Ihr Diktum sprach sie von der Hauptstadt eines Landes aus, das nach
dem Ende der Apartheid einen langen und nur bedingt erfolgreichen
Versöhnungsprozess begann, in dem beide Seiten allerdings grundsätzlich
Vergebung für Mord, Folter und Terror für möglich hielten.
Vor dieser Folie erhält Merkels Diktum „unverzeihlich“ noch eine ganz eigene Wucht. Sie klassifiziert mit „unverzeihlich“
den Wahlakt eines Landesparlaments als Schuld, die nie abgetragen
werden kann, als Vorgang, für den es keine Milderung gibt, auch nicht
später. Damit begab sie sich, für viele in diesem konfusen Moment
unbemerkt, in die singuläre Position einer politischen Kraft, die von
einer Schuld lossprechen kann, oder, wie in diesem Fall, den
Betreffenden die Verzeihung verweigert. Dass sich die Spitze der
Exekutive als letzte Instanz sieht, die persönlich über
Parlamentsabgeordnete richtet, sie öffentlich wägt und für moralisch
unzurechnungsfähig erklärt – das gab es in der Geschichte der
Bundesrepublik bis zu Merkels Pretoria-Auftritt noch nicht.
Wofür hält sich diese Frau?
Der
Frage, wofür sich jemand hält, und für wen er gehalten wird, ging im
Kaiserreich der Historiker Ludwig Quidde nach. Im Jahr 1894
veröffentlichte der Gelehrte eine schmale Broschüre von nur 17 Seiten
mit dem Titel „Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“.
In dem Brevier zeichnete er das Leben des römischen Kaisers Caligula
mit kräftigem und karikierendem Strich. Den Namen von Kaiser Wilhelm
II., der seit 1888 regierte, erwähnte er an keiner Stelle. Trotzdem
erkannten die Zeitgenossen bestens, wer hier porträtiert wurde:
„Der Kaiser konnte keine selbständige Kraft neben sich ertragen;
er wollte sein eigener Minister sein, und nicht nur das: auf jedem
Gebiet auch selbständig eingreifen“ […]
„Der durchgehende
Charakterzug seiner Maßregeln war eine nervöse Hast, die unaufhörlich
von einer Aufgabe zur andern eilte, sprunghaft und oft widerspruchsvoll,
und dazu eine höchst gefährliche Sucht, alles selbst auszuführen.“
Die Gelassenheit, mit der das kaiserliche Deutschland auf den
Publizisten reagierte, kam in erster Linie aus der Stärke seiner
Ordnung. Die neunziger Jahre gelten in der Geschichtsschreibung heute
als nervöses Jahrzehnt. Aber das Deutsche Reich litt nicht unter einer
inneren Dauerhysterie. Das lag nicht zuletzt an der aus heutiger Sicht
geradezu märchenhaften publizistischen Vielfalt, in der sich jeder seine
Stimme verschaffen konnte.
Die These, dass es im Kaiserreich von 1894 liberaler und entspannter
zuging als im besten Deutschland aller Zeiten 2020 – diese These kann der
Autor hier vertreten. In den allermeisten Zeitungen könnte er es nicht.
Gerade Redakteure, die bei Quidde erst googeln müssten und Wilhelm II
für einen Diktator halten, würden mit schlagenden Argumenten wie Tss und Pff antworten, vielleicht auch ausführlich mit Unerhört.
Über
einen Abgeordneten, der im Bundestag einen Vergleich von
Kaiserreichsliberalität zu der von heute zur Debatte stellen würde,
bräche ein Strafgericht herein. Und zwar in allen Fraktionen mit
Ausnahme der AfD zuallererst von den eigenen Kollegen.
Wahn und
Übergeschnapptheit verteilen sich 2020 wesentlich breiter als unter
Wilhelm II. Beides ist gewissermaßen demokratisiert.
Und ein kollektiver Wahn wirkt natürlich gleich viel vernünftiger als der einer einzelnen Figur an der Spitze. Wendt
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