Aus sämtlichen Parteien, Medien und Körperschaften links der Mitte, also von der Linkspartei bis zur CSU, von taz bis FAZ,
von der Landeskirche bis zum DGB, brauste nach der Wahl des
FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten
vergangene Woche ein einheitlicher Ruf wie Donnerhall durchs Land:
„Politische Schande“, „Tabubruch“, „Dammbruch“, „Kulturbruch“. Höher
ging’s nimmer? Doch, es ging!
Auch der „Zivilisationsbruch“, der bis dahin für den Holocaust
reserviert gewesen war, wurde bemüht. Kemmerich sei „ein
Ministerpräsident der Faschisten“, tönte es. Der frustrierte
Amtsvorgänger Bodo Ramelow, im Wahlkampf um bürgerlich-zivile, ja
präsidiale Anmutung bemüht, fiel in die Rolle des antifaschistischen
Rumpelstilzchens zurück und veröffentlichte auf Twitter ein Hitler-Zitat
samt zweier Fotos: eines mit Hitler, der Reichspräsident Paul von
Hindenburg die Hand schüttelt, und eins von dem thüringischen AfD-Chef
Björn Höcke, der Kemmerich zur Wahl als Ministerpräsident gratuliert.
Der für Politik zuständige FAZ-Herausgeber machte sich die
Deutung zwar nicht wortwörtlich zu eigen, doch sein grundsätzliches
Einverständnis mit dem linken Wüterich war unverkennbar. Ramelows
bisheriger Staatskanzlei-Chef hielt Kemmerich sogar vor, er sei „ein
Ministerpräsident von Gnaden derjenigen (…), die Liberale, Bürgerliche,
Linke und Millionen weitere in Buchenwald und anderswo ermordet haben“.
Ein ZDF-Chefredakteur warf die Formulierung „Endstation Buchenwald“ in
die Runde, offenbar in Unkenntnis darüber, daß Kommunisten das KZ
Buchenwald nach 1945 weiterbetrieben und viele Tote zu verantworten
haben.
Die hysterische Rede über Erfurt
knüpft direkt an die Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
an. Auf den zivilreligiösen Rosenkranz der in einfacher Sprache
formulierten Warnungen und Lehren („Tätervolk! Kein Schlußstrich! Nie
wieder!“) sind in diesem Jahr zwei neue Knospen gefädelt worden:
„Tätersprache“ und „dasselbe Böse“. Das sind durchweg keine Begriffe,
die für Erkenntnis und Klarheit sorgen und über die sich sinnvoll
diskutieren ließe. Es sind affektive Wort-hülsen und magische Formeln,
die jenen Anti-Nazi-Voodoo konstituieren, der nach der Wahl des armen
FDPlers erneut losgebrochen ist.
Der Schriftsteller Uwe Tellkamp hat kürzlich sein Wort vom
„Gesinnungskorridor“ dahingehend korrigiert, daß es in Wahrheit nur noch
„enge Wände“ gebe. Selbst diese Beschreibung klingt mittlerweile wie
eine Beschönigung. Denn auch enge Wände lassen einen Zwischenraum, eine
öffentliche Sphäre, die den Austausch konträrer An- und Einsichten
ermöglicht, aus dem gemeinsames Handeln im Geiste der Pluralität
erwächst.
Der sogenannte öffentliche Raum von heute gleicht vielmehr einer
geschlossenen Anstalt. Eine Zeit lang vermag die darin herrschende
Polyphonie einen gewissen Pluralismus vorzutäuschen. Bei genauem
Hinhören vernimmt man jedoch einen mehrstimmigen Chor, dessen Mitglieder
in unterschiedlichen Tonlagen durchweg denselben Irrsinn skandieren.
Wer bei Verstand ist, dem bleibt nur der stille Rückzug.
Der Kollektivirrsinn übertrifft die Mechanik der von der
Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann beschriebenen
Schweigespirale bei weitem. In Noelle-Neumanns Modell verschweigen viele
Menschen – die eventuell sogar die Mehrheit bilden – ihre wirkliche
Meinung und machen sich politisch ohnmächtig, weil die Medien ihnen
suggerieren, daß sie sich mit ihrer Einstellung hoffnungslos in der
Minderheit befinden. Immerhin handelt es sich um einen begrenzten, durch
rationales Kalkül motivierten Vorgang.
Der gegenwärtige Irrsinn ist hingegen Ausfluß einer langfristig
angelegten Wahrnehmungs- und Urteilstrübung, in welche die Beteiligten
sich wissentlich und willentlich hineingesteigert haben. Ein wichtiges
Motiv ist das Bedürfnis, Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Handelns
zu unterdrücken. Das Gefühl und das Wissen, dabei einer Mehrheit – der
Mehrheit der „Anständigen“ – anzugehören, entlastet von der
Gewissensnot, die dem verdrängten Wissen um die Selbstlüge entspringt.
Darüber hinaus dient die Verteufelung des Gegners der eigenen
Sinnstiftung. So ist der auf dem Titelblatt des Spiegel zum „Dämokrat“ stilisierte Björn Höcke eine Projektion, die ein politisch-mediales Sinnvakuum füllen soll.
In seinem 1932 erschienenen Buch „Der Massenwahn. Ursache und Heilung
des Deutschenhasses“ beschrieb der Sozialpsychologe Kurt Baschwitz
solche Erscheinungen als Folge von einschneidenden Ereignissen im
inneren oder äußeren Staatsleben. Konkret ging es Baschwitz um die im
Ausland grassierende Abneigung gegen die Deutschen, die mit dem Ende des
Krieges 1918 kein Ende gefunden hatte. Der Friedensschluß von
Versailles war ganz vom Geist des Krieges geprägt und Ausgangspunkt
anhaltender Spannungen. Die Einsicht, falsch gehandelt zu haben,
verletzte jedoch das Selbstbild der Siegermächte so sehr, daß sie an
dem Wunsch festhielten, „glauben zu dürfen, daß das Opfer schuld, daß
sie infolgedessen gerechtfertigt seien“.
Baschwitz wollte diese Konstellation, die ganz Europa gefährdete,
aufbrechen helfen, indem er sie beschrieb. Kurz danach kam Hitler an die
Macht, der nach dem Motto agierte: „Ist erst mal der Ruf ruiniert, lebt
sich‘s völlig ungeniert.“ Die NS-Verbrechen schienen sämtliche
Feindpropaganda zu bestätigen. Anders als nach dem Ersten waren nach dem
Zweiten Weltkrieg keine inneren Abwehrkräfte mehr vorhanden, so daß die
negativen Kollektivzuschreibungen immer tiefer ins Zentrum der
Selbstwahrnehmung eindringen konnten, wo sie zu der masochistischen
Kollektivmoral geführt haben, die sich seit 2015 in der irrationalen
Willkommenskultur abfeiert.
Die AfD als organisierte Form des Widerstand stellt deshalb neben der
politischen vor allem eine existentielle Herausforderung dar. Der
Versammlung der „Anständigen“ ergeht es wie dem Untersuchungsrichter im
„Fremden“ von Camus, der durch die Einlassungen des Angeklagten
Meursault eine Ahnung der eigenen absurden Existenz bekommt und
losschreit: „Wollen sie, daß mein Leben keinen Sinn hat?“
Natürlich sind sich Politiker, Journalisten, Gewerkschafter,
Kirchenvertreter im Klaren darüber, daß die AfD dem gefährlichen Bild,
das sie von ihr zeichnen, überhaupt nicht entspricht. Sonst würden sie
sich gemäß ihrer masochistischen Moral ganz anders verhalten: genauso
samtpfötig, ängstlich und unterwürfig, wie sie sich gegenüber Islamisten
oder dem Clan-Wesen geben. Was sie ihren mutigen „Kampf gegen Rechts“
nennen, ist praktizierter Sadismus als seelischer Ausgleich. Die
wirkliche „Schande“, sie liegt hier! Thorsten Hinz
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