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Montag, 2. Juli 2018

Regionaleausschiffungsplattform

Die Rituale sind bekannt: Wenn die EU-Chefs einen „Krisengipfel“ veranstalten, wie diese Woche in Brüssel, um die „Flüchtlingskrise“ zu bewältigen, dann können sie nicht eine normale Sitzung zu einer normalen Tageszeit anberaumen, so etwa um 8 Uhr morgens, um noch kurz vor Mittag ein Abschlusscommuniqué zu verabschieden, wie das effizient und menschenfreundlich wäre. Nein, wenn die EU im Krisenmodus operiert, dann müssen stundenlange Sitzungen bis in die frühen Morgenstunden inszeniert werden, in finsterer Nacht, bis auch der letzte Regierungschef die passend unvorteilhafte Frisur, die adäquat kleinen Augen und die erwünscht dünne Stimme erhält, um dann etwa um fünf Uhr morgens vor die Kameras zu treten.
Gewiss, die Politiker sehen dann miserabel aus, man entwickelt Mitleid mit ihnen, als wären sie selber afrikanische Bootsflüchtlinge, die eben in Sizilien gelandet sind – doch kein Bürger käme jetzt noch auf die Idee, dass diese hoch bezahlten Staatsangestellten nicht das Menschenmögliche unternommen hätten, um die EU zu bewahren, die eigenen, nationalen Interessen zu schützen und die Welt zu retten.
Am Freitagmorgen um 4.34 Uhr vermeldete Donald Tusk, der EU-Ratspräsident aus Polen, den Durchbruch. Man habe sich auf eine gemeinsame Asylpolitik geeinigt, teilte er via Twitter mit, und was spontan und erleichtert wirken sollte, klang eher wie geplant und abgekartet. Zwar berichteten die vollkommen erschöpften Journalisten brav von einem Erfolg, und alle Protagonisten – ob die angezählte deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel oder der strahlende französische Präsident Emmanuel Macron, ob der frische Premierminister Giuseppe Conte von der neuen Polterregierung in Italien oder der tüchtige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz – rezitierten dieselben Formeln des vermeintlichen Triumphs. Doch bei näherem Hinsehen erweist sich, was wir eigentlich schon vorher gewusst haben: Es wurde nichts beschlossen. Rein gar nichts. Wo es darauf ankommt, wo es weh tut, beließ man alles im Ungefähren.

Ein paar Belege:
Öffnet Italien nun seine Häfen für Schiffe, die Flüchtlinge nach Europa transportieren? Näheres ist nicht bekannt. Womit gewährleistet ist, dass weiterhin Schiffe im Mittelmeer kreisen, ohne je anlegen zu können.
Darf Deutschland Asylbewerber, die sich in einem anderen Land schon um Aufenthalt bemüht haben, an seiner Grenze abweisen? Eigentlich nicht. Stattdessen haben die EU-Chefs sich gegenseitig darauf „verständigt“, was schon seit langem im Dubliner Abkommen festgelegt ist: dass ein Flüchtling nur in einem einzigen Land des Schengen-Raums, zu dem auch die Schweiz gehört, einen Asylantrag stellen darf und dass dieses Land sich darum kümmern müsste.
Wenn Politiker schon zufrieden sind, wenn sie bestehendes Recht für weiterhin gültig erklären, dann sind auch wir außenstehenden Beobachter froh – offenbar ist das in der Europäischen Union schon lange nicht mehr selbstverständlich, so dass es nächtelanger Disputationen bedarf, um „Rechtssicherheit“ zu schaffen.
Werden die Flüchtlinge, die in ihrer grossen Mehrheit in Italien ankommen, nun „solidarisch“, also zwangsweise, auf alle EU-Mitgliedstaaten verteilt? Aber natürlich nicht, weil die Osteuropäer so eine Politik nach wie vor kategorisch ablehnen, also einigte man sich nach stundenlangen Erörterungen darauf, dass die EU-Mitgliedstaaten dies freiwillig tun dürfen, wenn sie denn wollen. Das war schon immer so.
Ebenso freiwillig dürfen die Mitglieder auf ihrem Territorium „Internierungslager“ aufbauen. Schließlich sprach man schon fast hymnisch von der Idee, solche Lager in Nordafrika zu errichten, was vermutlich sinnvoll wäre, doch die Betonung liegt auf dem Konjunktiv. Man wolle die Idee nun vertieft prüfen; mit den betroffenen Staaten hat man allerdings noch nicht wirklich gesprochen, von ihrem Glück werden sie aus der Zeitung erfahren, mit anderen Worten, auch diese Rede von einer angeblichen Neuerung grenzt an Publikumsbeschimpfung eines Publikums, das man anscheinend für so ahnungslos hält, dass man ihm alles vorsetzen kann.
Wäre, hätte, würde, müsste, und das alles freiwillig: Dass die EU-Regierungschefs solche Beschlüsslein als Einigung darstellen, hat etwas Frivoles – und Verzweifeltes. Wenn die Politiker, die für diese Beschlüsslein ihren Schlaf geopfert haben, in sich gehen, dürften auch sie in einen Abgrund blicken, dem zu entrinnen sie nicht mehr in der Lage sind.
Am Ende wird allein Härte zum Ziel führen – und wahrscheinlich wissen das die meisten Politiker längst, bloß wollen sie dafür nicht die Verantwortung übernehmen.

Niemand in Europa hat die Nerven, Menschen abzuweisen, selbst jene nicht, die zu Unrecht in unsere Länder strömen. Dass nur wenige von ihnen wirklich an Leib und Leben bedroht sind, dass die meisten hier vor allen Dingen ein besseres Leben suchen – auch unsere Politiker sind sich dessen bewusst, selbst wenn sie so tun, als ob sie nur das Gute im Menschen sähen, nicht das Schlaue, Verwegene und Abenteuerliche, manchmal auch das Böse, das dem Menschen eigen ist. Grenzen kann man schützen, aber es geht nicht ohne schwere Entscheide, ohne Tränen und ohne Fluch. Es ist eine Wahl. Die meisten Bürger haben diese Wahl getroffen – doch die Politiker wehren sich dagegen, umzusetzen, was ihnen die Bürger zwar aufgetragen haben, ihnen, den Politikern, aber eine schlechte Presse verheißt – bis sie nicht mehr anders können, weil sie abgewählt worden sind.

Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin der offenen Grenzen, die Kanzlerin, die sich faktisch der Politik linksradikaler Träumer verschrieben hat und sich aus dieser unerwünschten Umklammerung nicht mehr befreien kann, dürfte noch einmal überleben, wie so oft. Die EU-Regierungschefs haben diesen Gipfel allein für sie veranstaltet und einzig für sie, die einst mächtigste Frau der Welt, Beschlüsslein verabschiedet, die es ihr erlauben sollten, ihre Widersacher in Berlin auf einige Monate zu vertrösten.
Horst Seehofer, der Innenminister der CSU, der gedroht hatte, die deutschen Grenzen wieder besser zu bewachen, dürfte jenen Mut nicht aufbringen, den es bräuchte, um eine Kanzlerin in Deutschland zu stürzen. Angela Merkel, die Unstürzbare, will selber entscheiden, wann sie stürzt.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler-Zeitung.

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