillig tun dürfen, wenn sie denn wollen. Das
war schon immer so.
Ebenso freiwillig dürfen die Mitglieder auf ihrem Territorium
„Internierungslager“ aufbauen. Schließlich sprach man schon fast
hymnisch von der Idee, solche Lager in Nordafrika zu errichten, was
vermutlich sinnvoll wäre, doch die Betonung liegt auf dem Konjunktiv.
Man wolle die Idee nun vertieft prüfen; mit den betroffenen Staaten hat
man allerdings noch nicht wirklich gesprochen, von ihrem Glück werden
sie aus der Zeitung erfahren, mit anderen Worten, auch diese Rede von
einer angeblichen Neuerung grenzt an Publikumsbeschimpfung eines
Publikums, das man anscheinend für so ahnungslos hält, dass man ihm
alles vorsetzen kann.
Wäre, hätte, würde, müsste, und das alles freiwillig: Dass die
EU-Regierungschefs solche Beschlüsslein als Einigung darstellen, hat
etwas Frivoles – und Verzweifeltes. Wenn die Politiker, die für diese
Beschlüsslein ihren Schlaf geopfert haben, in sich gehen, dürften auch
sie in einen Abgrund blicken, dem zu entrinnen sie nicht mehr in der
Lage sind.
Am Ende wird allein Härte zum Ziel führen – und wahrscheinlich wissen
das die meisten Politiker längst, bloß wollen sie dafür nicht die
Verantwortung übernehmen.
Niemand in Europa hat die Nerven, Menschen
abzuweisen, selbst jene nicht, die zu Unrecht in unsere Länder strömen.
Dass nur wenige von ihnen wirklich an Leib und Leben bedroht sind, dass
die meisten hier vor allen Dingen ein besseres Leben suchen – auch
unsere Politiker sind sich dessen bewusst, selbst wenn sie so tun, als
ob sie nur das Gute im Menschen sähen, nicht das Schlaue, Verwegene und
Abenteuerliche, manchmal auch das Böse, das dem Menschen eigen ist.
Grenzen kann man schützen, aber es geht nicht ohne schwere Entscheide,
ohne Tränen und ohne Fluch. Es ist eine Wahl. Die meisten Bürger haben
diese Wahl getroffen – doch die Politiker wehren sich dagegen,
umzusetzen, was ihnen die Bürger zwar aufgetragen haben, ihnen, den
Politikern, aber eine schlechte Presse verheißt – bis sie nicht mehr
anders können, weil sie abgewählt worden sind.
Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin der offenen Grenzen, die
Kanzlerin, die sich faktisch der Politik linksradikaler Träumer
verschrieben hat und sich aus dieser unerwünschten Umklammerung nicht
mehr befreien kann, dürfte noch einmal überleben, wie so oft. Die
EU-Regierungschefs haben diesen Gipfel allein für sie veranstaltet und
einzig für sie, die einst mächtigste Frau der Welt, Beschlüsslein
verabschiedet, die es ihr erlauben sollten, ihre Widersacher in Berlin
auf einige Monate zu vertrösten.
Horst Seehofer, der Innenminister der CSU, der gedroht hatte, die
deutschen Grenzen wieder besser zu bewachen, dürfte jenen Mut nicht
aufbringen, den es bräuchte, um eine Kanzlerin in Deutschland zu
stürzen. Angela Merkel, die Unstürzbare, will selber entscheiden, wann
sie stürzt.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler-Zeitung.
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