Stationen

Samstag, 8. Februar 2020

Gütersloher Vision


Die aufwendige Broschüre entstand im Jahr 2006: Sie trägt den Titel „Zwanzig Zwanzig“ und beschreibt anhand von mehreren thematischen Kapiteln, wie schon der Titel sagt, den Zustand des Kontinents im Jahr 2020. In diesem EU-Zukunftsland leben zwar insgesamt 20 Prozent Muslime, aber „die Toleranz der Religionen ist gewachsen“, denn es existiert ein milder Euro-Islam. Den letzten islamischen Terroranschlag gab es im Bertelsmann-Europa 2010. Dafür steht die Türkei kurz vor der EU-Vollmitgliedschaft und Marokko kurz vor dem Aufnahmeantrag.
Es gibt ein „EU-TV“, einen EU-weiten öffentlich-rechtlichen Sender, auf der weltpolitischen Ebene sind die USA auf die „Linie Europas eingeschwenkt“. In dem Weltentwurf aus Gütersloh strömen mehr hochqualifizierte Fachkräfte aus aller Welt in die EU als in die USA, auch dank der exzellenten Hochschulen, die von einem „europäischen Forschungsrat“ gelenkt werden. Größere Probleme existieren in diesem 2020-Europa eigentlich nicht. Überraschend wirkt an der 14 Jahre alten Bertelsmann-Zukunftsschrift, dass sie nur 20 000 Migranten pro Jahr für Deutschland vorsieht.
Auf einen gemeinsamen Nenner jedenfalls richten sich alle einzelnen Teile des großen Plans aus: Nationen verblassen, die Lösung liegt immer in der größeren, übergeordneten Einheit, in der zentralen Steuerung. Prosperität entsteht vor allem durch die kluge Lenkung öffentlicher Mittel. Ethnisch und religiös durchmischte Gesellschaften pazifieren sich praktisch von selbst. Und natürlich decken sich die Ziele des großen Plans mit den objektiven Interessen der Bürger, auch dann, wenn manche Bürger das aus mangelnder Einsicht nicht sofort verstehen.
Die Zentralperspektive dieser großen Transformation läuft auf einen eschatologischen Endpunkt zu: eine fluide Neogesellschaft von Menschen- und Kapitalströmen, eine ideale Festplatte für Sozialingenieure und globale Unternehmen, die sich wie ein Gletscher über das alte kulturell bedingte Kleinklein schiebt.

Im Unterschied zu Clinton kamen Obama zumindest vorübergehend Zweifel. Sein früherer Sprecher Ben Rhodes schilderte in seinem Buch „The World As It Is. Inside The Obama White House“ wie der Präsident sich in einem Selbstgespräch fragte: „Was ist, wenn wir falsch lagen? Wenn wir es überstrapaziert haben? Vielleicht wollen die Leute einfach in ihren alten Stamm zurückfallen.“ (“What if we were wrong? Maybe we pushed too far. Maybe people just want to fall back into their tribe.”)

Es sind nicht die „Stämme“, zu denen viele zurückwollen. Sie wollen eigentlich auch nicht zurück. Das, was sehr viele im Westen erhalten und vor der Beseitigung schützen wollen, ist eine vertraute, berechenbare Umgebung. Das organisch Gewachsene, das Verwurzelte. Und das beginnt, wie der Philosoph Roger Scruton schrieb, mit dem eigenen Ort. Mit der unmittelbaren Wohnumgebung, der eigenen Familie, der Arbeit, der Absicherung gegen Notfälle und für das Alter.

Die Soziologie nennt so etwas "Sozialkapital". Eine Gegend mit hohem Sozialkapital ist eine, an der jemand ohne zu zögern jemanden an der Straßenhaltestelle bitten kann, kurz auf seinen Koffer aufzupassen, weil er weiß, dass der andere seine kleine Bitte erfüllt.
Ein anderer Begriff dafür lautet „Konsistenz“. Das Gegenteil von Konsistenz und hohem Sozialkapital ist eine Gesellschaft, in der, um einmal eine SPD-Politikerin und Sozialingenieurin zu zitieren, die Regeln täglich neu ausgehandelt werden. Der größere Teil der Gesellschaft weiß, dass keine Gesellschaft so existieren kann. Auch keine moderne.   Wendt

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