Stationen

Mittwoch, 6. Juli 2016

Mission accomplished



Unmut, Spott und Verachtung ergießen sich über die beiden Brexit-Väter Boris Johnson und Nigel Farage – ganz besonders in Deutschland und erst recht seit ihrem Rücktritt.

Als unverantwortlich werden sie gescholten, als Feiglinge und Drückeberger. Europa hätten sie an den Rand des Chaos und ihr eigenes Volk in die Isolation manövriert, wirft man ihnen vor, und jetzt würden sie sich mir nichts, dir nichts aus dem Staube machen.
Hinter dieser Einschätzung steht das grundlegende Mißverständnis, dem die englische Demokratie auf dem Kontinent begegnet. Vor allem in Deutschland.

Hierzulande hat die Demokratie dem Staat zu dienen, nur darauf ist sie zugeschnitten. Strikt repräsentativ; keine Chance der Einmischung oder direkten Partizipation; sogar die Volksvertreter dürfen die Regierung erst stürzen, wenn sie im selben Atemzug eine neue wählen. Im Zentrum stehen der Staat und sein Funktionieren – wie am Schnürchen, effizient und vernunftbetont.

Dem hat sich auch die Kritik unterzuordnen. Der sowjetische Raketenforscher Sergej Koroljow (1906-1966) beschrieb deren Rahmen im autoritären Staat treffend so: „Wenn Du nicht einverstanden bist, kritisiere; wenn du kritisierst, mach einen Vorschlag; wenn du was vorschlägst, realisier es; wenn du was realisiert hast, so steh für das Ergebnis ein.“ Vernünftig, oder?

Wer würde da nein sagen? So funktionieren der Putin-Staat und die Merkelsche Alternativlosigkeit. Allerdings wird jeder außersystemischen Kritik die Legitimation entzogen. Populisten, die in erster Linie lauthals ihrem Unmut Ausdruck verleihen, sind nicht vorgesehen.

Die englische Demokratie fußt auf völlig anderen Grundsätzen und einer anderen Geschichte. Ihre Essenz ist nicht der Ernst der Funktion, der Tat und der Verantwortung. Ihre Essenz ist der Unernst des Spiels, der im überraschenden Ergebnis Perspektiven für die Zukunft weist.

Daß jemand wie Boris Johnson sich als politischer Spieler beschrieben hat, stempelt ihn in deutschen Augen zum gefährlichen Hasardeur. Ein Mann, der mit seinem populistischen Charme das Werk von Generationen – die europäische Einigung – zerstört. Da ringt der Deutsche mit den Händen: Wie kann man nur? Das hat man davon, wenn man dem Volk zu viel Freiraum läßt; es ist nicht reif für die Demokratie.

In Wahrheit ist die Leistung der Engländer kaum in Worte zu fassen. Sie haben eine Revolution ausgelöst ohne Blutvergießen. Nichts weniger als der Brexit war schließlich vonnöten, um der EU-Obrigkeit den Kopf zu waschen. Es gibt nun einmal Knoten, die lassen sich nur mit dem Schwert durchhauen. Dabei schwelt das Unbehagen seit langem; der Überdruß mit der Maastricht- und Lissabon-EU wächst seit der Finanzkrise 2008/09 exponentiell.
Demokratie- und Souveränitätsverlust, Ungerechtigkeit, überbordende Bürokratie, Heuchelei und abgehobene Arroganz „derer da oben“, Bereicherung der Reichen und Verarmung der Armen – wer Herz und Verstand hat und mit den Menschen „draußen im Lande“ wirklich redet, kann dem nicht widersprechen. Die Luft ist raus. EU-Europa ist ein Elitenprojekt geworden, und die Eliten verschließen Augen und Ohren vor den Spannungen, den Widersprüchen und Klüften, die sich auftun in ihrem Reich. Wie der Petersburger Adel vor 1917, wie die französische Aristokratie vor 1789.

Wie agierten denn die EU-Eliten, bevor der Brexit Fakt wurde? Patriarchalisch, herablassend, besserwisserisch. Die Leute, so hieß es, säßen lästigen Populisten auf, unfähig, komplexe Zusammenhänge abzubilden. Oder Putins fünften Kolonnen, Trollen aus St. Petersburg. Zu guter Letzt kamen dann die Statistiken, die Tabellen. Logo, daß es allen viel, viel besser ginge, wenn sie sich nur auf den Rat derer verließen, die man im Englischen treffend „betters“ nennt. Die Besseren.
Und dann sagen 51,9 Prozent der Briten: Nein.

Daß jede Revolution ihre Kinder frißt, wissen wir seit Georg Büchner. Der Brexit geht einen Schritt weiter; er frißt zuallererst seine Väter: Johnson und Farage. Allem Anschein nach hat das Ergebnis sie selbst überrascht. Ohne es geglaubt zu haben, wurden sie zu Katalysatoren der ersten europäischen Revolution im 21. Jahrhundert.

Es ist schon so; die beiden haben ihren Job getan. In England gilt eben nicht die Konsequenz des Koroljow-Satzes: Kritisieren darfst du erst, wenn du es besser machen kannst. Dort hat das Volk nicht das Selbstbewußtsein eines funktionierenden Rädchens, sondern eines absoluten Souveräns. Der durfte seinem Ersten Minister ohne weitere Begründung ein Nein vor die Füße schleudern. Und der Minister konnte froh sein, wenn er abends nicht mit dem Hals am Galgen hing.
Was vor dem Brexit illusorisch war – eine echte europäische Reform –, ist seither möglich. Auch wenn Großbritannien den Ausstieg am Ende doch nicht vollzieht – Europa wird nie wieder die Juncker-Merkel-Schulz-von-der-Leyen-EU sein. Dank Nigel Farage und Boris Johnson. Dank der englischen Demokratie.   JF

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