Stationen

Samstag, 15. Februar 2020

Pretoria

Ihr Diktum sprach sie von der Hauptstadt eines Landes aus, das nach dem Ende der Apartheid einen langen und nur bedingt erfolgreichen Versöhnungsprozess begann, in dem beide Seiten allerdings grundsätzlich Vergebung für Mord, Folter und Terror für möglich hielten.
Vor dieser Folie erhält Merkels Diktum „unverzeihlich“ noch eine ganz eigene Wucht. Sie klassifiziert mit „unverzeihlich“ den Wahlakt eines Landesparlaments als Schuld, die nie abgetragen werden kann, als Vorgang, für den es keine Milderung gibt, auch nicht später. Damit begab sie sich, für viele in diesem konfusen Moment unbemerkt, in die singuläre Position einer politischen Kraft, die von einer Schuld lossprechen kann, oder, wie in diesem Fall, den Betreffenden die Verzeihung verweigert. Dass sich die Spitze der Exekutive als letzte Instanz sieht, die persönlich über Parlamentsabgeordnete richtet, sie öffentlich wägt und für moralisch unzurechnungsfähig erklärt – das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik bis zu Merkels Pretoria-Auftritt noch nicht.
Wofür hält sich diese Frau?
Der Frage, wofür sich jemand hält, und für wen er gehalten wird, ging im Kaiserreich der Historiker Ludwig Quidde nach. Im Jahr 1894 veröffentlichte der Gelehrte eine schmale Broschüre von nur 17 Seiten mit dem Titel „Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“. In dem Brevier zeichnete er das Leben des römischen Kaisers Caligula mit kräftigem und karikierendem Strich. Den Namen von Kaiser Wilhelm II., der seit 1888 regierte, erwähnte er an keiner Stelle. Trotzdem erkannten die Zeitgenossen bestens, wer hier porträtiert wurde:

„Der Kaiser konnte keine selbständige Kraft neben sich ertragen; er wollte sein eigener Minister sein, und nicht nur das: auf jedem Gebiet auch selbständig eingreifen“ […]
„Der durchgehende Charakterzug seiner Maßregeln war eine nervöse Hast, die unaufhörlich von einer Aufgabe zur andern eilte, sprunghaft und oft widerspruchsvoll, und dazu eine höchst gefährliche Sucht, alles selbst auszuführen.“

Die Gelassenheit, mit der das kaiserliche Deutschland auf den Publizisten reagierte, kam in erster Linie aus der Stärke seiner Ordnung. Die neunziger Jahre gelten in der Geschichtsschreibung heute als nervöses Jahrzehnt. Aber das Deutsche Reich litt nicht unter einer inneren Dauerhysterie. Das lag nicht zuletzt an der aus heutiger Sicht geradezu märchenhaften publizistischen Vielfalt, in der sich jeder seine Stimme verschaffen konnte.

Die These, dass es im Kaiserreich von 1894 liberaler und entspannter zuging als im besten Deutschland aller Zeiten 2020 – diese These kann der Autor hier vertreten. In den allermeisten Zeitungen könnte er es nicht. Gerade Redakteure, die bei Quidde erst googeln müssten und Wilhelm II für einen Diktator halten, würden mit schlagenden Argumenten wie Tss und Pff antworten, vielleicht auch ausführlich mit Unerhört.
Über einen Abgeordneten, der im Bundestag einen Vergleich von Kaiserreichsliberalität zu der von heute zur Debatte stellen würde, bräche ein Strafgericht herein. Und zwar in allen Fraktionen mit Ausnahme der AfD zuallererst von den eigenen Kollegen.
Wahn und Übergeschnapptheit verteilen sich 2020 wesentlich breiter als unter Wilhelm II. Beides ist gewissermaßen demokratisiert.
Und ein kollektiver Wahn wirkt natürlich gleich viel vernünftiger als der einer einzelnen Figur an der Spitze.    Wendt

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.